Swen Schulz (Spandau) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich den Titel der von der Koalition beantragten Aktuellen Stunde gelesen habe, ist mir erst einmal die Spucke weggeblieben. Ich lese das noch einmal vor: „Soziale Situation der Kinder in Deutschland verbessert in Zeiten christlich-liberaler Regierungspolitik“.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Natürlich! Das stimmt!)
Das ist dreist.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie wichtig es denen ist, sieht man an der Regierungsbank!)
Ich möchte diesen Anspruch einmal konkret anhand des Themas Bildung bzw. Bildungsarmut überprüfen. Das Thema Bildung ist, wie wir wissen, sehr wichtig, zum einen gesellschaftlich, also für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, und zum anderen natürlich insbesondere für diejenigen, über die wir jetzt hier sprechen. Nicht ohne Grund hat Bundeskanzlerin Merkel vor einigen Jahren das schöne Wort der „Bildungsrepublik Deutschland“ geprägt.
Die Frage ist: Was hat die Bundesregierung tatsächlich konkret gemacht, um diesen Anspruch zu realisieren? Nichts hat sie gemacht. Nichts ist geschehen. Dabei hat die Koalition zu Beginn der Wahlperiode den Mund ziemlich voll genommen. Es gab ein großes Konzept für das Bildungssparen. Das ist beerdigt worden. Lokale Bildungsbündnisse für Grundschulen sollten eingerichtet werden. Das ist gescheitert. Das Bildungs- und Teilhabepaket – total verkorkst. Unterhalten Sie sich einmal mit denjenigen, die vor Ort das Bildungs- und Teilhabepaket umsetzen sollen. Sie schlagen die Hände über dem Kopf zusammen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer hat denn dem zugestimmt?)
Dafür gibt es einen sehr klaren Grund. Das Geld für das Bildungs- und Teilhabepaket wird in großem Maße von der Verwaltung aufgefressen, während viele Kinder und Familien, die Unterstützung benötigen, diese nicht bekommen. Das liegt an einem Konstruktionsfehler. Sie müssen die Bildungseinrichtungen, die Kitas und die Schulen, stärken, statt die Eltern auf die Ämter zu schicken. Das ist der Punkt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Aber mit den Bildungseinrichtungen hat es die Koalition ja nicht so. Das wird beim Thema Betreuungsgeld ganz besonders deutlich.
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das haben wir ja morgen!)
Das ist wirklich kompletter Irrsinn. Das muss man sich einmal vorstellen: Sie wollen den Eltern Geld dafür geben, dass sie ihre Kinder nicht in die Bildungseinrichtung Kita schicken. Das schlägt wirklich dem Fass den Boden aus. Es kommt noch etwas dazu – wir reden ja über Armut –: Das Betreuungsgeld soll nach dem Gesetzentwurf voll auf das Arbeitslosengeld II angerechnet werden, so, wie es auch beim Elterngeld gemacht wird; das haben Sie entschieden. Man liest da so einiges; Sie streiten ja sehr heftig darüber, bislang jedenfalls. Jetzt liest man, dass Sie das Betreuungsgeld unter bestimmten Bedingungen, also konditioniert, möglicherweise doch an arme Familien auszahlen wollen. Ich sage Ihnen: Sie machen den Quatsch nur noch quätscher.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das Betreuungsgeld kommt mir vor wie ein Tanker auf hoher See, der leckgeschlagen ist. Aber es hilft nichts, wenn Sie jetzt hektisch Räder daran basteln. Ich gebe Ihnen den Rat: Lassen Sie das Betreuungsgeld einfach untergehen. Besser ist das.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Damit das jetzt nicht einseitig wirkt, will ich Ihnen etwas vorlesen:
Das deutsche Bildungssystem ist … heute weniger als andere europäische Bildungssysteme … in der Lage, benachteiligte Kinder … zu fördern … Eine wesentliche Ursache dafür ist klar zu benennen: Es fehlt hierzulande noch immer an angemessener Kinderbetreuung und Ganztagsschulen.
Das hat nicht die SPD geschrieben, sondern die Bundesregierung. Dies steht im Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung.
(Caren Marks [SPD]: Hört! Hört!)
Wenn Sie das so klar erkennen, warum unternehmen Sie dann nichts?
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Christel Humme [SPD]: Gute Frage!)
Kitaausbau. Für das Betreuungsgeld sehen Sie über 1 Milliarde Euro jährlich vor, aber die dringend benötigten und den Ländern und Kommunen zugesagten Mittel für den Ausbau der Kitas werden von Frau Familienministerin Schröder
(René Röspel [SPD]: Wo ist die überhaupt!)
unter fadenscheinigen Begründungen immer noch blockiert. Geben Sie das Geld endlich frei!
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Sibylle Laurischk [FDP]: Das wird nicht abgerufen! Das wissen Sie ganz genau! Das sind die Länder!)
Ganztagsschulen. Das ist wirklich ein spannendes Thema. Rot-Grün hat unter der Regierung Gerhard Schröder ein Ganztagsschulprogramm aufgelegt. Die CDU/CSU hat das immer bekämpft. Wir haben das durchgesetzt, und es hat eine ganze Menge bewirkt. Inzwischen sagt Bildungsministerin Schavan, dass Ganztagsschulen ganz toll sind, und bejubelt jede neue Studie dazu.
Jetzt wollen wir von der SPD einen entscheidenden Schritt weitergehen und ein flächendeckendes Angebot von Ganztagsschulen machen. Aber dafür müssen wir zunächst einmal das Grundgesetz ändern und das Kooperationsverbot im Bildungsbereich von Bund und Ländern streichen.
Was macht die Regierungskoalition? Sie lehnt das ab. Stattdessen gibt es einen eigenen Vorschlag zur Grundgesetzänderung von Schwarz-Gelb, der darauf hinausläuft, dass einige wenige Spitzenforschungseinrichtungen gefördert werden können. Aber das hat mit Bildung nichts zu tun. Keine einzige Ganztagsschule würde entstehen, kein Lehrer würde eingestellt. Das kann es nicht sein. Machen Sie endlich den Weg frei für eine vernünftige Bildungspolitik in Deutschland!
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, Sie behaupten, Sie machen etwas gegen Bildungsarmut. –Fangen Sie endlich damit an!
Danke schön.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)