Der Tod von Boris Nemzow mahnt nicht nur Russland, sondern er mahnt die Verantwortlichen in Russland, dass es Sicherheit in einer Gesellschaft nur geben kann, wenn ein Klima des guten Umgangs und der Offenheit da ist, wo Regierung und Opposition um den richtigen Weg streiten, wo sich die Zivilgesellschaft frei und ohne Angst und ohne Repression bewegen kann und wo die Menschen ihre Bürgerrechte nutzen können. Daran gilt es zu arbeiten, und darüber gilt es mit russischen Kolleginnen und Kollegen sehr intensiv zu diskutieren.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Schüsse auf Boris Nemzow waren ein kaltblütiger und kalkulierter Mord. Dieser Mord macht es schwierig für eine friedliche Entwicklung in Russland, er macht es schwierig für einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess, der notwendig ist, und er macht es auch schwierig für uns, mit einem Russland umzugehen, in dem ein derartiges Klima herrscht.
Wir denken an Boris Nemzow heute, an seine Familienangehörigen, mit denen wir trauern, und an seine mutigen Mitstreiterinnen und Mitstreiter in Russland. Unser Mitgefühl ist bei ihnen. Boris Nemzow ist mit seinem Tod auch ein Opfer des in den letzten Jahren sich zunehmend verschlechternden Klimas geworden.
Die Vorredner haben darauf hingewiesen: wachsender Nationalismus, Wahrheiten, Unwahrheiten, Halbwahrheiten, Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten und der Medienrechte, die Unterdrückung von zivilgesellschaftlichen Bewegungen bis hin zu der Notwendigkeit, sich zu einem ausländischen Agenten zu erklären, wenn man bürgerrechtlichen Selbstverständlichkeiten nachkommen will. Hinzu kam der propagandistische und mediale Aufbau einer Mehrheitsmeinung, die diejenigen, die nur etwas abweichen, die Fragen stellen, die etwas infrage stellen, die andere Vorschläge haben, am Ende zu Staats- oder Volksfeinden erklärt.
Medienberichten nach soll der angesehene ehemalige Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin dazu gesagt haben, der Mord an Boris Nemzow zeige, dass die Gesellschaft krank vor Hass sei. Das sind Worte, die aus Russland selbst kommen und den Zustand beschreiben. Ich will mich nicht wie andere auch - es ist gut, dass wir das nicht machen - an irgendwelchen Spekulationen über mögliche Täter beteiligen. Die Aufklärung und die Strafverfolgung liegen bei den verantwortlichen Behörden in Russland selbst. Ich hoffe, dass die Aufklärung diesmal konsequenter und ergebnishaltiger erfolgt als bei den Morden im politischen Bereich, die wir in den vergangenen Jahren erlebt haben.
Auch deswegen stellt sich jetzt die Frage, die heute an uns alle gestellt wird: Welche Auswirkungen hat dies auf die Politik Russlands? Daran knüpft nämlich der Titel unserer heutigen Debatte an. Ich habe hier keine Glaskugel vor mir. Vielmehr glaube ich, wir müssen bei dem Versuch, dies zu beantworten, natürlich auf die Geschichte der letzten acht bis zehn Jahre zurückblicken. Aber ich will auch dazu sagen: Keiner von uns, auf beiden Seiten, kann behaupten, zu jeder Zeit an jedem Tag alles richtig und nichts falsch gemacht zu haben. Umso mehr knüpfe ich an dem an, was jetzt eine gute Grundlage ist, nämlich am Minsker Abkommen vom 12. Februar 2015. Dieses Abkommen sollte uns die Möglichkeiten geben, schrittweise in eine friedlichere Zukunft in Europa zu gehen. Das, was die vier Staatschefs, aus Frankreich, aus der Ukraine, aus Russland und die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel, unterzeichnet haben, ist eine gute Grundlage als Ergänzung zu dem Maßnahmenpaket und als Hilfe zu dessen Umsetzung.
Weil das die erste Debatte dazu ist, die wir nach dem 12. Februar 2015 führen, will ich an dieser Stelle der Bundesregierung, der Bundeskanzlerin, dem Bundesaußenminister einen großen Dank sagen für die Beharrlichkeit der Bemühungen, hier eine neue Vereinbarung zustande zu bringen, die eine gute Grundlage für eine friedlichere Entwicklung bietet.
In dieser Vereinbarung heißt es unter anderem: Die Staats- und Regierungschefs bekennen sich unverändert zur Vision eines gemeinsamen humanitären und wirtschaftlichen Raums vom Atlantik bis zum Pazifik auf der Grundlage der uneingeschränkten Achtung des Völkerrechts und der Prinzipien der OSZE.
Das ist das, was wir mit russischen Kolleginnen und Kollegen diskutieren müssen: Wie soll das ausgefüllt werden? Was bedeutet das konkret für uns? Wie stärken wir gemeinsam die OSZE? Wie kommen wir gemeinsam dazu, diese Vorstellungen auch umzusetzen? - Das ist nicht nur eine Frage von Putin. Dies ist auch eine Frage für die Parlamentarier, dies ist eine Frage, die ebenso in die Gesellschaften hinein gestellt werden muss.
Das bedeutet, neues Vertrauen zu entwickeln, und das bedeutet, daran zu arbeiten, wie wir es jetzt in der OSZE machen, wenn wir Ende dieses Monats in der Pfalz mit ukrainischen Kollegen, mit russischen Kollegen, mit deutschen Kollegen, mit französischen Kollegen zusammenkommen und auch vor dem Hintergrund von Kriegserfahrungen diskutieren, wie sich eine friedlichere Zukunft entwickeln kann. Vielleicht setzen wir das im Herbst in der deutsch-dänischen Grenzregion fort.
Das bedeutet auch, mehr Besuche zu organisieren, mehr Diskussionen mit Parlamentariern durchzuführen. Das bedeutet, gemeinsame Interessen auszuloten, damit wieder Kalkulierbarkeit entsteht, damit man weiß, was der andere denkt und wie der andere denkt und welche Zukunftsperspektiven man hat und wie Konflikte friedlich gelöst werden können. Eigentlich sollte das im 40. Jahr nach Helsinki eine der Hauptaufgabe sein, die zu erfüllen ist.
Die 6 000 deutschen Unternehmen, die gut 1 000 deutsch-russischen Schulpartnerschaften, die 90 deutsch-russischen Städtepartnerschaften, die Weiterentwicklung des Petersburger Dialoges, all das können gute Grundlagen sein, die auch nicht aufs Spiel gesetzt werden dürfen. Deswegen bin ich sehr dafür, dass auch die Hindernisse ausgeräumt werden. Das ist jetzt keine Idee nur von den Kolleginnen und Kollegen der Linken oder auch der Grünen. Vielmehr waren wir Außenpolitiker uns alle gemeinsam einig; schließlich haben wir schon in den vergangenen Jahren in einer Arbeitsgruppe gemeinsam dafür gearbeitet, dass Visaliberalisierung und Visafreiheit stattfinden müssen, damit die Menschen kennenlernen können, wie Gesellschaften funktionieren, damit man unterschiedliche Wahrheiten und unterschiedliche Sichtweisen kennenlernt.
Der Tod von Boris Nemzow mahnt nicht nur Russland, sondern er mahnt die Verantwortlichen in Russland, dass es Sicherheit in einer Gesellschaft nur geben kann, wenn ein Klima des guten Umgangs und der Offenheit da ist, wo Regierung und Opposition um den richtigen Weg streiten, wo sich die Zivilgesellschaft frei und ohne Angst und ohne Repression bewegen kann und wo die Menschen ihre Bürgerrechte nutzen können. Daran gilt es zu arbeiten, und darüber gilt es mit russischen Kolleginnen und Kollegen sehr intensiv zu diskutieren.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.