Herr Oppermann, kennen Sie die Fabel vom Schafshirten und dem Wolf?

Ja. Meinen Kindern erzähle ich sie allerdings in der Variante mit dem Jungen, der ruft: Es brennt, es brennt. Die ersten drei Mal rückt die Feuerwehr aus. Als das Haus dann beim vier-ten Mal tatsächlich brennt, kommt niemand mehr zum Löschen.

Was lehrt uns das?

Dass wir gut beraten sind mit Gefahren und Warnungen verantwortungsbewusst umzugehen, damit die Menschen nicht abstumpfen.

In München haben die Sicherheitsbehörden an Silvester wegen einer Terrorwarnung unter anderem den Hauptbahnhof gesperrt. Passiert ist nichts – wie beim abgesagten Länderspiel in Hannover oder beim abgesagten Karnevalsumzug in Braunschweig. Wie oft kann man solche Maßnahmen treffen, bis die Leute sagen: Ist doch alles nur blinder Alarm?

Wenn sie konkrete Hinweise auf einen möglichen Anschlag und Zweifel an der Sicherheit für die Menschen haben, müssen die Behörden handeln. Es muss aber nicht jede Großveranstaltung abgesagt werden. Oft genügt es, die Sicherheitsregeln zu verstärken und die Polizeipräsenz zu erhöhen.

Hat sich die Sicherheitslage denn objektiv verschärft oder sind Politik und Behörden seit den Pariser Anschlägen nur nervöser geworden?

Paris hat gezeigt, dass der IS operativ in der Lage ist, furchtbare Anschläge im großen Stil in europäischen Metropolen durchzuführen. Diese objektive Gefahr gab es schon vorher. Gestiegen ist das subjektive Gefühl der Bedrohung.

Ende Januar nimmt die Bundesliga nach der Winterpause wieder den Spielbetrieb auf. Wie viele Spiele standen schon kurz vor dem Abbruch?

Bisher sind Fußballspiele doch eher durch gewalttätige Hooligans ein Problem für die öffentliche Sicherheit gewesen. Wir werden auch jetzt nicht reihenweise Spiele absagen müssen. Oft reichen stärkere Kontrollen beim Einlass. Das verstehen die Fans auch.

Würden Sie als Fan unbeschwert Spiele der EM im Sommer in Frankreich besuchen?

Ich habe das sogar fest vor.

Kein mulmiges Gefühl?

Nein. Das will ich erst gar nicht aufkommen lassen. Ich lasse mir von ISIS die Freude am Fußball nicht nehmen.

Gilt das auch für den bevorstehenden Karneval: Weitermachen und sich die Feierlaune nicht verderben lassen?

Ziel des Terrors ist doch die Verbreitung von Angst und Unsicherheit. Da sollten wir den Terroristen nicht auf den Leim gehen. Angst darf nicht unser Leben beherrschen. Eine verängstigte Republik, das wäre der Sieg des Terrors. Also: rational bleiben, Vorkehrungen treffen, wo immer es möglich ist, und mit dem verbleibenden Risiko vernünftig umgehen – wie wir das im Straßenverkehr auch machen, obwohl jährlich 3500 Menschen bei Unfällen sterben.

„Je weniger Erfolg die Einschüchterungsversuche der Terroristen haben, desto eher lassen sie das“, sagt der Kriminalpsycholo-ge Jens Hoffmann. Das ist also mehr als nur eine fromme Hoffnung?

Ich halte das im Prinzip für richtig. Je stärker wir unser Leben von Terroristen beeinflussen und beeinträchtigen lassen, desto mehr werden sie ihren Druck erhöhen.

Bislang reagieren die Deutschen eher gelassen auf die Bedrohung. Ein Anschlag bei uns dürfte das schnell ändern.

Ich hoffe, uns bleibt das erspart. Aber: Absolute Sicherheit kann es in einem freien Land nicht geben. Das wissen die Menschen auch.

Im Zweifel für die Freiheit?

Das ist die einzig richtige Antwort, die wir den Terroristen geben können. Wir wissen seit Benjamin Franklin: Wer die Freiheit zugunsten der Sicherheit aufgibt, verliert am Ende beides.

In Brüssel lag das Leben vor Weihnachten nach einer Terrorwarnung tagelang brach. Schulen blieben geschlossen. Der Nahverkehr wurde eingestellt. War das eine Überreaktion?

Aus der Ferne ist das schwer zu beurteilen. Zumindest ist in Belgien nichts passiert. Es sollte gleichwohl nicht Routine werden, Stadtviertel abzusperren und Großveranstaltungen abzusagen. Auch wenn wir alle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, werden wir keinen hundert-prozentigen Schutz erreichen. Ich möchte auch keinen Staat, der im Wochenrhythmus neue Sicherheitsgesetze verabschiedet und dadurch die Freiheit seiner Bürger immer wei-ter einschränkt.

Ist nicht jede Terrorwarnung immer auch ein Aufbauprogramm für Pegida, AfD und die Allianz der Anti-Islamisten?

Selbst wenn das so wäre, dürfte es kein Grund sein, auf Warnungen zu verzichten. Das wäre nicht zu verantworten.

Sind Sie eigentlich froh, dass Wolfgang Schäuble, der alte Panikmacher, nicht mehr Innenminister ist?

Er hat neulich ja etwas Vernünftiges gesagt: Wir dürfen nicht in einen Wettstreit mit den Dumpfbacken am rechten Rand der Gesellschaft eintreten, sondern müssen souverän und gelassen bleiben.

Hätte von Ihnen stammen können?

Deutschland hat bereits seit Otto Schily scharfe Anti-Terror-Gesetze, in der großen Koalition ist letztes Jahr einiges dazugekommen: Wir haben den Besuch und die Finanzierung von Terrorcamps unter Strafe gestellt; wir können Terrorverdächtigen den Pass und den Perso-nalausweis entziehen Was wir jetzt brauchen, sind personell und technisch gut ausgestattete Sicherheitsbehörden.

Braucht es mehr Polizisten, vor allem besser ausgerüstete Polizisten?

In jedem Fall. Leider wurde in den vergangenen Jahren zu viel bei Polizei und Sicher-heitsbehörden gespart. Das war Ausdruck einer ideologisch motivierten Schwächung des Staates. Aber nur ein starker Rechtsstaat kann Schutz und Sicherheit bieten. Das ist beson-ders für die wichtig, die sich privat keinen ei-genen Schutz leisten können. Deshalb wird es in den nächsten Jahren einen weiteren Auf-bau des Personals geben müssen. Die 3000 zusätzlichen Stellen bei der Bundespolizei, die die SPD durchgesetzt hat, sind ein erster Schritt.

Auch die werden nicht reichen, um sämtliche „Gefährder“ lückenlos zu überwachen. Wären elektronische Fußfesseln ein geeignetes Mittel?

Auch mit einer elektronischen Fußfessel kön-nen Terroranschläge ausgeführt werden. Wirklich gefährlichen Personen muss man 24 Stunden auf den Füßen stehen.

Die Szene ist international organisiert. Braucht es eine stärkere europäische Ver-netzung in Sicherheitsfragen?

Unbedingt. Die personelle Verflechtung der Pariser und der Brüsseler Terrorszene haben das deutlich gezeigt. Wir haben in Deutschland ein sehr gut funktionierendes Anti-Terror-Zentrum, in dem Polizei und Nachrichtendienste von Bund und Ländern eng zusam-menarbeiten und gefährliche Lagen gemein-sam bewerten. Das brauchen wir auch auf eu-ropäischer Ebene.

Wie wollen Sie verhindern, dass die Ter-rordebatte auf dem Rücken von Flüchtlingen ausgetragen wird?

Zum Glück wird das inzwischen differenziert betrachtet. Die allermeisten Flüchtlinge fliehen vor genau den Terroristen, mit denen einige sie jetzt in Verbindung bringen wollen. Die Hauptgefahr für unser Land liegt doch in Hunderten von deutschen IS-Kämpfern, von denen viele aus Syrien und Irak bereits zurückgekehrt sind.

Das hat also keinen Einfluss auf die Flücht-lingspolitik der Bundesregierung?

Nein. Natürlich müssen wir wissen, wer in un-ser Land kommt. Dafür brauchen wir eine ef-fektive Grenzkontrolle und eine exakte Regist-rierung der Flüchtlinge. Aber das ist schon aus Gründen der allgemeinen Sicherheit notwendig. Mit erhöhter Terrorgefahr durch Flüchtlinge hat das nichts zu tun. Es ist Konsens in der Regierung: Wir dürfen jetzt nicht hysterisch reagieren.

Und dass Ihr Koalitionspartner, CSU-Chef Horst Seehofer, die Belastungsgrenze bei 200.000 Flüchtlingen sieht, ist auch keine Hysterie?

Das ist eine hilflose Aussage, die falsche Er-wartungen weckt. Es kommt doch kein Flücht-ling weniger, weil wir eine nationale Obergrenze festlegen. Ich bin mir nicht sicher, was Horst Seehofer damit bewirken will. Richtig ist, dass wir die Zahl der Flüchtlinge deutlich reduzieren müssen. Satt über Obergrenzen zu reden, soll-ten wir uns darauf konzentrieren, die Lage der Flüchtlinge in den Herkunftsländern deutlich zu verbessern, die Außengrenzen der EU zu sichern und Flüchtlinge über Kontingente auf-zunehmen.

Nicht alle besorgten Bürger scheinen frei von Hysterie, manche stellen Muslime unter Generalverdacht. Wird das Leben für Musli-me in Deutschland jetzt schwieriger?

Diese Sorge hatte ich nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“. Zum Glück haben sich  die meisten Menschen in Deutschland sehr anständig verhalten. Sie wissen, dass die über-große Mehrheit der Muslime friedlich ist und der Islam gegen ihren Willen für den Terror instrumentalisiert wird. Im Übrigen sind die meisten Opfer des islamistischen Terrors selbst Muslime.

Sie haben den deutschen Herbst, die Zeit des RAF-Terrors als Student erlebt. Worin liegt der Unterschied in der Gefühlslage zu heute?

Es gab unglaublich verhärtete Fronten. Damals ging ein Riss durch unsere Gesellschaft. Von dieser Hysterie, von dieser bleiernen Zeit sind wir zum Glück weit entfernt.

Auf welchen Zeitraum der Bedrohung werden wir uns einstellen müssen?

Der sogenannte Islamische Staat ist nicht so übermächtig, wie er sich selbst darstellt. Er hat in den letzten Monaten Niederlagen erlitten, sein Einflussbereich ist geschrumpft.

Ein Umstand, der zu noch mehr Terrorangriffen führen könnte.

Natürlich kann der IS auch ohne staatliche Strukturen weiter im Untergrund agieren, aber das wäre unendlich schwieriger für ihn. Bis dahin müssen wir uns allerdings über längere Zeit auf eine erhöhte Bedrohung einstellen. Aber eine starke Gesellschaft hält das auch aus. Die Idee der Freiheit ist stärker als jeder Terror.