Welt am Sonntag: Herr Steinmeier, Sie haben einen sehr entspannten Eindruck gemacht, als Peer Steinbrück in Hannover zum Kanzlerkandidaten der SPD gewählt worden ist. Sind Sie froh, dass der Kelch an Ihnen vorübergegangen ist?

Frank-Walter Steinmeier: Es ist nicht so sehr erstaunlich, dass man entspannter wirkt, wenn sich alle Blicke und Erwartungen in diesem Moment auf einen anderen richten. Für mich liegt die Entscheidung, nicht anzutreten, ja nun schon eine Weile zurück. Ich konnte mich daran gewöhnen und bin mit mir im Reinen.

Meine Rolle ist es jetzt, Peer Steinbrück, so gut ich kann, zu unterstützen. Und deshalb habe ich mich sehr gefreut über seine großartige und mitreißende Rede – und über den Beifall der Delegierten, der von Herzen kam.

Welt am Sonntag: Ist Steinbrück Ihnen noch gram, weil Sie die Kandidatenkür beschleunigt haben?

Steinmeier: Gram sind mir weder der Kandidat noch der Parteivorsitzende. Ich gebe zu und trage die Verantwortung dafür, dass der Entscheidungsprozess um drei Monate vorgezogen wurde. Das war nicht der vereinbarte Plan.

Aber die Reaktionen innerhalb und außerhalb der Partei zeigen uns auch, dass wir keinen Vorteil davon gehabt hätten, die anstehende Personalentscheidung bis nach der Niedersachsen-Wahl aufzuschieben. Im Gegenteil: Größer wäre das Risiko gewesen, dass wir durch weiteres Hinausschieben Schaden an unserer Glaubwürdigkeit genommen hätten.

Welt am Sonntag: Steinbrücks Start war holprig.

Steinmeier: Peer Steinbrück hat selbst öffentlich gesagt, dass er sich die ersten Tage seiner Kanzlerkandidatur anders vorgestellt hätte. Aber an einen Spitzenkandidaten der SPD werden strengere Maßstäbe angelegt als an andere, gerade weil er reelle Chancen hat zu gewinnen. Diese besondere Art Stresstest trifft jeden Herausforderer. Das ist nicht schön, aber diese Phasen muss man durchstehen auf dem Weg ins Kanzleramt.

Welt am Sonntag: Kann die SPD mit Steinbrück stärkste Partei werden?

Steinmeier: Eine Volkspartei wie die SPD muss für sich das Ziel formulieren, stärkste Kraft im Deutschen Bundestag zu werden. Aber das wichtigste Ziel ist es, eine politische Mehrheit zu formieren und den Kanzler zu stellen.

Welt am Sonntag: Sie werden die Umfragen kennen.

Steinmeier: Ja, und deshalb sage ich: Schwarz-Gelb wird es nicht mehr geben. Rot-Grün ist bereits jetzt in Reichweite, obwohl der Wahlkampf noch gar nicht richtig begonnen hat. Da werden sich noch viele wundern!

Welt am Sonntag: Wie kann die SPD eine Kanzlerin, die sozialdemokratische Kernthemen vertritt, besiegen?

Steinmeier: Politik ist keine rhetorische Übung. Man wird an Taten gemessen. Im Alltag ist nicht viel übrig geblieben von den sprachlichen Bemühungen, die Frau Merkel scheinbar auf sozialdemokratischen Kernfeldern angestellt hat.

Der Mindestlohn ist nicht gekommen. Dafür wurde das Betreuungsgeld eingeführt – eine familien- und bildungspolitische Katastrophe. Und bei der Mütterrente kocht der Streit in der Koalition so hoch, dass die Kombattanten von CDU und FDP sich auf das neue Jahr vertagen mussten. Das ist jämmerlich.

Welt am Sonntag: Die Wähler nehmen das anders wahr.

Steinmeier: Viele mögen Angela Merkel immer noch als eine Kanzlerin über den Parteien sehen. Aber Schloss Bellevue ist besetzt. Der Bundespräsident heißt Joachim Gauck. Im Wahlkampf schauen die Menschen darauf, was Frau Merkel hier in Deutschland mit ihren Ministern geleistet hat. Und das ist erschütternd wenig. Frau Merkel wird sich zu ihrer Verantwortung für den Stillstand in der deutschen Innenpolitik bekennen müssen.

Sie führt ein Kabinett, in dem der tägliche Streit noch das Einzige ist, was man wahrnimmt. Es gibt aus den letzten drei Jahren nahezu kein Thema, bei dem sich die Ressortminister nicht gegenseitig in den Arm gefallen sind, um zu verhindern, was im Nachbarministerium ausgeheckt worden ist: Die Streitigkeiten zwischen von der Leyen und Schröder, Rösler und Altmaier und neuerdings auch zwischen Westerwelle und Niebel füllen seit drei Jahren die Titelseiten deutscher Tageszeitungen.

Dafür, dass nichts vorangeht in unserem Land, dafür trägt jemand die Verantwortung. Und das ist niemand anderes als die Kanzlerin.

Welt am Sonntag: Steuerentlastungen für Geringverdiener scheitern nicht an der Regierung, sondern an der Blockade der SPD im Bundesrat.

Steinmeier: Quatsch. Im Koalitionsvertrag wurden massive Steuerentlastungen versprochen, für die nie Geld da war. Eingelöst wurde nur die Steuersenkung für Hotelbesitzer – ein billiges Klientelgeschenk.

Dann hat Herr Schäuble zwei Jahre lang erzählt, dass das Geld für weitere Steuersenkungen nicht da ist, und jetzt – zehn Monate vor der Bundestagswahl – soll es auf einmal doch gehen. Und das, obwohl derselbe Finanzminister trotz guter Finanzlage 100 Milliarden Euro neuer Schulden aufgenommen hat. Das sind doch Rosstäuschertricks!

Welt am Sonntag: Tatsache ist: Die SPD will die Steuern erhöhen.

Steinmeier: Vergessen Sie nicht, zu Zeiten der CDU/FDP-Regierung haben Sie alle mehr Steuern gezahlt als zu rot-grünen Zeiten. Das gilt durchweg, vor allem für die Eingangssteuersätze, die wir zweimal drastisch gesenkt haben. Aber wenn wir die Schuldenbremse einhalten und gleichzeitig mehr für bessere Schulen und Kitas ausgeben wollen, dann darf der Spitzensteuersatz nicht tabu sein.

Welt am Sonntag: Schröder und Fischer sind tief in bürgerliche Wählerschichten vorgedrungen, als sie die Steuern gesenkt haben. Warum ziehen sich SPD und Grüne mit Steinbrück und Trittin auf die klassische Position der politischen Linken zurück?

Steinmeier: So ein Unsinn. Die Regierung Steinbrück wird deutlich bürgerlicher als das, was wir in dieser Koalition erleben. Das fängt bei gutem und solidem Regierungshandwerk an und hört bei gesitteten Umgangsformen noch lange nicht auf. Natürlich bleibt die soziale Gerechtigkeit in der europäischen Krise ein zentrales Thema.

Wir können aber nicht nur über Steuererhöhungen für Spitzenverdiener reden, wenn wir die Bundestagswahl gewinnen wollen. Die SPD wird auch andere Themenfelder besetzen. Die Wirtschaftspolitik beispielsweise wird von der Regierung gar nicht bedient. Industriepolitik, Infrastruktur, Sicherheit der Energieversorgung – das müssen Themen der SPD sein und sind es auch: Wenn ich die Einladungen sehe, die auf meinem Tisch landen, kann ich nur einen Schluss ziehen …

Welt am Sonntag: … nämlich welchen?

Steinmeier: Es gibt nicht nur von unserer Seite aus ein Interesse an der Wirtschaft. In den letzten beiden Jahren ist auch das Interesse der Wirtschaft wahrnehmbar gestiegen, mit uns zu reden. Ich glaube nicht, dass wir die alte Aufteilung – die SPD ist der Betriebsrat der Nation, und für die Wirtschaft sind Union und FDP zuständig – einfach akzeptieren sollten. Der Betriebsrat sind wir gern und sollten es sein. Aber Zurückhaltung in der Wirtschaftspolitik sollten wir uns nicht auferlegen. Dafür sind bei den Unternehmern zu viele Enttäuschungen über die schwarz-gelbe Regierung zurückgeblieben.

Welt am Sonntag: Als Sie Kanzlerkandidat waren, haben Sie ein Ampelbündnis mit Grünen und FDP ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Würden Sie das jetzt anders halten?

Steinmeier: Ich halte es für eine Selbstverständlichkeit, dass demokratische Parteien miteinander koalitionsfähig sein müssen. Aber die FDP musste in ihrer selbst gewählten babylonischen Gefangenschaft mit der Union erst auf drei Prozent abstürzen, um sich an bessere sozial-liberale Zeiten zu erinnern. Als ich laut vor der vergangenen Bundestagswahl über die Ampel nachgedacht habe, glaubte der damalige Parteivorsitzende der FDP, mit dem Vorwurf des "Stalking" reagieren zu müssen. Und da kann ich nur sagen: Ich bin zwar nicht nachtragend, aber ich vergesse nichts.

Welt am Sonntag: Jetzt werden Sie verfolgt – von FDP-Politikern wie Wolfgang Kubicki ...

Steinmeier: Kubicki? Nie gehört! (lacht)

Welt am Sonntag: Wo sehen Sie Übereinstimmungen von Sozialdemokraten und Liberalen – inhaltlich und personell?

Steinmeier: Ein Politikwechsel der FDP hat bisher nicht stattgefunden. Und ich kann keine Prognose abgeben, wie sich die FDP in den Monaten bis zur Wahl entwickeln wird. Ich kann nur sagen, was wir wollen. Erstens: so stark wie möglich werden. Und zweitens: mit den Grünen die Regierung stellen. Darauf werden wir alle Kraft verwenden. Welche Rolle die FDP spielen wird, muss sie selbst entscheiden. Es wird leicht übersehen, dass die zweite rot-grüne Regierung zu den stärksten in der Geschichte der Bundesrepublik gehörte.

Welt am Sonntag: Bitte?

Steinmeier: Es ist den Reformen der Regierung Schröder/Fischer zu verdanken, dass Deutschland innerhalb eines Jahrzehnts vom kranken Mann Europas zum Spitzenreiter in der Wachstumstabelle aufgestiegen ist. Das zeigt aber auch, wie schnell es wieder nach unten gehen kann. Ich mache mir große Sorgen, weil unser Reformvorsprung in Europa schmilzt. Deshalb darf sich die Unfähigkeit der schwarz-gelben Bundesregierung, zu politischen Ergebnissen zu kommen, nach 2013 nicht fortsetzen.

Welt am Sonntag: Hat Rot-Grün eine neue Reformagenda?

Steinmeier: Die soziale Gerechtigkeit ist der Fußabdruck, den die SPD in der politischen Landschaft immer hinterlassen muss. Aber das wird nicht reichen, um Wahlen zu gewinnen. Ich habe mit meiner Fraktion die letzten Jahre hart daran gearbeitet, dass weitere Felder dazukommen, die wir neulich in einem Zukunftskongress aufgeblättert haben. Wir haben Bürger und Verbände, Gewerkschafter und Unternehmer daran beteiligt. Das hat sich gelohnt.

Viele neue Kontakte und Ideen sind hinzugekommen. Vom Kreativpakt für Kulturschaffende, neuen Anstöße in der Wohnungspolitik über einen neuen Infrastrukturkonsens bis hin zu einer ausformulierten Demografiepolitik samt Ganztagsschulprogramm und Aufwertung der dualen Ausbildung im Gesamtsystem der Bildung.

Welt am Sonntag: Herr Steinmeier, die EU hat in dieser Woche den Friedensnobelpreis erhalten. Welche Verpflichtung erwächst daraus in der Krise?

Steinmeier: Der Nobelpreis ist nach wie vor der am höchsten geachtete Preis der Welt. Ob die Entscheidungen des Nobelpreiskomitees in den vergangenen Jahren immer glücklich waren, ist eine andere Frage. Preise auszugeben nicht für das vergangene Tun, sondern als Kredit für die Zukunft, ist ein Wagnis.

Zweifellos schreibt die EU eine Geschichte von Frieden und wirtschaftlicher Entwicklung, die es in kaum einer Region in der Welt so gegeben hat. Aber der Zeitpunkt der Preisverleihung deutet darauf hin, dass auch die Erwartung an künftiges Engagement darinsteckt.

Welt am Sonntag: Trägt der jüngste EU-Gipfel zur Überwindung der Krise bei?

Steinmeier: Der Weg zu einer Bankenunion mit einer europäischen Bankenaufsicht ist richtig. Der Zeitplan, den die Bundesregierung vorgibt, deutet allerdings darauf hin, dass Entscheidungen verschleppt werden sollen auf einen Zeitpunkt nach 2013. Das zeigt, dass diese Regierung keine eindeutige Priorität bei den europäischen Sanierungsmaßnahmen setzt, sondern ihren Wählern unangenehme Wahrheiten ersparen und alles auf die Zeit nach der Bundestagswahl verschieben will. Das ist nicht in Ordnung.

Welt am Sonntag: Wäre ein Schuldenschnitt für Athen ein Beitrag zum Frieden in Europa?

Steinmeier: Das ist doch keine Frage, ob man das politisch will oder nicht, sondern ob es ökonomisch vermeidbar ist oder nicht. Ich glaube nicht, denn Merkels Politik führt zwangsläufig dorthin. Da mag sie ihren Leuten wieder anderes versprechen – sie wird es nicht halten.

Welt am Sonntag: Welches Euro-Land macht Ihnen die größten Sorgen?

Steinmeier: National betrachtet hat Griechenland die größten Schwierigkeiten. Die Einschnitte sind brutal. Dort leiden die Menschen am meisten. Aber aus der gesamteuropäischen Perspektive sind die jüngsten Nachrichten aus Italien gefährlicher: Eine einzige politische Äußerung von Herrn Berlusconi hat gereicht, um die Zinsen in die Höhe schießen zu lassen.

Das zeigt, dass das Vertrauen in die italienische Wirtschaft noch nicht zurückgekehrt ist. Nach dem angekündigten Rückzug von Ministerpräsident Monti kann man nur hoffen, dass die Wähler in Italien nicht Populisten auf den Leim gehen, die einfache Auswege aus der Krise versprechen.

Welt am Sonntag: Frankreich gerät immer tiefer in den Sog der Krise. Bedauern Sie die Huldigungsreise der SPD-Troika zu François Hollande?

Steinmeier: Ich bin froh, dass wir mehrfach den Kontakt zu ihm gesucht haben – vor und nach der Wahl. Ich kann Deutschland nur raten, es sich im Umgang mit dieser französischen Regierung nicht zu einfach zu machen. Hollande ist ein hochrationaler Mann, der sein Amt in einer schwierigen Situation antritt. Sarkozy hat fünf Jahre ein rhetorisches Feuerwerk abgebrannt, Reformen über Reformen angekündigt, passiert ist nichts. Und das war erkennbar zu wenig, um die Wirtschaft Frankreichs zukunftsfest zu machen.

Welt am Sonntag: Was bringen Hollandes protektionistische Ansätze in dieser Lage?

Steinmeier: Protektionismus hilft nicht; das ist aber auch nicht das, was ich als Kern der Wirtschaftspolitik Hollandes sehe. Ich wünsche mir, dass Hollande den Spielraum hat, um den Schwierigkeiten in einigen Branchen zu begegnen. Frankreich und Deutschland haben sehr unterschiedliche industriepolitische Traditionen. Was in einem Land hilfreich ist, lässt sich nicht einfach auf das andere übertragen.

Jedenfalls ist es gut, dass wir jetzt wieder die Möglichkeit haben, ernsthaft miteinander zu reden. Mit Sarkozy war das anders. Er zündete auf einer Pressekonferenz ein Feuerwerk – und ging anschließend zum Weißwein über.

Welt am Sonntag: Kann Hollande dem SPD-Kandidaten im Wahlkampf helfen?

Steinmeier: Wir werden uns daran gewöhnen, dass nationale Wahlkämpfe europäischer werden. Ich finde es gut, wenn deutsche Politiker in Frankreich auf Veranstaltungen auftauchen oder französische hier bei uns. François Hollande wird auch in einem deutschen Bundestagswahlkampf herzlich willkommen sein.