Herr Schneider, eigentlich wollte die SPD ihren Parteitag nutzen, um sich auf ihre Rolle als Oppositionspartei vorzubereiten. Jetzt debattieren Sie über Koalitionsgespräche und eine Regierungsbeteiligung. Freuen Sie sich darauf?

Es ist ein wichtiger Orientierungs-Parteitag für uns. Wir wählen die Parteispitze neu und müssen unser Wahlergebnis von 20,5 Prozent auswerten. Anders als erwartet muss die SPD auch darüber beraten, wie Regierungsmehrheiten im Bundestag gebildet werden können. Ich bin sehr auf die Debattenbeiträge gespannt.

Was ist die Ursache für das schlechte Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl vor allem in Ostdeutschland?

In erster Linie müssen wir die Verantwortung bei uns selbst suchen. Viele Themen werden in Ostdeutschland anders diskutiert, zum Beispiel, wenn es um die soziale Lage, gerechte Löhne und um die Beziehungen zu Russland geht. Insgesamt haben wir über die Lebensleistungen und das Lebensgefühl der Ostdeutschen zu wenig gesprochen.

Warum hat das Thema „Mehr soziale Gerechtigkeit“ gerade hier so wenig überzeugt?

Das Thema Flüchtlinge und Migration war der Elefant im Raum, der für viele Wähler wahlentscheidend war. Für sie war diese Wahl die Chance, über die ungesteuerte Zuwanderung, die Angela Merkel eingeleitet hat, abzustimmen und ihr zu sagen, dass sie das nicht wollen. Unser Fehler war es, dass wir unsere internen Kontroversen darüber nicht öffentlich gemacht haben. Es erschien uns besser, nach außen geschlossen aufzutreten. Deshalb bin auch so gespannt auf den Parteitag: Wir müssen wieder stärker die Konflikte, die sich in vielen Familien an den Küchentischen abspielen, auch selbst abbilden.

Die Parteispitze legt dem Parteitag als Grundlage für die Gespräche mit der Union einen vierseitigen Auszug aus dem Wahlprogramm vor. Welche Forderung ist von so zentraler Bedeutung für die SPD, dass Sie das Wagnis einer neuen GroKo eingehen würden?

Tatsächlich bildet unser Wahlprogramm die Grundlage für die Gespräche mit CDU und CSU. Ich will nicht den Fehler machen, den die Teilnehmer der Jamaika-Runde begangen haben, die jeden Tag mit neuen Forderungen an die Öffentlichkeit gegangen. Das war ein Grund dafür, dass die beteiligten Parteien kein Vertrauen untereinander aufbauen konnten. Jede Seite muss mit klaren Vorstellungen in die Verhandlungen gehen, aber nicht täglich Meldungen mit neuen Vorschlägen produzieren wollen. Für mich stehen alle gesellschaftlich relevanten Konflikte im Mittelpunkt, sei es zwischen Arm und Reich, Ost und West, Land und Großstadt. Dieses Auseinanderdriften hat bei den Jamaika-Sondierern überhaupt keine Rolle gespielt. Wenn es gelingt, für Alleinerziehende oder Armutsrentner Verbesserungen zu erzielen, wäre ich bereit, über eine Große Koalition nachzudenken. Aber ob es dazu kommt, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen. Außerdem wissen wir auch nicht, wer demnächst in CDU und CSU den Ton angeben wird.

Viele Bürger, darunter auch SPD-Mitglieder, hegen Sympathien für eine CDU-Minderheitsregierung, die von Fall zu Fall von der SPD toleriert werden könnte. Sie verbinden damit offenere und lebendigere Debatten im Parlament. Ist dieses Modell für Sie tabu?

Nein, das ist es nicht. Aber zum Einen gehe ich nicht davon aus, dass Gespräche mit der Union über eine neue Große Koalition von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Wir sollten nur nicht die Fehler aus der abgelaufenen Legislaturperiode wiederholen. Wir müssen eigenständiger auftreten. Es gibt überhaupt keinen Grund, Angst vor der CDU oder vor Frau Merkel zu haben. Wir haben sehr oft gute Ergebnisse mit der Union erzielt, aber müssen mehr Wert legen auf unser eigenes Profil. Zum Anderen müssen wir bei einer Minderheitsregierung beachten, dass es im Bundestag seit der Wahl eine Mitte-Rechts-Mehrheit gibt. Und wenn wir als SPD eine Kanzlerin Angela Merkel tolerieren würden, müsste ich in Kauf nehmen, dass sich Mehrheiten ohne uns bilden. Deshalb kann ich nicht erkennen, warum wir Merkel zur Kanzlerin wählen sollten, ohne auf das weitere Geschehen Einfluss nehmen zu können. Vielleicht werde ich im Laufe der Debatte auf dem Parteitag schlauer, aber wenn wir etwas für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land erreichen wollen, müssen wir in einer Koalition konkrete Vorhaben festschreiben.

Das heißt, Neuwahlen wären eher eine Lösung als eine Minderheitsregierung?

Auch das kann eine Option sein. Es ist zu früh, sich auf eine Möglichkeit festzulegen.

In der letzten, noch geschäftsführenden Bundesregierung gibt es eine Ost-Beauftragte. Soll diese Funktion beibehalten oder aufgewertet werden oder ist sie gar inzwischen überflüssig?

Die Kluft zwischen einzelnen Regionen halte ich für eine zentrale Herausforderung für die neue Bundesregierung. Dazu gehört der Osten, aber auch Teile Nordrhein-Westfalens. Das Brexit-Votum in Großbritannien und die Wahl von Donald Trump in den USA waren die Folge davon, dass sich Wähler abseits der großen Metropolen abgehängt fühlten und das Vertrauen in die Regierung vollständig verloren hatten. Zusätzlich zum Länderfinanzausgleich muss der Bund in diese Gegenden investieren und für gleichwertige Lebensverhältnisse sorgen. Diese Erkenntnis war ein Grund dafür, die Gebietsreform in Thüringen zu verschieben. Auch in kleinen Orten muss es Busverkehr und eine Schule geben. Tatsache ist aber auch, dass Ostdeutschland im Kabinett unterrepräsentiert ist. Ich kann und will mich jetzt nicht festlegen, wie wir das regeln würden, aber mir ist es wichtig, dass das Thema von jemandem vertreten wird, der in Ostdeutschland aufgewachsen ist.