Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Volkmar Gabert, der große sozialdemokratische bayerische Politiker und Präsident der Seliger-Gemeinde der Sudetendeutschen, hat uns in diesem Zusammenhang gemahnt, zum „Dialog über emotionale Gegensätze hinweg fähig zu sein“. Daran sollten wir uns, glaube ich, auch in dieser Debatte orientieren.
Ich will Ihnen hier als Schleswig-Holsteinischer Abgeordneter zwei Zugänge zu dieser Frage – wir zollen 60 Jahren Bundesvertriebenengesetz ausdrücklich hohen Respekt – vortragen.

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Zunächst einmal aus dem Blick eines Schleswig-Holsteiners. Schleswig-Holstein ist ein kleines Land, in dem nach dem Krieg 50 Prozent der Menschen Vertriebene und Flüchtlinge aus Ostpreußen waren. Zugleich befand sich in diesem Land der Kriegsverbrecher Dönitz. 1955 setzten dann – damals war Kai-Uwe von Hassel Ministerpräsident Schleswig-Holsteins; später war er hier Parlamentspräsident – Konrad Adenauer und der dänische Außenminister Hansen in den Bonn-Kopenhagener Erklärungen ein erstes sichtbares Zeichen für Aufarbeitung, Versöhnung und Anerkennung von Minderheitenrechten. Schließlich ist Schleswig-Holstein ein Bundesland, in dem drei der vier autochthonen Minderheiten in Deutschland eine Heimstatt und Anerkennung gefunden haben. Dort wird jetzt auch mit einem europäischen Institut in Flensburg ganz direkt darauf abgehoben, zu untersuchen: Was heißt Respekt vor Verschiedenheit und Minderheitenrechten im Europa der Zukunft? – Das ist der eine Blickwinkel.

Ich komme zum anderen Blickwinkel. Herr Kauder, ich möchte Ihnen – Sie haben hier Ihre Biografie vorgetragen – von der Biografie einer Person berichten, in deren Familie es keine Vertreibung gab. 1956/57 war ich fünf bzw. sechs Jahre alt. Man merkte in zunehmendem Maße, was eigentlich in der Nachbarschaft geschah. Es gab da den Tischler Juderjahn aus Elbing, ein ungemein fleißiger Handwerker.Das war seine Verbindung in die Heimat. Da gab es den Bauern Schmidt aus einem ganz kleinen ostpreußischen Ort, der mit seinem Rollwagen jeden Tag 15 Kilometer hin und her fuhr, um irgendwo zu melken. Natürlich gingen sie alle zu den Treffen der Heimatvertriebenen. Sie kamen dorthin, weil sie sich mit früheren Bekannten, mit Freunden treffen und mit ihnen sprechen konnten. Sie waren nicht unbedingt deshalb dort hingegangen, weil sie politische Kampfreden erwarteten und hören wollten. Ich habe deshalb den Tischler Juderjahn und den Bauern Schmidt angesprochen, weil sie etwas hatten, was sie auch vermitteln konnten, was leider viele andere nicht hatten: Sie hatten die Fähigkeit, zu trauern. Das war ihre große Leistung. Für diese Fähigkeit zollen wir diesen Menschen Respekt, in ihrem persönlichen Erleben, aber auch in ihrem politischen Erleben, das sie eingebracht haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Den Grund für die Trauer – er wurde schon deutlich dargestellt – will ich nicht wiederholen. Aber ich will Ihnen, Herr Kauder, eine kleine Bitte vortragen, dass nämlich die Bemerkung von Otto Schily nicht so verstanden werden darf, als ob Willy Brandt, ein Sozialdemokrat, nicht sehr viel dafür getan hätte, und das trotz aller Anfeindungen gegen seine Person, mit Weitblick, Beharrlichkeit und Mut dafür zu sorgen, dass Menschen zu ihrem Menschenrecht auf Heimat, zu ihrem Menschenrecht auf Frieden, zu ihrer Menschenpflicht auf Versöhnung kommen konnten. Den Sozialdemokraten Willy Brandt darf man hier nicht vergessen

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Otto Schily aber auch nicht! Oder ist Schily kein Sozialdemokrat?)

und darf ihn auch nicht zum Zwecke der Polarisierung nutzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Gift der Polarisierung muss aus der Debatte herausgenommen werden, wenn wir die Debatte nach vorne wenden wollen.

Der Bundesinnenminister hat die 60 Jahre Bundesvertriebenengesetz mit einem Antrag verbunden, eingebracht von CDU/CSU und FDP, in dem fünf Handlungsfelder geschildert werden: Integration der Flüchtlinge, Integration der Spätaussiedler, Förderung der deutschen Minderheiten, Pflege des kulturellen Erbes, früher eher Pflege des Brauchtums, jetzt eher Pflege von Erkenntnis, Verständnis und damit von Wissenschaft, und die weltweite Ächtung von Vertreibung.

Wir als Sozialdemokraten finden: Das kann eine Basis dafür sein, nach der positiven Geschichte von 60 Jahren Bundesvertriebenengesetz nach vorne zu denken und nach vorne Politik zu machen, und zwar durchaus in einem Konsens. Ich möchte daran erinnern, dass es Bundeskanzler Gerhard Schröder war, mit dem am 3. September 2000 das erste Mal in Berlin ein sozialdemokratischer Bundeskanzler auf einem Heimattreffen der Vertriebenen sprechen konnte.

(Erika Steinbach [CDU/CSU]: Ich habe ihn eingeladen!)

Er hat klare Worte in beide Richtungen gesprochen.

Es gab dann eine Fortsetzung mit einer sehr bemerkenswerten Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung am 3./4. September 2008, auf der die nachfolgende Bundeskanzlerin und Innenminister Schäuble herausgearbeitet haben: Welche Pflicht erwächst aus der Geschichte? Was ist in Zukunft die Aufgabe in Bezug auf Anerkennung und Förderung von Minderheiten allgemein wie von deutschen Minderheiten, aber auch die Aufgabe einer Politik in Europa, die insgesamt Verschiedenheit und Vielfalt von Minderheiten als Kriterium aufnimmt und anerkennt? Wir finden es sehr gut, wenn diese Überlegungen nach vorne getragen werden.

Ich darf mir allerdings die Bemerkung erlauben: Wir wissen, dass 60 Jahre Bundesvertriebenengesetz eine große Sache sind, dass es aber mit diesem Bundesvertriebenengesetz nicht 60 Jahre so weitergehen kann; vielmehr muss dieses Gesetz zu einem Gesetz der Versöhnung und der Respektierung von Verschiedenheit und Vielfalt werden. Deshalb ist es gut, dass sich diese Entwicklung in Ihren Anträgen wiederfindet.

Ich will nicht weiter darauf eingehen, sondern nur kurz sagen, weshalb wir uns bei der Abstimmung über diesen Antrag enthalten werden. In diesem Antrag konnten Sie leider nicht darauf verzichten, an die unglückselige Debatte um 60 Jahre Charta zu erinnern. Kollege Beck sprach schon von Ihrem fehlleitenden Vorschlag, den 5. August zum Erinnerungstag zu machen. Aber Sie haben eine Entwicklung durchgemacht. Diese geht dahin, dass jetzt der 20. Juni, der Weltflüchtlingstag der UN, zu dem Tag werden soll, an dem wir das Flüchtlingselend politisch diskutieren und den wir mit der politischen Aufgabe verbinden, uns gegen Vertreibung einzusetzen. Es ist auch gut so, dass das Dokumentationszentrum, wie es nach harten Diskussionen gemeinschaftlich getragen wird, diese Verbindung zwischen Flucht, Vertreibung und Versöhnung herstellt. Das Wichtigste aber ist Versöhnung.

Ich darf an dieser Stelle noch eine Bemerkung und eine Bitte an den Innenminister richten. Herr Friedrich, Sie haben das sehr nüchtern und respektvoll vorgetragen und müssen doch auch zu der von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Idee stehen, am 20. Juni an Vertreibung und Flüchtlingselend zu erinnern. Deshalb ist es nicht so gut, wenn in Bayern noch versucht wird, statt des 20. Juni wieder etwas Eigenes zu finden. Gerade auch, weil Sie der Innenminister für das ganze Deutschland sind, dürfen wir nicht in die Verschiedenheit der Erinnerung verfallen. Ich spreche Sie direkt an, weil Sie in beiden Bereichen politische Verantwortung mittragen.

Zum Schluss möchte ich – vielleicht ist das ungewöhnlich, aber ich sollte ja, wie Kollege Veit gesagt hatte, etwas zu dem wissenschaftlichen und kulturellen Hintergrund von Erinnerungsarbeit sagen – aus der Monografie des Historikers und Osteuropa-Vertreibungsforschers Andreas Kossert „Masuren. Ostpreußens vergessener Süden“ zitieren. Er schreibt im letzten Absatz dieser profunden wissenschaftlichen Erinnerung – ich darf zitieren, Herr Präsident –:

Das alte Masuren wird nicht wiedererstehen, aber es scheint, als widerfahre den Masuren – nach einem Jahrhundert politischer Vereinnahmung – nun erstmals historische Gerechtigkeit. Auch wenn es die Masuren nicht mehr gibt: Endlich wird ihre schwierige Lage zwischen Deutschen und Polen gewürdigt, endlich zollt man ihnen den Respekt, den deutscher und polnischer Nationalismus ihnen stets verwehrt haben.

Das ist der entscheidende Punkt: Respekt und Versöhnung für Vielfalt und Verschiedenheit. Geert Mak, der große niederländische Publizist, –

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
– hat es so ausgedrückt: Im letzten Jahrhundert war das erste halbe Jahrhundert das der Kriege und das zweite halbe Jahrhundert das der Überwindung der Kriegsfolgen. Er hat uns aufgegeben, das nächste Jahrhundert zu einem Jahrhundert der Versöhnung zu machen.

Wenn Respekt vor 60 Jahren Bundesvertriebenengesetz darin mündet, dass wir den Dialog über emotionale Verschiedenheit hinweg zu Versöhnung führen können, dann hat dieser Erinnerungstag auch im Parlament etwas Gutes erbracht.
Danke schön.