Welt am Sonntag: Herr Steinmeier, das Bild der Woche kam aus Paris: Sie, Sigmar Gabriel und Peer Steinbrück bei Francois Hollande. Was verbindet einen Mann, der die SPD zur Agenda 2010 geführt und die Rente mit 67 durchgesetzt hat, mit dem französischen Sozialisten?
Frank-Walter Steinmeier: Unterschätzen Sie Francois Hollande nicht! Er ist kein Schaumschläger wie sein Vorgänger, und er hat den Zustand der französischen Wirtschaft und der Sozialsysteme klar im Blick. Das Land hat einen enormen Erneuerungsbedarf, und das weiß er genau. Ich habe Francois Hollande kennengelernt als jemanden, der Probleme nicht unter den Teppich schiebt, er ist klug, geduldig und zäh.
Hollande ist als erstes zur Rente mit 60 zurückgekehrt – wie er es im Wahlkampf versprochen hat. Kann die SPD von ihm lernen, wie man Wahlen gewinnt?
Francois Hollande hat sein Wahlversprechen erfüllt, aber anders als Sie unterstellen die Erhöhung des Renteneintrittsalters ja keineswegs generell rückgängig gemacht. In seinem Wahlkampf hat er die französische Öffentlichkeit davon überzeugt, dass die Inszenierung von Politik noch keine Politik ist. Er hat für die Einsicht gekämpft, dass politischer Fortschritt erarbeitet werden muss. Dafür steht er, und ich erwarte, dass sich das auch im Ergebnis der französischen Parlamentswahlen an diesem Sonntag niederschlägt.
Hannelore Kraft, die Düsseldorfer Wahlsiegerin, ist zur beliebtesten Politikerin aufgestiegen – vor Angela Merkel. Wie lange kann sie noch Nein sagen zur SPD-Kanzlerkandidatur?
Selbstverständlich gehört jemand, der in Nordrhein-Westfalen eine Regierung aus CDU und FDP zu Fall bringt und zwei Jahre später einen noch eindrucksvolleren Wahlsieg erringt, zur ersten Liga innerhalb der SPD…
… womit aus der Troika eine Quadriga wird.
Hannelore Kraft hat klar gesagt, dass sie in Nordrhein-Westfalen bleiben will und diese Diskussion nicht will. Ich finde, das sollten wir respektieren.
Klingt alles nicht nach dem perfekten Machtwechsel…
Im Gegenteil: Ihre Fragen zeigen doch, dass die SPD eine Reihe von Persönlichkeiten hat, denen die Menschen etwas zutrauen. In der Union kommt nach Frau Merkel nichts mehr. Und was die Inhalte anlangt: Wir sind auf die Regierungsübernahme vorbereitet.
Spüren Sie eine Anti-Merkel-Stimmung im Land?
Na, es hat sich doch Entscheidendes verändert. Nicht nur, dass die Union eine Landtagswahl nach der anderen verliert. Auch in der Europapolitik strahlt ihr Stern schon lange nicht mehr so hell. Im Übrigen: Es wird einsam um die Kanzlerin. Frau Merkel hat für 2013 keinen Koalitionspartner mehr. Eine Neuauflage der schwarz-gelben Koalition wird es nicht geben.
Zur Not gäbe es ja noch die Sozialdemokraten…
Die große Koalition liegt hinter uns, nicht vor uns. In der politischen Stimmung liegt jetzt erstmals seit langem die SPD vor der CDU. Es gibt gar keinen Grund für die SPD, sich kleinmütig in eine Koalition zu begeben, in der andere den Kanzler stellen. Deshalb noch einmal: Die CDU wird keinen Koalitionspartner haben, die SPD schon.
Wen meinen Sie außer den Grünen? Die Linkspartei?
Die rot-grüne Koalition hat in sieben Jahren Regierungszeit viel Aufbruch und Erneuerung erreicht – mehr, als man ihr anfänglich zugetraut hat. Und Schwarz-Gelb, das selbst ernannte Traumbündnis, hat nichts, aber auch gar nichts zustande gebracht. Ich bin dafür, dass wir an gute Erfahrungen anknüpfen und nach einer rot-grünen Mehrheit suchen…
… die sich aus keiner Umfrage ergibt.
Es gibt gute Chancen für Rot-Grün. Wir haben jedenfalls überhaupt keinen Grund, nach der Linkspartei als Mehrheitsbeschaffer zu schauen. Diese Partei war 2009 für uns kein Koalitionspartner, und in den letzten drei Jahren hat diese Partei alles unternommen, um sich als ernsthafter Partner in der Politik aus dem Spiel zu bringen. Eine Koalition mit der Linkspartei nach der nächsten Bundestagswahl ist ausgeschlossen.
Der Identitätskern der Grünen schmilzt. Der Kampf gegen die Atomkraft hat sich erübrigt…
Richtig ist: Die Grünen haben einen Teil ihres Gründungsauftrags abgearbeitet, indem sie - gemeinsam mit uns - eine gesellschaftliche Mehrheit für den Atomausstieg herbeigeführt haben. Aber sie haben sich in den letzten 15 Jahren thematisch erweitert. Ich denke zum Beispiel an die Europa- und Finanzpolitik.
Greifen Sie die Grünen im Wahlkampf an?
Die Grünen sind eine befreundete Konkurrenz der SPD. Es gibt Felder, in denen SPD und Grüne ähnlich denken. Aber es gibt auch deutliche Unterschiede. In der SPD hat sich das Bewusstsein aufrechterhalten, dass wir um die Basis einer erfolgreichen Volkswirtschaft kämpfen müssen. Wir sagen, dass die industrielle Basis in diesem Land erhalten bleiben muss. Auch im Kampf gegen den Klimawandel brauchen wir die vermeintlich alte Industrie. Nichts geht ohne Chemie, Stahl und andere Grundstoffindustrien. Der Erhalt dieser Wertschöpfungskette im eigenen Land ist das, wofür wir kämpfen. Er ist das Geheimnis unserer Innovationskraft und Grundlage unserer wirtschaftlichen Zukunft.
Die Grünen haben das nicht verstanden?
Die Grünen fordern eine ökologische Erneuerung der Wirtschaft – und schauen auf das Unternehmen, das die Nabe für das Windrad herstellt. Ich sage den Grünen immer: Ihr springt zu kurz. Gerade wenn ihr an die Herausforderungen der Zukunft denkt, müsst ihr auch an den Anfang der Wertschöpfungskette heran, dorthin, wo es raucht und stinkt.
In der großen Koalition haben Sie – das war unser Eindruck – gerne mit Angela Merkel zusammengearbeitet. Wie hat sich Ihr Verhältnis seither entwickelt?
Sie ist Regierungschefin, ich bin Oppositionsführer. Angela Merkel führt eine der schlechtesten Regierungen in der Geschichte der Bundesrepublik. Dafür kritisieren wir sie und bereiten uns auf die Regierungsübernahme vor. Wo es Berührungspunkte gibt, gehen wir sachlich und professionell miteinander um. Das gehört zu meinem Verständnis von Demokratie.
Bei der Euro-Rettung folgen Sie dem Kurs der Kanzlerin. Scheingefechte über den Fiskalpakt täuschen darüber nicht hinweg...
So hätten Sie es wohl gern. Sie betrachten Politik als ein großes Schlachtengemälde auf einer Volksbühne. Gerade die Auseinandersetzungen zeigen doch, dass nicht der eine führt und der andere folgt. Noch vor einem halben Jahr war mit dieser Bundesregierung über ein Wachstumsprogramm ebenso wenig zu reden wie über eine Besteuerung der Finanzmärkte. Die Regierung unterlag dem Missverständnis, dass man sich aus solchen Krisen einfach heraussparen kann. Jetzt sind wir zu einer Annährung gekommen, nach anderthalb Jahren Kampf. Nicht wir sind der Kanzlerin gefolgt. Sie ist europapolitisch mal wieder umgeschwenkt und hat unsere Position zu der ihren gemacht! Das passiert ja nicht zum ersten Mal.
Wann stimmt die SPD dem europäischen Fiskalpakt zu?
Vor der Einigung stehen Hürden. Eine wichtige – die Besteuerung der Finanzmärkte – ist beseitigt. Die Bundesregierung weiß aber, dass wir mehr erwarten. Die europäischen Strukturfonds müssen stärker für Investitionen genutzt werden. Die europäische Investitionsbank muss ertüchtigt werden zur Krisenintervention – mit einem höheren Eigenkapital. Außerdem müssen wir europäische Projektanleihen einführen, die gibt es bisher bisher nur als Pilotprojekt. Das reicht nicht aus.
Die Kanzlerin warnt vor einer Überforderung Deutschlands. Wo sehen Sie die Grenzen der Belastbarkeit?
Natürlich sind Deutschlands Möglichkeiten begrenzt. Und natürlich kann Solidarität keine Einbahnstraße sein. Aber das darf doch nicht zur Ausrede werden, um erneut rote Linien zu sehen, die am Ende nicht zu halten sind. Diese Politik von Frau Merkel hat uns in den gegenwärtigen Schlamassel gebracht. Eins ist klar: Wir leben nicht auf einer Insel der Seligen. Gerade wir als größtes und erfolgreichstes Exportland in Europa sind auf unsere europäische Nachbarschaft angewiesen. Es liegt in unserem Interesse, die Krisenstaaten zu stabilisieren.
Heißt konkret?
Die gegenwärtige Krise ist nicht nur eine Staatschuldenkrise. Sie ist auch eine Bankenkrise. Deshalb brauchen wir erstens ein Sofort-Programm zur Stabilisierung des Bankensystems. Dazu gehören auch konkrete Vorschläge zur Einlagensicherung, denn schon längst ist in vielen Ländern Europas ein schleichender Bankrun im Gang. Zweitens brauchen wir eine Lösung für das Altschuldenproblem. Erst wenn die Anleger wieder glauben, dass das Geld auch zurückgezahlt wird, bekommen die Staaten wieder Geld. Der deutsche Sachverständigenrat hat gesagt, wie das geht. Er schlägt einen Schuldentilgungsfonds vor, wie es ihn auch in Deutschland zur Finanzierung der deutschen Einheit gab. Alle Schulden über 60 Prozent der Wirtschaftsleistung werden in einen gemeinsamen Fonds eingebracht, für die Tilgung seines Anteils bleibt aber jeder Staat selbst verantwortlich. Ich erwarte, dass Deutschland sich endlich ernsthaft mit diesem Gedanken auseinandersetzt und ihn mit seinen europäischen Partnern diskutiert. Ohne ein solches Instrument wird die Krise am Ende nicht in den Griff zu bekommen sein.
An diesem Sonntag wählt Griechenland. Welche Folgen hätte ein Sieg der linken Sparkurs-Gegner?
Wir müssen uns auf neue, heftige Erschütterungen der Eurozone einstellen. Ich hoffe, dass Griechenland eine Regierung bekommt, die gewillt ist, die gemeinsame europäische Währung zu behalten und die dafür notwendigen Anstrengungen zu unternehmen.
Ist ein Verbleib der Griechen in der Eurozone wirklich die beste Lösung?
Viele glauben, mit dem Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro wäre in Europa alles wieder gut. In Wahrheit würden damit die größten Probleme erst beginnen – und das nicht nur in Griechenland. Eine Folge wäre die massive Entwertung des in Griechenland verbliebenen Vermögens. Was das für die politische Stabilität im Lande bedeutet, kann heute niemand sagen. Hinzu kommt: Wenn Akteure auf den Finanzmärkten mit der Strategie erfolgreich sind, Länder aus dem Euro herauszubrechen, hätte das schwere Folgen für die Währungsunion insgesamt. Das könnte eine Kettenreaktion auslösen.
Eine Prognose, bitte: Wer wird in zehn Jahren noch den Euro haben?
Wenn wir jetzt klug und mutig sind und das Richtige tun, werden es mehr als 17 sein.
Noch eine Prognose: Wer wird Fußball-Europameister?
Deutschland. Das sage ich von Anfang an. Nach der schiefgegangenen Generalprobe – 3:5 gegen die Schweiz – kann es gar nicht anders laufen. (lacht)