Überall in Europa werden derzeit neue Sparprogramme aufgelegt. Doch in vielen EU-Mitgliedstaaten sind die Kürzungen dramatisch aus dem Ruder gelaufen. Anstatt den Rotstift konsequent bei Staatsbürokratie, ineffizienten Verwaltungsstrukturen und unsinnigen Steuersubventionen anzusetzen, ist im Schatten der Krise vor allem der Sozialstaat ins Visier des blinden Sparwahns geraten.
Sparen ist immer auch eine Frage der richtigen Prioritäten. Doch dass für die Rückkehr zu soliden Finanzen und wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit grundlegende sozialstaatliche Errungenschaften geopfert werden sollen, kommt einem Tabubruch gleich. Die solidarische Absicherung bei Arbeitslosigkeit, Alter und Krankheit zählt zum Markenkern Europas, der auch in Krisenzeiten niemals zur Disposition stehen darf. Die Europäische Union hat sich auf die Fahnen geschrieben, mehr als nur ein Binnenmarkt und eine Währungsunion zu sein. Doch wer die Sparschraube ausgerechnet bei den Sozialleistungen immer fester anzieht, der begräbt damit auch den Anspruch, Europa zu einer echten Sozialunion mit Vorbildcharakter für den Rest der Welt zu machen. In Griechenland, Portugal, Spanien und Irland müssen ohne Rücksicht auf Verluste Löhne und Renten gekürzt, Arbeitslosen- und Krankengelder zusammengestrichen sowie Arbeitnehmerrechte und Gesundheitsleistungen abgebaut werden. Von einer sozialen Ausgewogenheit der Spar- und Reformprogramme fehlt jede Spur.
Die soziale Balance gerät immer heftiger ins Wanke
Doch was tut die Europäische Union gegen den drohenden sozialen Infarkt im Herzen Europas? Dort, wo sie eigentlich als soziales Korrektiv gefragt wäre, treibt die EU - über die strikten Auflagen der Troika aus Kommission, EZB und IWF - die Krisenstaaten immer tiefer in den Sozialabbau. Als die Troika die griechische Regierung zuletzt aufforderte, konkrete Namenslisten für Entlassungen im öffentlichen Dienst vorzulegen, war damit der absolute Tiefpunkt erreicht. Die soziale Balance gerät immer heftiger ins Wanken. Offenkundig wiegen Haushaltsdefizite in den Augen vieler politisch Verantwortlicher deutlich schwerer als sozialstaatliche Defizite. Das ist die eigentliche Krise in Europa, die uns zutiefst besorgen sollte.
Europa scheint in der Krise sein soziales Gespür, seinen Sinn für Solidarität und soziale Gerechtigkeit verloren zu haben. Im Kampf gegen die Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise regieren nur noch die harten ökonomischen Fakten. Alle Blicke richten sich auf abstrakte Kennziffern wie Haushaltsdefizite, Verschuldungsquoten, Lohnstückkosten, Exportmarktanteile oder Leistungsbilanzen. Ausgefeilte Mechanismen zur wirtschaftspolitischen Koordinierung sowie zur strengeren Überwachung und Sanktionierung von Haushaltssündern gibt es mittlerweile zu Genüge. Der Fiskalvertrag, der reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt (Sixpack), das Europäische Semester, die Europa-2020-Strategie und der Euro-Plus-Pakt sind die Keimzelle einer künftigen europäischen Wirtschaftsund Fiskalunion.
Sozialsünder kommen ungestraft davon
Eine vergleichbare Kreativität sucht man bei der Grundsteinlegung für die viel beschworene europäische Sozialunion vergeblich. Sozialsünder kommen in Europa immer noch ungestraft davon. Wo bleibt eigentlich der längst überfällige "Twopack" für Soziales? Denn bei der Entwicklung von Instrumenten zur wirksamen Koordinierung, Überwachung und Sanktionierung der mitgliedstaatlichen Sozialpolitiken kann man nicht nur bei den Begrifflichkeiten von den bestehenden Mechanismen im Bereich der Wirtschafts- und Haushaltspolitik lernen.
Warum stellen wir dem Fiskalpakt, der die Mitgliedstaaten zur Einführung von Schuldenbremsen verpflichtet, nicht mit derselben politischen Verve einen Sozialpakt mit einer Sozialabbau-Bremse für Löhne, Renten und Gesundheitsleistungen zur Seite? Dafür müssten die Mitgliedstaaten zunächst Leitlinien, Zielkorridore und Mindeststandards in den Bereichen Beschäftigungspolitik, Alterssicherung und Gesundheitsversorgung vereinbaren. Ganz konkret ginge es um die Einigung auf europaweite Mindestlöhne und -renten, konkrete Abbaupläne für die Jugendarbeitslosigkeit sowie Qualitätsstandards für die nationalen Gesundheitssysteme.
Viel wird derzeit über einen europäischen Finanzminister diskutiert. Doch dieser muss dann auch parlamentarisch kontrolliert werden und mehr sein als nur ein reiner Sparkommissar. Vielmehr hätte der oberste europäische Haushaltshüter auch über die soziale Ausgewogenheit der Sparmaßnahmen zu wachen - eine Aufgabe, die die Troika bislang sträflich vernachlässigt hat. Jeder Verstoß gegen die europäischen Auflagen wäre vom EU-Finanzminister konsequent zu ahnden. Das wäre die Geburtsstunde eines solideren, aber auch sozialeren Europas, in dem Haushaltskonsolidierung und die Bewahrung des Sozialstaats endlich nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden können.
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