Sie waren 2001 der Chef des Bundeskanzleramtes und damit Koordinator der deutschen Geheimdienste. Wie haben Sie am 11. September von den Anschlägen in New York und Washington erfahren, Herr Steinmeier?

Ich war im Auto, auf der Rückfahrt von einem Kurzurlaub mit der Familie in Frankreich. Wir fuhren gerade durch Stuttgart, als das Telefon klingelte. Mein Büroleiter war dran, der völlig irritiert berichtete, er habe gerade eben im Fernsehen gesehen, dass ein Flugzeug in World-Trade-Center geflogen sei. Und während wir darüber rätselten, was da passiert sein könnte, sagte er: Und jetzt ein zweites. Uns war klar, dass konnte kein Unfall sein. Ich bin dann nur noch ein paar Kilometer weiter gefahren und habe einen Platz zum Parken gesucht, um in Ruhe telefonieren zu können. Der Kopf war voll mit Gedanken, was in den nächsten Minuten zu veranlassen ist. Ich fand auch schnell eine Parkgarage, in die ich hineinfuhr. Erst ein knaarzendes Scheppern erinnerte daran, dass die Fahrräder auf dem Dach waren. Die sahen nicht gut aus. Aber es gab wichtigeres an diesem Tag.

Wann haben Sie Näheres erfahren?

Mein Mitarbeiter hatte auf meine Bitte ersten Kontakt mit Ernst Uhrlau aufgenommen, der damals im Kanzleramt als Abteilungsleiter für Geheimdienstfragen zuständig war. Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich schon ab, dass alles auf einen Terroranschlag hindeutete. Wir hatten aber an diesem Nachmittag noch keine belastbaren Hinweise, wer verantwortlich dafür sein könnte.

Was ging Ihnen in diesen ersten Stunden durch den Kopf?

Weder wussten wir am Anfang, dass es insgesamt vier Flugzeuge waren, die entführt waren. Noch konnten die Amerikaner ausschließen, dass womöglich weitere Flugzeuge in der Hand von Terroristen sind. Auch das jede Vorstellung überschreitende Maß der Katastrophe war nicht von Anfang  an bekannt. Erst als ich wenig später bei Freunden die Bilder von Menschen sah, die sich in den Tod stürzten, dann die einstürzenden Türme, wurde mir das grausame Ausmaß der Katastrophe allmählich deutlicher.

Wann haben Sie zum ersten Mal mit Bundeskanzler Schröder gesprochen?

Am Nachmittag des 11. September gegen 15.30 Uhr. Ich habe dann noch etliche Male mit meine Stab und dem Koordinator für die Geheimdienste telefoniert.

Was war die erste Maßnahme, die Sie ergriffen haben?

Ich habe angewiesen, unser Lagezentrum auszubauen, also mehr Personal dorthin abzustellen. Das Lagezentrum des Kanzleramtes ist die Schaltstelle, über die wir technisch mit dem Ausland verbunden sind. Da Amerika betroffen war und auch ansonsten Gesprächsbedarf mit ausländischen Partnern zu erwarten war, musste dort eine erhöhte Einsatzbereitschaft hergestellt werden. Auch banale Dinge: Ein Hubschrauber musste organisiert werden um rasch nach Berlin zu kommen. Der wurde noch nachts auf die Reise geschickt und ich war frühmorgens in Berlin für die erste Sicherheitslage.

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Bleiben wir noch einen Moment beim 11. September. Sie standen ja ständig in Kontakt zum Kanzleramt. Wie kam die Entscheidung Gerhard Schröders zustande, den Amerikanern öffentlich „uneingeschränkte Solidarität“ zuzusagen?

In meinem ersten Telefongespräch mit dem Kanzler haben wir nicht über Sprachregelungen gesprochen. Das war geprägt von der Fassungslosigkeit über diese schreckliche Tragödie und dem Versuch einer rationalen Beurteilung der Lage. Wir waren wussten, dass diese Anschläge eine tiefe Zäsur für das Sicherheitsempfinden der Amerikaner bedeuten würden. Und wir waren uns einig, dass man in dieser Situation keinen Zweifel entstehen lassen dürfe, dass wir an der Seite jener Nation stehen, die uns nach 1945 in den Kreis der Weltgemeinschaft zurückgeholfen hat, die zu unseren engsten Verbündeten gehört und die in diesen Stunden über den Tod so vieler Menschen trauert.

Ahnten sie, dass die „uneingeschränkte Solidarität“ in militärisches Handeln der Deutschen münden könnte?

Am 11. September 2001 war das zunächst einmal Ausdruck unserer Freundschaft und tiefen Verbundenheit mit Amerika. Der Begriff der „uneingeschränkten Solidarität“ war kein fein ziselierter Vertragsbegriff, in den alle Nebenbedingungen für Solidarität und Unterstützung rein formuliert waren. Da finden nachträglich Deutungen statt, die mit der Situation nach dem 11. September 2001 wenig zu tun haben. Die Beteiligten in der Bundesregierung waren erfüllt von dem Entsetzen über die Tat und dem Mitgefühl für die Nation, die über ihre Toten trauert. Wir haben uns aber keine Illusionen gemacht. Es lag auf der Hand, dass die USA reagieren würden. In welcher Form und in welchem Umfang, und ob mit Unterstützung von Verbündeten, das war sicher auch in Amerika weder am 11. noch am 12. September bekannt.

Am 12. September waren Sie also dann am frühen Morgen in Berlin. Was geschah?

Unsere Sicherheitsbehörden hatten über Nacht zusammengetragen, was an Informationen zu kriegen war. Am Vormittag des 12. September war für sie hinreichend klar, dass die Handschrift der Anschläge auf Al Qaida hindeutete. Das habe ich am selben Tag der Öffentlichkeit im Wege einer Pressekonferenz mitgeteilt.

An diesem Tag wurde auch bekannt, dass einige der Attentäter in Hamburg gelebt hatten, dass die Amerikaner also ein paar Fragen an uns haben würden.

Ja, das war so. Als die Regierung am Abend des 12. September die Fraktionsvorsitzenden unterrichteten, war das Thema. Es herrschte Betretenheit in der Runde.

Wie viel Druck haben die Amerikaner auf Deutschland ausgeübt, als die Sache mit Hamburg bekannt geworden war?

Dass einige Täter vom Staatsgebiet eines engen Verbündeten aus gehandelt hatten, hat - gelinde gesagt - Irritationen ausgelöst. Und wir haben natürlich den Druck der Amerikaner gespürt. Aber stärker war das Gespür für die eigene Verantwortung. Am stärksten war aber der öffentliche Druck auf die amerikanischen Ermittlungsbehörden, schnell Ergebnisse vorzulegen. Deshalb haben sie auch Personal für die Ermittlungen in Deutschland angeboten. Wahrscheinlich hätten sie sie am liebsten selbst übernommen. Wir haben das verstanden, aber natürlich darauf geachtet, dass die Sache den deutschen Sicherheitsbehörden nicht aus der Hand genommen wird. Das hat am Anfang erst mal gerumpelt, nach ein paar Tagen lief die Zusammenarbeit aber ordentlich.

Wie ist es Ihnen gelungen, das abzuwenden? Oder ist es gar nicht gelungen?

Es dauerte eine Weile, um bei den Amerikanern Vertrauen in die deutschen Behörden aufzubauen. Aber Washington hat gesehen, dass die Hamburger Landespolizei, die Dienste und das Bundeskriminalamt professionell und schnell arbeiten und Ergebnisse vorlegen konnten.

Sie haben ab dem 12. September jeden Morgen eine Sicherheitslage im Kanzleramt geleitet.

Richtig. Und wir haben dann über viele Wochen täglich zusammengesessen und die Lage analysiert. Dabei waren der Bundesnachrichtendienst, der Verfassungsschutz, das Bundeskriminalamt und die Ministerien für Justiz, Inneres, Äußeres und Verteidigung. Es war nicht nur der täglich aktualisierte Austausch von neuen Erkenntnissen. In diesen Runden ist auch eine Art gemeinsamer politischer Kultur geschaffen worden, mit der wir die Krise bewältigt haben.

Haben Sie den 11. September als innenpolitische Krise begriffen?

Natürlich gab es Befürchtungen, dass die Attentate in New York nur der Beginn einer Anschlagsserie der Al Qaida, die den gesamten Westen und damit auch Europa treffen sollte. Die öffentliche Stimmung in Deutschland war von dieser Furcht geprägt. Es gab ständig neue Gerüchte, zum Beispiel über Pockenviren, die in den USA abhanden gekommen seien. Über Wochen hatten wir damit zu tun, vermutete Anschläge mit Anthrax, also Milzbranderregern, aufzuklären. Es gab ja eine Unzahl von Trittbrettfahrern, die sich einen Spaß daraus machten, die Republik in Verunsicherung zu stürzen. Wir mussten damals Laborkapazitäten in Windeseile aufbauen, um den Verdacht entkräften zu können, islamistische Terroristen seien schon dabei, Deutschland mit solchen Anschlägen zu überziehen.

Welche Terrorszenarien hielten Sie für möglich?

Wir haben systematisch analysiert, was als Anschlagsziel in Betracht kommt und ob Sicherheitslücken bestehen. Alle Möglichkeiten wurden überprüft: Flughäfen, Bahnhöfe, die Wasserversorgung oder große Industrieanlagen. Wir haben kontrolliert, ob das Flughafenpersonal ausreichend sicherheitsüberprüft ist. Wir haben Kleinflughäfen untersucht, ob Kleinflugzeuge für Attentate entwendet werden können. Wir haben auch diskutiert, ob bewaffnete Sicherheitsbeamte auf Passagierflügen an Bord sein sollten, haben dies aber wieder verworfen. Insgesamt waren das Zeiten hoher Anspannung. Es gab die Erwartung der Menschen, größtmögliche Sicherheit vor Anschlägen in Deutschland zu gewährleisten. Und es galt gleichzeitig den Rechtsstaat nicht zu gefährden. Ich finde, es ist auch unter hohem Druck gelungen die Zivilität dieses Landes zu wahren.

Zugleich war Deutschland außenpolitisch gefordert. Die Nato hatte mit Zustimmung Berlins den Bündnisfall ausgerufen. Wie lief das ab?

Joschka Fischer, der damalige Außenminister, hat uns darüber informiert, dass auf der Sondersitzung des Nato-Rats am 12. September die Vereinigten Staaten eine formelle Erklärung über die Solidarität des Bündnisses erwarteten. Im Laufe des Nachmittags erreichte uns dann im Kanzleramt die Frage, ob wir die Ausrufung des Bündnisfalls nach Artikel 5 des Nato-Vertrags mittragen würden. Das Auswärtige Amt war dafür. Schröder bat um eine rechtliche Einschätzung des Justizministeriums. Staatssekretär Hans-Jörg Geiger hat im Kanzleramt berichtet, dass ein Bündnisfall angenommen werden könne, wenn es sich um einen Angriff von außen handelte. Das war die Position, mit der wir als Bundesregierung gearbeitet haben.

Damit war klar, dass Deutschland gegebenenfalls in einen Krieg ziehen müsste. Hatten Sie Angst davor - schließlich war der Kosovo-Krieg noch nicht lange vorbei? Oder haben Sie gesagt: Da müssen wir dabei sein?

Es findet rund um den 10. Jahrestag viel Geschichtsdeutung statt. Manches Absurde ist dabei. So etwa die Deutung, dass die Bundesregierung nur nach einer Chance gesucht habe, auch militärisch wieder auf die Weltbühne zurückzukommen. Deshalb habe man sich den Amerikanern aufgedrängt. Wer das schreibt ist doch aus der Geschichte gefallen. Die schweren Auseinandersetzungen um das militärische Engagement auf dem Balkan waren gerade erst vorbei. Was innerkoalitionär drohte war doch klar, wenn wir militärische Beiträge im Kampf gegen den Terrorismus leisten würden. Und tatsächlich stand die Koalition bei der Entscheidung über eine Beteiligung an dem OEF-Einsatz auf der Kippe. Aber wir mussten handeln. Auch aus Solidarität im Bündnis, aber vor allem, weil wir uns selbst schützen mussten. Die Gefahr, dass der nächste Anschlag in Europa passiert, bestand ja. Wir sind in Deutschland – Gott sei Dank – verschont geblieben. Aber wir sollten nicht vergessen, dass viele Deutsche gleichwohl Opfer geworden sind, bei den Anschlägen in Bali, Djerba, Casablanca und anderswo. Auch nicht, dass der Terror der Al Quaida immerhin bis London und Madrid reichte. Nicht weit weg von uns…

Haben die Amerikaner denn erwartet, dass Deutschland militärisch in Afghanistan mitmacht?

Ich bin mir nicht sicher, ob das von Anfang an der Fall war. Aber nachdem die Planungen für den Militäreinsatz in Afghanistan in Arbeit waren und der Umfang sichtbar wurde, hat Washington Beiträge der Verbündeten abgefragt. Damit begann die Diskussion innerhalb der Koalition, ob Deutschland einen solchen Beitrag leisten sollte.

Gab es das Gefühl in der Bundesregierung, die Amerikaner trauen uns nicht und wir müssen ihnen das Gegenteil beweisen? Schließlich galten die Deutschen als kriegsentwöhnte Pazifisten.

Nein. Deutschland hatte sich ja eher zur Überraschung der Amerikaner auf dem Balkan militärisch engagiert. Es gab also kein Misstrauen uns gegenüber.

Hätte Deutschland es bei der politischen Solidarität mit Amerika belassen können?

Nur sehr theoretisch Deutschland ist ein souveränes Land und entscheidet selbst über militärisches Engagement außerhalb seiner Grenzen. Aber mit dem Mauerfall und dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist auch eine deutsche Sondersituation zu Ende gegangen. Sie bestand darin, dass wir vierzig Jahre lang nie gefragt wurden nach unserem militärischen Engagement und die Erklärung politischer Solidarität als ausreichend empfunden wurde. Deutschland ist 1990 erwachsen geworden. Sonderrechte und Rücksichtnahmen im Bündnis gab es nicht mehr. Aber nochmal: Bündnissolidarität war nur ein Gesichtspunkt. Es ging auch um unsere Sicherheit, die der Menschen in Deutschland: Lager in Afghanistan, in denen immer neue Generationen von Terroristen zum Kampf gegen den Westen ausgebildet wurden, waren nicht nur eine amerikanische, englische oder kanadische Angelegenheit, auch unsere!