Der Widerspruch zwischen Wissen und Handeln

Dabei wissen wir sogar, wie die Alternative aussehen kann, denn die internationale Staatengemeinschaft hat schon vor 20 Jahren auf dem UN-Erdgipfel in Rio de Janeiro empfohlen, die Idee der Nachhaltigkeit zur politischen Leitlinie in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu machen. Doch wir jagen weiterhin den Krisen atemlos hinterher, ohne zu tragfähigen Lösungen zu kommen.

Der Widerspruch zwischen Wissen und Handeln wird größer, auch weil wir die sozialen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen als Einzelereignisse sehen, nicht aber in einen gesellschaftlichen Zusammenhang einordnen. Der Umgang ähnelt der Bundesligakonferenzschaltung im Radio: Tor in Bremen, Tor in Mainz, Tor in Dortmund! Was zählt ist das Ereignis, nicht mehr das Spiel. Auch die Wirklichkeit wird zerlegt, nicht mehr in Zusammenhängen gesehen.

Zudem wurde in den letzten Jahrzehnten ein ökonomisches Einheitsdenken durchgesetzt, in dem die Befindlichkeit der Märkte wichtiger ist als eine handfeste Analyse gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Machtverhältnisse. Deshalb erkennen wir nicht, was die entscheidenden Ursachen für die Krisen unserer Zeit sind: Wir erreichen die Grenzen des Wachstums. Das ist ein tiefer Einschnitt, denn Wachstum war die Lösung für die alltäglichen Probleme und die Heilsbotschaft für eine gute Zukunft. Wachstum war der Kitt für den sozialen Zusammenhalt und der Motor für die Modernisierung der Gesellschaft.

Das große Triebwerk, das den westlichen Ländern Sicherheit und Wohlstand gebracht hat, gerät ins Stottern. Wachstum kann nicht mehr die Grundlage für Fortschritt sein.

Um es mit Erich Kästner zu sagen: Es geht auf keinen Fall so weiter, wenn es so weitergeht. Es greift sogar zu kurz, von „Krise“ zu reden. Tatsächlich erleben wir einen Epochenbruch, eine radikale Veränderung der Welt. Das Modell der europäischen Moderne gerät an seine Grenzen.

Doch offenkundig sind wir nicht fähig, diese Zusammenhänge zu erkennen, obwohl es seit den siebziger Jahren deutliche Hinweise auf die Grenzen des Wachstums gibt. Schon damals wurde die Tragweite des beginnenden Umbruchs nicht verstanden – weder im Osten noch im Westen. Heute werden die Gefahren real, können nicht länger verdrängt werden. Die ökologischen Grenzen sind bereits erreicht, die ökonomischen Grenzen werden immer deutlicher. In der Folge geraten wir auch an die Grenzen der wachstumsabhängigen Sozialsysteme.

Die Nachfolgestudie des Forscherteams um Dennis Meadow an den Club of Rome kam schon 2004 zu dem bedrückenden Ergebnis, dass es für eine Wende hin zu einer nachhaltigen Entwicklung wahrscheinlich zu spät sei. Offenkundig trennt ein tiefes Meer Wissen und Handeln, wie vier Beispiele belegen:

  • Immer mehr Klimaforscher bezweifeln, ob das Zwei-Grad-Ziel überhaupt noch zu erreichen ist. Auf eine solche Begrenzung der globalen Erwärmung hatten sich die Vereinten Nationen 2010 im mexikanischen Cancun verständigt. Dabei hätte ein solcher Anstieg schon katastrophale Folgen für die ärmsten Länder der Erde, die überwiegend in ökologisch sensiblen Regionen liegen und nicht über die finanziellen und technischen Mittel verfügen, sich gegen den Klimawandel nur halbwegs schützen zu können.
  • Welche Konsequenzen müssen wir aus dem Peak-Oil, dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Ölförderung, ziehen, der wahrscheinlich 2004 erreicht wurde? Energieforscher errechnen eine Reserve von 42 Jahren, bis der letzte Tropfen Öl verbraucht sei. Weit früher wird die Knappheit erhebliche Verteilungskonflikte auslösen. Durch Tiefseebohrungen und die Nutzung von Teersanden vergrößern sich die ökologischen Risiken. Auch hier treffen die Folgen zuerst die ärmsten Länder.
  • Was bedeutet es, dass der ökologische Fußabdruck, den die Menschheit hinterlässt, bereits so tief ist, dass im August das biologische Regenerationspotenzial eines Jahres verbraucht ist? Die Verursacher der Naturzerstörung sind höchst ungleich verteilt, die Folgen gehen in erster Linie zu Lasten der Armen.
  • Unser Land ist stolz auf ein hohes ökologisches Bewusstsein. Doch allein in den drei Städten Berlin, Hamburg und München ist der ökologische Fußabdruck so groß, dass er die gesamte Biomasse eines Jahres verbraucht, die in unserem Land produziert wird. Um ökologisch verträglich zu sein, müsste Deutschland statt 357.000 Quadratkilometer rund 4,4 Mio. Quadratkilometer groß sein. Dennoch werden immer mehr Vorstadtpanzer zugelassen. Audi, BMW und Mercedes machen dicke Geschäfte mit den SUVs.

Durch die nachholende Entwicklung der bevölkerungsreichen Schwellenländer spitzen sich die Gefahren rasant zu. So liegt der durchschnittliche Kohlendioxid-Ausstoß eines Chinesen bei 6 Tonnen pro Jahr, ein Amerikaner kommt dagegen auf 20 Tonnen des klimaschädlichen CO2. Dennoch ist das Reich der Mitte mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern bereits der größte CO2-Emittent der Welt, obwohl der Nachholbedarf noch immer sehr hoch ist, denn in China leben rund 500 Millionen Menschen am Rande oder unterhalb des Existenzminimums.

Quantität schlägt in eine neue Qualität des Naturverbrauchs um, die Auszehrung der Ökosysteme übersteigt deutlich ihre Regenerationsfähigkeit. Dennoch sind die Industriestaaten nicht nur wegen ihrer hohen Pro-Kopf-Werte, sondern auch wegen ihrer Altlasten noch lange Zeit die Hauptverursacher der Naturzerstörung. Sie haben eine besondere Verantwortung für den sozialökologischen Umbau, national wie global.

Ein Epochenbruch

Der Nobelpreisträger Ilya Prigione beschrieb treffend, dass der alte Bund zerbrochen ist: der Glaube an Wachstum, der in den letzten 150 Jahren als Grundlage und Voraussetzung des Fortschritts verstanden wurde. Die Ideen der europäischen Moderne, die durch die französische Revolution epochal wurden, haben die Entwicklung der Welt geprägt, aber vor 200 und mehr Jahren konnten sich die damaligen Ideengeber die heutige Welt mit ihrer hohen Bevölkerungszahl, ihrem gewaltigen Naturverbrauch oder ihren enormen technischen und ökonomischen Möglichkeiten nicht vorstellen. Insofern geht es um eine grundlegende Umgestaltung, ohne die großen Errungenschaften der Moderne wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit aufzugeben.

Wir erleben – um die Theorie von Karl Polanyi aus dem Jahr 1944 aufzugreifen – den dritten Teil der Großen Transformation. Am Anfang standen die industrielle Revolution und die Verselbständigung der Ökonomie durch die Herausbildung der Marktgesellschaft. Diese „Entbettung“ führte in die großen Katastrophen des letzten Jahrhunderts, bis sich die „Gegenbewegung“, die Idee des Wohlfahrtstaates, in der westlichen Welt durchsetzen konnte. Das war der zweite Teil der Großen Transformation. Mit Hilfe des wirtschaftlichen Wachstums kam es in den westlichen Staaten zu einem ungleichen Interessensausgleich zwischen Kapital und Arbeit. Die Gesellschaften wurden zusammengehalten, Wohlstand für alle. So konnten die Privilegien des Kapitals halbwegs sozial gebändigt werden.

Der erneute Umbruch begann in den siebziger Jahren, ausgelöst durch die inflationären Folgen des Vietnamkrieges, das Ende der Weltwirtschaft von Bretton Woods, die Ölpreissteigerungen und die anhaltende Deflation der britischen und amerikanischen Wirtschaft. Die neoliberale Ideologie, die von der britischen Regierungschefin Margret Thatcher und dem amerikanischen Präsident Ronald Reagan durchgesetzt wurde, bahnte dem Finanzkapitalismus den Weg. Mit der Liberalisierung und Deregulierung kam es zu einer erneuten Entbettung der Ökonomie aus sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Gelddealer übernahmen das Kommando, die Politik ließ sich in Geiselhaft nehmen. Heute geht es um den dritten Teil der Großen Transformation. Er muss die Grenzen des Wachstums beachten und global ausgerichtet sein.

Die Menschheit leidet nicht nur am Altersrheuma eines maroden Finanzsystems, sondern auch an den Geburtsschmerzen einer völlig neuen Ordnung, die bisher von Finanzgier, Substanzverzehr und Machtinteressen geprägt wird. Es bleibt nur die Alternative, den Prozess sozialökologisch zu gestalten oder die Folgen in aller Härte zu spüren. Bisher können sich die meisten Menschen nicht oder nur schwer vorstellen, wie eine Alternative zur Wachstumsgesellschaft aussehen kann. Es gibt kaum Erfahrungen mit wachstumslosen Perioden. Und die Erfahrungen aus früheren Epochen oder anderen Teilen der Welt sind weder attraktiv noch übertragbar. Deshalb dominieren noch immer überholte Denkweisen. Natürlich, wenn es etwas interessantes Neues wie green growth gibt, wird es mitgenommen - nicht als Alternative, sondern als zusätzliches Geschäftsfeld.
Von daher ist es bei aller Kritik an der Wachstumsabhängigkeit eine berechtigte Frage, wie eine Postwachstumsgesellschaft aussehen kann, die Wohlstand, Beschäftigung, soziale Sicherheit und Demokratie ermöglicht. Der Transformationsprozess muss neuen Fortschritt mit sozialer Sicherheit und Demokratie verbinden. Das ist eine große Herausforderung, zumal die Transformation in der Globalisierung eng mit der Neuordnung der Welt verbunden ist. Doch nicht nur in Deutschland und Europa, auch weltweit fehlen der Mut und die Bereitschaft, die sozialökologische Transformation unter den Bedingungen offener Märkte und großer Ungleichheit voranzutreiben. Die Superstaaten USA oder China wollen das nicht, die große Mehrzahl der Nationalstaaten kann das nicht, weil ihnen die Stärke fehlt.

Deshalb hat Wachstum noch immer einen zentralen Stellenwert, ist ein Ziel an sich, das die Politik zwingt, sich kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen unterzuordnen. Doch es ist mehr und mehr eine Party auf Kosten der Zukunft, der Natur und der Armen. Die spannende Frage heißt: Was wird aus Europa, wenn sein Modell nicht erneuert wird? Die Europäische Union, die bei der Selbstbehauptung Europas vorangehen müsste, ist uneinig, zerstritten und kaum handlungsfähig. Eine Politik zur Stärkung Europas und eine Weltinnenpolitik, die im Rahmen der Vereinten Nationen eine faire und gerechte, eine nachhaltige Weltordnung verwirklicht, sind nicht in Sicht.

Trotz des großen Handlungsdrucks werden nicht einmal erste Schritte gemacht. Die Re-Regulierung der Kapitalmärkte ist unabdingbar, aber sie kommt nicht voran. Die Macht der großen Finanzinstitute und Rating-Agenturen ist ungebrochen. Sie spielen sich als Herren der Welt auf. Unter ihrem Regime der Kurzfristigkeit soll alles privatisiert und dereguliert werden, um es dem freien Spiel der Märkte zu übertragen. Das Geschäftsmodell ist, bestimmt von kurzfristigen Verwertungszwängen, der möglichst billige Einsatz von Arbeit und Ressourcen durch die Externalisierung der Folgekosten.
Finanzgier sollte die Wachstumsraten in die Höhe treiben. Das Ergebnis dieses wirtschaftlichen Experiments ist katastrophal: spekulative Blasen wurden produziert, soziale Ungleichheit verschärft und ökologische Krisen ausgelöst. Zur Legitimation des Finanzkapitalismus jubelte die Internationale des Kapitals den Neoliberalismus zur Ideologie hoch. Soziale und ökologische Ziele spielen keine Rolle.

Ohne mehr Gleichheit kein Umbau

Die Welt steuert auf den Crash zu. Die ökologische Modernisierung könnte zumindest Zeit verschaffen und den Einstieg in den Umbau ermöglichen. Doch sie kommt nur mühsam voran, weil sie nicht als gesellschaftspolitische Reformstrategie und als Chance einer Stärkung Europas verstanden wird. Dafür muss es zu einem Bündnis sozialer und ökologischer Reformkräfte kommen, um die notwendige Breitenwirkung zu erreichen.

Die zentrale Herausforderung in den nächsten Jahren wird die Rückkehr und Zuspitzung der sozialen Frage sein, die ökologische Frage gehört dazu und muss hier eingeordnet werden – national wie international. Das ist der Kern der Nachhaltigkeit. Sie verbindet die ökologische Modernisierung mit mehr Gleichheit, Gerechtigkeit und Armutsbekämpfung. Und umgekehrt ist die Armutsbekämpfung eine wichtige Voraussetzung für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.

Nach John Rawls, dessen Gerechtigkeitstheorie allerdings die ökologischen Fragen ausgeblendet hat, sieht Fairness und Gerechtigkeit durch das Vorenthalten angemessener Freiheitsspielräume und Entfaltungschancen verletzt. Dieses Verständnis von Gerechtigkeit, das sich auf die ökologischen Herausforderungen übertragen lässt, findet sich in den UN-Programmen. Dort werden die nachhaltigen Entfaltungschancen der Menschen als wichtigstes Prinzip herausgestellt. Sie beziehen den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen mit ein, in den USA vertreten durch die Bewegung „Environmental Justice“.

Dahinter steht ein Verständnis von Gerechtigkeit, das weit über bisherige Strategien hinausgeht. In den letzten Jahrzehnten wurden die Verteilungskonflikte durch Wachstum entschärft. Dadurch gelang es, die westlichen Gesellschaften gleichsam wie einen Fahrstuhl nach oben zu heben. Das ist vorbei. Die sozialen Unterschiede nehmen nicht nur zwischen Nord und Süd zu, sondern auch in den Industriegesellschaften. Zudem muss Gerechtigkeit nicht nur die Einkommens- und Vermögensfragen beachten, sondern auch die Lebenschancen künftiger Generationen einbeziehen. Auf Dauer ist das nur möglich, wenn es zu einem nachhaltigen Entwicklungspfad kommt.

Die ökologische Modernisierung muss deshalb eng mit dem sozialen Umbau verbunden werden, wie dies die Leitidee der Nachhaltigkeit vorsieht. Dieses große Gestaltungsprojekt bezieht die Demokratisierung der Wirtschaft und die Erweiterung von Gerechtigkeit und Solidarität mit ein. Mehr Verteilungsgerechtigkeit muss die Auszehrung der Zukunft verhindern. Es geht um Maßstäbe und Prinzipien, die auf Dauer mehr Gerechtigkeit möglich machen, national, europäisch und global.

Der Umbau ist nicht nur eine technisch-ökonomische Herausforderung, sondern vor allem eine soziale und kulturelle Aufgabe. Bei der ökologischen Modernisierung geht es nicht nur um eine Steigerung der Effizienz, sondern auch um Suffizienz und Umbau. Maßhalten ist eine schwierige Aufgabe, nicht nur weil sich die Ungleichheit verstärkt, sondern weil immer wieder der Verdacht geäußert wird, dass ökologische Ziele die Ungleichheit verfestigen soll. Deshalb müssen die Industriestaaten sich ehrgeizige Minderungsziele vorgeben, finanzielle und technische Partnerschaften mit Entwicklungs- und Schwellenländer eingehen, neue Entwicklungspfade möglich machen und die Europäische Union zur Nachhaltigkeitsunion umbauen.

Global muss es bei den Vereinten Nationen zu einer Stärkung der Nachhaltigkeitsinstitutionen und zu einer Neuordnung der Weltwirtschaft kommen. Dazu zählen die Vorschläge von John Maynard Keynes für ein globales Energie- und Rohstoffregime, die in der Havanna-Charta beschrieben sind. Ebenso müssen die Empfehlungen im Gutachten des wissenschaftlichen Beirats „Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) für eine „Armutsbekämpfung durch Umweltpolitik“ aufgegriffen werden.

Wir sind an einer Weichenstellung, an der es um die Erneuerung der europäischen Moderne geht. Andernfalls drohen Gewalt, Ungleichheit und Krisen – national, europäisch und global.

 

Aus dem Jahrbuch Gerechtigkeit V. Download und weitere Informationen hier.

Literatur

Keynes, John Maynard. Economic Possibilitis for our Grandchildren. London 1930
Müller, Michael. Zur Ideengeschichte des Fortschritts. Berlin 2011
Müller, Michael / Johano Strasser. Transformation 3.0.. Berlin 2011
Polanyi, Karl. Die Große Transformation. Frankfurt am Main 1978
Politische Ökologie. Nach dem Wachstum. München 2010
Rawls, John. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 1979
Rockström, Johan et al.. A Safe Operating Space for Humanity. In: Nature 461. 2009
Sen, Amartya. Ökonomie für den Menschen. München 2000
WBGU. Armutbekämpfung durch Umweltpolitik. Berlin 2004
WBGU. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Berlin 2011