SPIEGEL ONLINE: Genießen Sie die Fußball-EM?

Ja, ich bin großer Fußballfan. Allerdings bin ich erschrocken, wie wenig sich die französische Polizei auf die erwartbare Eskalation von Hooligan-Gewalt vorbereitet hatte. Offenbar war sie vor allem auf Terrorabwehr fokussiert.

SPIEGEL ONLINE: Was läuft falsch?

Hooligans sind kriminelle Gewalttäter. Da muss die Polizei absolut rigoros vorgehen: Die Täter müssen isoliert, festgenommen und in ihre Heimat abgeschoben werden. Besonders bei den russischen Hooligans hat das überhaupt nicht funktioniert.

SPIEGEL ONLINE: Aber steht da nicht auch Russland in der Verantwortung?

Russland hat sich als künftiger WM-Gastgeber bis auf die Knochen blamiert. Die russische Mannschaft spielt einen gepflegten Altherrenfußball - und gleichzeitig bestimmen Hooligans aus Russland die Schlagzeilen und bekommen auch noch Applaus aus Moskau, wenn sie zuschlagen.

SPIEGEL ONLINE: Was hat das für Konsequenzen für die Fußball-WM 2018 in Russland?

2006 lautete das Motto der Fußball-WM in Deutschland: "Die Welt zu Gast bei Freunden" - so kann ich mir das in Russland zurzeit schwer vorstellen. Ich halte wenig von ideologisch motivierten Sportsanktionen, aber die Fifa muss Russland in aller Deutlichkeit klar machen, dass etwas passieren muss. Es muss erkennbare Schritte für eine friedliche Fußball-WM geben, damit sich Fans und Gäste in zwei Jahren in Russland wirklich willkommen fühlen können.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie Angst, dass die Briten kommenden Donnerstag für den Brexit votieren?

Ich sehe das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Brexit-Befürwortern und -Gegnern mit Sorge. Egal wie es ausgeht - schon jetzt steht fest, dass Großbritannien in der EU-Frage eine gespaltene Nation ist. Es wird also weiterhin sehr schwierig bleiben mit den Briten, selbst wenn am Ende eine knappe Mehrheit für den Verbleib in der EU votiert.

SPIEGEL ONLINE: Warum?

Die knappe Mehrheit würde immer wieder Rücksicht auf die starke Brexit-Minderheit nehmen müssen.

SPIEGEL ONLINE: Wäre es dann nicht besser, die Briten verlassen die EU?

Nein. Die EU würde durch den Austritt Großbritanniens an politischem Gewicht verlieren. Und das ist nicht wünschenswert in Zeiten, in denen die europäischen Werte weltweit immer mehr unter Druck geraten. Wenn Großbritannien ginge, wäre es der härteste Schlag für die EU seit ihrer Gründung.

SPIEGEL ONLINE: Sollte die EU in diesem Fall Härte oder Nachsicht gegenüber Großbritannien zeigen?

Wir dürfen niemandem eine Extrawurst braten, das würde nur Nachahmer animieren. Zweifellos wäre es für Großbritannien ein Minusgeschäft, nicht mehr am Binnenmarkt teilzunehmen.

SPIEGEL ONLINE: Die Brexit-Befürworter argumentieren gegen politische und ökonomische Vernunft. Wie sehr gibt Ihnen als deutschem Politiker das angesichts von AfD, Pegida und Co. zu denken?

Rechte Ideologen argumentieren derzeit überall in Europa so. Vielleicht war das schreckliche Attentat auf Jo Cox die Tat eines verwirrten Einzelnen. Aber diese Leute mit ihren nationalistischen Bestrebungen gefährden nicht nur politisch unsere Zukunft, sondern sie verbreiten auch Hass und Hetze. Das senkt Hemmschwellen, erst in den Gedanken, dann in der Wortwahl, schließlich in Taten. Ich finde gut, dass in England jetzt erst mal innegehalten wurde.

SPIEGEL ONLINE: Ist diese Methode - Anti-Fakten, Anti-Vernunft - am Ende aber leider die zeitgemäßere und politisch gewinnbringendere?

Einfache Antworten verführen leicht. Aber darauf dürfen wir uns nicht einlassen. Wir müssen gegen den Irrationalismus, den Nationalismus, den Rassismus mit allem antreten, was uns die Aufklärung an die Hand gegeben hat. Wir müssen dafür kämpfen, mit Vernunft, aber auch mit Emotionen.

SPIEGEL ONLINE: Genau das versuchen die etablierten politischen Parteien - aber mit Blick auf die Werte der AfD bislang offenbar ohne Erfolg. Wie wäre es mit Ignorieren statt Agitieren?

In der Tat haben AfD und Pegida in den vergangenen Monaten für eine Menge Unsinn zu viel Aufmerksamkeit bekommen. Gleichwohl muss man sich mit Rassismus und Nationalismus offensiv auseinandersetzen. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich solche Ideen in der Mitte unserer Gesellschaft festsetzen.

SPIEGEL ONLINE: Gerade wurde die sogenannte Mitte-Studie vorgestellt, die deutlich fremdenfeindliche Tendenzen in der deutschen Gesellschaft aufzeigt. Ist Deutschland weniger weltoffen als gedacht?

Die große Mehrheit der Deutschen schätzt die Liberalität und Offenheit unserer Gesellschaft. Natürlich gibt es die angesprochenen Tendenzen. Aber das liegt zum Teil auch daran, dass es die Politik in jüngster Vergangenheit versäumt hat, den Menschen Vertrauen zu vermitteln. Das Chaos bei der Einwanderung Hunderttausender Menschen über die Balkanroute hat das Sicherheitsgefühl bei einem Teil der Bevölkerung erschüttert. Die Politik muss die Probleme in der Flüchtlingskrise besser lösen. Und sie muss sich auch anderen Problemen widmen, die Spaltpotenzial in der Gesellschaft haben.

SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie?

Die wachsende Ungleichheit beispielsweise, die unsicheren Arbeitsverhältnisse. Es gibt eine weitverbreitete Angst bei den Deutschen vor Veränderungen in der Welt. Manche Sorgen können wir den Menschen durch gute Politik nehmen.

SPIEGEL ONLINE: Zur Krise unserer Demokratie trägt auch die Große Koalition bei, weil der übliche Schlagabtausch zwischen Regierung und Opposition fehlt.

Die Große Koalition sollte im Interesse der Demokratie keine Dauereinrichtung sein. Deshalb wäre es gut, wenn die Bürger im kommenden Jahr bei der Bundestagswahl für eine andere Regierung sorgen. Wobei die Große Koalition viel Richtiges getan hat: Die Renten sind in diesem Jahr deutlich gestiegen, es gab eine kräftige Steigerung der Reallöhne im vergangenen Jahr, wir haben den Mindestlohn eingeführt.

SPIEGEL ONLINE: Immer mehr Ihrer Parteifreunde träumen ab 2017 von der Opposition, damit die SPD wieder zu sich findet. Was halten Sie davon?

Nichts. Wer politisch gestalten will, kann das praktisch nur in der Regierung. Und deshalb muss es immer das Bestreben einer linken Reformpartei wie der SPD sein, zu regieren. Besser wäre es, wenn die Union in die Opposition ginge. Sie könnte dort ihr parteiinternes Chaos sortieren und heimatlose Konservative wieder von der AfD zurückholen.

SPIEGEL ONLINE: Was ist also besser: Juniorpartner in der Großen Koalition oder Opposition?

Das ist doch nicht die Alternative: Wir kämpfen für ein Wahlergebnis, mit dem wir den Kanzler stellen können.

SPIEGEL ONLINE: Das geht nach Lage der Dinge höchstens mit Rot-Rot-Grün. Aber selbst in der Bundespräsidentenfrage schrecken Sie vor einem solchen Bündnis zurück.

In der Parteienlandschaft ist gerade viel in Bewegung. Bei der Bundespräsidentenwahl geht es vor allem darum, eine geeignete Person zu finden. Wir brauchen jemanden, der oder die das Land in einer schwierigen Situation zusammenhalten kann und zeigt, dass Demokratie und Freiheit nicht von allein kommen, sondern immer wieder neu erarbeitet und verteidigt werden müssen. Auch wenn das manchmal anstrengend ist.

SPIEGEL ONLINE: Warum sträuben Sie sich denn dann so vor einem demokratischen Wettbewerb mit der Union um die bessere Person für Bellevue?

Die Wahl des Bundespräsidenten ist keine vorgezogene Bundestagswahl. Es geht darum, mit einem überzeugenden Kandidaten zu den notwendigen Mehrheiten zu kommen. Deshalb schauen wir jetzt in aller Ruhe.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben schon jemanden im Kopf?

Die Gedanken sind frei.