Deshalb hat der Bundestag am 19. Juli einen Antrag von CDU/CSU, SPD und FDP verabschiedet, der die Bundesregierung auffordert, im Herbst dieses Jahres einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die rituelle Beschneidung von Jungen regelt. Dieser soll sowohl dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit als auch dem auf freie Religionsausübung Rechnung tragen. Bündnis 90/die Grünen haben den Antrag zunächst auch unterstützt. Kurz vor der Entscheidung wollten sie ihn jedoch nicht mehr miteinbringen.

Die Anzahl der Kritiker_innen gegenüber der religiösen Beschneidung von minderjährigen Jungen im jüdischen (am achten Tag) und im muslimischen Glauben wächst. Die Kritik kommt u.a. von den Verbänden der Kinder- und Jugendmedizin. Der Kinderschutzbund hat sich noch nicht positioniert und bereitet eine Stellungnahme vor. Ebenso haben sich reformorientierte jüdische sowie muslimische Organisationen zu Wort gemeldet. Und nicht nur in Deutschland wird die Beschneidung von Säuglingen und Kleinkindern kritisch diskutiert.

Die Rechtslage

Strafrechtlich betrachtet stellt die Beschneidung – egal ob aus medizinischen oder religiösen Gründen – eine Körperverletzung dar. Erfolgt die Beschneidung eines Minderjährigen aus medizinischen Gründen z.B. bei einer Verengung der Vorhaut, ist sie über die Einwilligung der Eltern gerechtfertigt. Sie wird wirksam, wenn eine Beschneidung im gesundheitlichen Interesse des Kindes erfolgt. Erfolgt sie aus rein religiösen Gründen, ist die Wirksamkeit der Einwilligung rechtlich fraglich. Hier sind zwei grundrechtlich geschützte Rechtsgüter abzuwägen: das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und das Recht der Eltern auf Ausübung ihrer Religion. Das Landgericht Köln hat dem Recht auf körperliche Unversehrtheit im Ergebnis Vorrang gegeben. Hier eine Ausnahmeregelung nur für eine oder zwei Religionsgemeinschaften zuzulassen, würde jedoch gegen den Gleichheitsgrundsatz nach unserem Recht verstoßen.

Auch für Kinder gelten unsere Grundrechte: Dies hat das Bundesverfassungsgericht im Juli 1968 festgestellt. Das Grundgesetz (GG) sieht in Artikel 2 vor, dass in das Recht auf körperliche Unversehrtheit nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden darf. Das heißt, hier begrenzt das sog. Wächteramt des Staates die Freiheit in der Religionsausübung.

Die in Deutschland gültige Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen schreibt vor, dass bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, vorrangig das Kindeswohl zu beachten ist. Darüber hinaus verpflichten sich die Vertragsstaaten, wirksame und geeignete Maßnahmen zu treffen, um überlieferte Bräuche, die der Gesundheit von Kindern schaden, abzuschaffen. Die Vertragsstaaten sind dazu verpflichtet, unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten der Eltern oder eines Vormundes,
Schutz und Fürsorge zu gewährleisten.

Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) haben Kinder das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Danach sind körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und entwürdigende Maßnahmen unzulässig.

Medizinische Aspekte

Das Gewebe der männlichen Vorhaut ist wie die weiblichen Schamlippen hochempfindlich. Eingriffe im Genitalbereich sind für die Betroffenen sehr schmerzhaft. Zudem hat die Hirnforschung nachgewiesen, dass Neugeborerene durch Schmerzzufügung traumatisiert werden können. Hierzu wird angemerkt, dass Neugeborene erst seit 1987 in Deutschland nicht mehr ohne Vollnarkose operiert werden dürfen. Doch diese ist bei Säuglingen nicht ungefährlich. Eine Beschneidung kann außerdem im späteren Leben zu sexuellen Problemen führen. Zudem gibt es nach der Operation bei jedem fünften Säugling Komplikationen. Übrigens beziehen sich die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Beschneidung für eine bessere Hygiene bei Männern nicht auf Säuglinge und Kleinkinder, sondern auf Jugendliche und Erwachsene.

SPD-Bundestagsfraktion führt intensive Diskussionen

In der SPD-Bundestagsfraktion gibt es ebenso unterschiedliche Haltungen und Bewertungen zur Ausformulierung einer gesetzlichen Regelung der religiösen Beschneidung wie in der gesamten Öffentlichkeit. Die jeweiligen Argumente und Perspektiven innerhalb der Diskussion stellen wir im Folgenden kurz dar.

Ein Teil der SPD-Bundestagsfraktion will eine Regelung finden, die die religiöse Beschneidung von minderjährigen Jungen unter noch festzulegenden Auflagen und in Einklang mit den Grundrechten gestattet. Religiöses Leben muss auch für Juden und Muslime in Deutschland möglich sein. Die Auswirkungen von einer männlichen Beschneidung im Kindes- oder Säuglingsalter müssen dabei wesentlich differenzierter betrachtet werden, als dies bisher geschieht. Immerhin handelt es sich um eine jahrtausendalte religiöse Praxis, deren Vertreter_innen in den Diskussionsprozess miteinbezogen werden müssen. Denn es wäre kein gutes Ergebnis, wenn zukünftig Beschneidungen nicht mehr von Fachleuten durchgeführt werden könnten. Darauf verweist die Integrationsbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion Aydan Özoğuz. Die Beauftragte für Kirchen und Religionsgemeinschaften der SPD-Fraktion, Kerstin Griese, plädiert für eine baldige Klärung: „Ich kann mir eine Lösung vorstellen, die die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen unter sehr engen Vorgaben ermöglicht.“ Dazu gehöre nach ihrer Auffassung, dass Beschneidungen ausschließlich von Mediziner_innen und unter örtlicher Betäubung vorgenommen werden.

Ein anderer Teil der Fraktion sieht die Beschneidung von minderjährigen Jungen als nicht vereinbar mit dem Kindeswohl und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit an. Auch das Recht der Eltern, aus religiösen Gründen die Einwilligung zu erteilen, gilt danach als unvereinbar mit dem Wächteramt des Staates über den Schutz des Kindeswohls. Dieser rechtlichen Auffassung nach ist das Recht auf freie Religionsausübung dem Schutz des Kindeswohls unterzuordnen.

Die Kinderbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, Marlene Rupprecht, hat deshalb deutlich gemacht, dass negative Auswirkungen auf die Ausübung der Religion vermeidbar seien, wenn ihre Angehörigen bereit sind, die heutigen medizinischen Erkenntnisse so zu berücksichtigen, dass eine Veränderung der Riten ins Symbolische z. B. analog zur christlichen Taufe erfolge. Außerdem soll eine bewusste Entscheidung für oder gegen die Beschneidung erst bei Eintritt der Religionsmündigkeit und der mit dem Alter der Jungen abnehmenden gesundheitlichen Komplikationen ermöglicht werden. Dazu gibt es entsprechende Bewegungen sowohl unter den Angehörigen des jüdischen Glaubens als auch unter den Muslimen, wie z.B. beim Bund der alevitischen Jugendlichen in Deutschland e.V.

Das Urteil der Kölner Richter habe eine lange überfällige Debatte angestoßen, betont die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dagmar Ziegler (zuständig für Familien-, Senioren- Frauen und Jugendpolitik sowie Bildung und Forschung). Ihr kommt es darauf an, die Frage richtig zu stellen: „Ist die Praxis der religiös motivierten Beschneidung mit dem Kindeswohl und grundgesetzlich verankerten Rechten vereinbar?“

Die Vorlage des Gesetzentwurfs durch die Bundesregierung im Herbst werde Gelegenheit geben, darüber gründlich und unter Abwägung aller Argumente zu diskutieren. SPD-Fraktionsvizin Christine Lambrecht (zuständig für Innen- und Rechtspolitik) will erreichen, dass die Diskussion ergebnisoffen geführt wird. Ziel bleibt, dass die Ausübung jüdischen und muslimischen Lebens möglich bleiben muss.

Der SPD-Fraktion geht es insgesamt darum, jüdische und muslimische Eltern im Sinne des Kindeswohls zu unterstützen und nicht Teile ihres Glaubens zu kriminalisieren. Am 23. August wird der Deutsche Ethikrat darüber öffentlich debattieren. Weitere Informationen dazu gibt es hier.