Alle lieben den Verrat, niemand den Verräter. Hat Edward Snowden richtig gehandelt?
Darüber wird die Geschichte entscheiden. Ohne Herrn Snowden und seine Bereitschaft die Abhörpraxis publik zu machen, wäre jedenfalls nie eine Debatte über die Grenzen von Sicherheit und Freiheit entstanden. Und wie dringend wir diese Debatte brauchen, zeigt der Umfang der Abhörpraxis, die sich hier offenbart.
Hat Sie das wirklich überrascht? Manche unterstellen der Politik nur gespielte Empörung.
Natürlich muss jedes Land um seine eigene Sicherheit besorgt sein. Das würde ich niemandem und mit Blick auf die Attentate am 11. September 2001 erst recht nicht den USA bestreiten. Aber in der Tat bin ich, was das Ausmaß angeht, überrascht. Und erst recht darüber, dass die Amerikaner sich offensichtlich die Freiheit genommen haben, auch Botschaften von Verbündeten und die offiziellen Vertretungen der europäischen Union abzuhören. In einer Atmosphäre des Misstrauens können die geplanten Gespräche über ein transatlantisches Freihandelsabkommen jedenfalls nicht geführt werden. Ich erwarte jetzt, dass die Amerikaner schnellstmöglich erklären, dass die Abhörung ihrer Freunde und Partner ab sofort beendet wird.
Unter Freunden spioniert man nicht – wie schwer ist das deutsch-amerikanische Verhältnis gestört?
Der größte Unsinn ist die Kommentierung des amtierenden deutschen Innenministers, jede Debatte darüber sei Anti-Amerikanismus. Es muss im Interesse der Amerikaner liegen, dass schnellstmöglich Transparenz über Umfang, Zweck und die Verwendung der erhobenen Daten hergestellt wird.
In der Türkei prügelt Erdogan die aufkeimende Zivilgesellschaft zusammen. Sollten die EU-Beitrittsverhandlungen ausgesetzt werden?
Die aktuellen Vorgänge in der Türkei sind doppelgesichtig. Da ist auf der einen Seite ein brutales Vorgehen gegenüber den Demonstranten, begleitet durch Erklärungen der Regierung, die jedes Verständnis vermissen lassen. Und da ist auf der anderen Seite eine erwachende Zivilgesellschaft, die nach Jahren der Erdogan-Regierung auf die Straße geht und in mehr als 60 Städten des Landes zeigt, wir lassen uns nicht in unser Privatleben hineinregieren. Das ist ein ermutigendes Zeichen. Weil die europäische Union nicht Regierungen, sondern Länder einlädt, fände ich es falsch gerade vor dem Hintergrund dieses Aufbruches, eine europäische Perspektive zu versagen. Nach meinem Eindruck würde eine Beendigung der Vertragsverhandlungen von den Menschen als Entmutigung verstanden.
Steinbrücks Schattenminister für Energie, Matthias Machnig, hat eine Wette laufen: Bei über 80 Prozent Wahlbeteiligung am 22. September liegt Rot-Grün vorn. Steigen Sie bei der Wette mit ein?
Matthias Machnig hat völlig recht: Wahlen werden immer weniger durch die Wähler entschieden, die sich die Parteien gegenseitig abjagen, sondern über die Frage, sie ihr eigenes Wählerpotenzial überhaupt erst an die Urne bringen. Eine hohe Wahlbeteiligung nutzt der SPD mehr als der CDU. Deshalb werden wir ohne Rast und Ruh unterwegs sein. Und wir werden den Wählern sagen, dass der von Merkel verordnete Stillstand und die Einschläferungspolitik, die wir seit vier Jahren erleben, ein Risiko ist, das dieses Land nicht länger ertragen kann.
Also schließen Sie sich der Wette an?
Ich bin bei politischen Dingen nicht der große Wettkönig, weil die Dinge meist etwas komplizierter liegen. Aber ich sage ihnen: Matthias Machnig hat Recht.
Die Umfragewerte der SPD kommen aus 20 Prozent-Keller nicht heraus. Wie ist die Devise für die nächsten 80 Tage: Augen zu und durch?
Klar, bei den Umfragen ist noch nach oben Luft. Die sind nicht so, wie wir uns das vorstellen. Aber die heiße Phase im Wahlkampf beginnt ja erst. Wahlkampf kommt von kämpfen. Und das können wir.
Die SPD sträubt sich gegen eine Koalition mit der CDU. Was wäre so schlimm daran?
Erstens, die große Koalition muss eine Ausnahme in der Demokratie bleiben. Zweitens, die große Koalition, die wir hinter uns haben, endete mit einem Ergebnis, das uns in die Opposition verfrachtet hat. Und deshalb sage ich, drittens, Wiederholung nicht geplant.
Sie sind nicht offizielles Mitglied des Kompetenzteams. Wollten Sie nicht?
Nein, das geht zurück auf ein ganz offenes Gespräch mit Peer Steinbrück über seinen Wunsch, das Kompetenzteam kleiner zu halten. Deshalb wurden jene, die ohnehin eine herausgehobene Position haben, nicht aufgenommen. Das ist völlig in Ordnung.
Hat es Sie sehr geärgert, dass Sie als Ministerpräsident von Brandenburg gehandelt wurden?
Es hat mich geärgert, dass ich zu einem Dementi gezwungen war, zu dem ich selbst keinen Anlass gegeben habe. Denn natürlich wollte ich meine Freunde in Brandenburg, wo ich Spitzenkandidat für die Bundestagswahl bin, nicht verunsichern. Ich vertrete Brandenburg aus ganzem Herzen in der Bundespolitik. Da ist mein Platz und dort bleibt er auch.
Die Flut hat schwere Schäden angerichtet. Warum zahlt der Bund offenbar lieber Milliarden in den Wiederaufbau statt ein paar hundert Millionen in Vorsorge?
Wir haben dieselbe Debatte ja schon 2002 geführt: Vorsorge durch Planungshoheit der Gemeinden, indem Baugebiete begrenzt werden, oder aber – wie wir es in Brandenburg gemacht haben – Umwidmung von Gebieten als Retentionsflächen. Vorsorge kann aber auch heißen, Versicherungsmöglichkeiten bereitzuhalten. Da sind wir in den letzten zehn Jahren nicht weitergekommen. Dieses Thema müssen wir noch einmal aufnehmen und diesmal die richtigen Schlussfolgerungen aus der Flut ziehen. Im Übrigen hat die SPD-Bundestagsfraktion den Fluthilfen zugestimmt – im Gegensatz zu CDU und FDP bei der Flut 2002.