Daniil Granin ist Überlebender der Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht, die heute vor 69 Jahren zu Ende ging. In seinem Buch "Es war nicht ganz so", das 2010 erschien und auf autobiographischen Erlebnissen beruht, hatte Granin geschrieben: "Mir ist eine Welt gegeben worden, die ständig kämpft, eine harte Welt, mit wenig Lächeln, mit viel Finsternis und wenig Sonne." Granin ist gemeinsam mit Ales Adamowitsch Autor des "Blockadebuchs", das Erinnerungen und Zeitzeugenbefragungen aus der Zeit der deutschen Belagerung Leningrads enthält. In der Blockade verloren über eine Million Menschen ihr Leben.

Deutschland muss sich gegen jede Form von Ausgrenzung stellen

Bundestagspräsident Norbert Lammert eröffnete die Gedenkstunde im Bundestag am Montagnachmittag. "Wir gedenken heute aller Menschen, denen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des von Deutschland ausgegangenen Angriffskrieges ihre Rechte, ihr Besitz, ihre Heimat, ihr Leben, ihre Würde entrissen wurden: der Juden, der Sinti und Roma, der Kranken und Menschen mit Behinderungen, der politisch Verfolgten, der Homosexuellen, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangs­arbeiter, der Opfer der Kindertransporte, der Kriegsgefangenen, der zu "Untermenschen" degradierten slawischen Völker. All jener, die in Auschwitz, Treblinka, Belzec und in den anderen Vernichtungslagern ermordet wurden; die erschossen, vergast, erschlagen, verbrannt, durch Zwangsarbeit vernichtet wurden; die verhungert sind. Wir gedenken auch jener, die verfolgt, drangsaliert, getötet wurden, weil sie Widerstand leisteten oder weil sie anderen Schutz und Hilfe gewährten. Allen heute hier im Bundestag anwesenden Zeitzeugen gilt unser besonderer Gruß und Respekt."

Den "abermillionen Toten" seien die Deutschen es schuldig, immer wieder Bewusststein dafür zu schaffen, dass "millionenfach ein Mensch zugrunde gegangen ist". Das Wissen um die Täter hielte bis heute die Frage aktuell: "Wie ist eine solche Entmenschlichung möglich geworden?" Die Geschichte trage nun den Deutschen eine besondere Verpflichtung gegen jede Form der Ausgrenzung auf. Lammert verwies auf die fremdenfeindlich motivierten NSU-Morde und machte deutlich: "In Deutschland ist Intoleranz nicht mehr tolerierbar."

Hass ist ein Gefühl ist, das in eine Sackgasse führt

Es gehöre den zu großen Verdiensten von Daniil Granin und seinem Co-Autor Ales Adamowitsch, dass sie den Bewohnern Leningrads eine Stimme gegeben haben, leitete Lammert zur Rede des Schriftstellers über. Granin schilderte das Grauen der Blockade Leningrads eindrucksvoll. "Die Deutschen wussten ganz genau, wie es um die Stadt steht und wie sie unter dem furchtbaren Hunger leidet. Die Blockade hielt fast drei Millionen Menschen im Würgegriff. Der Tod kam leise, mucksmäuschenstill, tagein und tagaus." Granin erinnerte an die vielen Hungertoten in der Zeit der Blockade. Es habe Zeiten gegeben, da seien über 3000 Menschen am Tag an ihrem Hunger gestorben. Die Blockade der Stadt dauerte fast 900 Tage.

Granin sagte, er haben Deutschland lange nicht verzeihen können, dass die Blockade vor allem Zivilisten das Leben gekostet habe, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. "Die Aussöhnung war für mich keine leichte Sache", so Granin, "Mir war klar, dass Hass ein Gefühl ist, das in eine Sackgasse führt. Hass hat keine Zukunft, er ist kontraproduktiv. Mir war klar, dass man vergeben können muss, aber auch nichts vergessen darf."

Die Gedenkstunde im Bundestag findet seit 1996 jährlich anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch russische Soldaten am 27. Januar 1945 statt. Im vergangenen Jahr sprach die deutsch-israelische Schriftstellerin Inge Deutschkron vor den Abgeordneten. Im Jahr zuvor übernahm diese Aufgabe der Literaturkritiker und Überlebende des Warschauer Ghettos Marcel Reich-Ranicki, der im September 2013 in Frankfurt verstorben ist.