Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist erfreulich, dass nach Jahren der Krise das Wachstum in der Europäischen Union wieder Fahrt aufnimmt, die Beschäftigung steigt und auch der Zuspruch der Menschen zur EU in den Mitgliedstaaten wieder wächst. Allerdings dürfen wir uns nichts vormachen: Das Grundvertrauen in die Europäische Union als Garant für Wohlstand, für Sicherheit und auch für Wachstum ist noch lange nicht wiederhergestellt, und es wird auch nicht von alleine wiederhergestellt. Wir müssen mehr tun, um den Zusammenhalt und das Vertrauen in Europa zu stärken, und das auf verschiedenen Ebenen.
Die Bundeskanzlerin hat gerade etwas zu der Sicherung der Außengrenzen gesagt. Ich finde, das war sehr richtig, insbesondere was die personelle Verstärkung angeht. Dieser Aspekt der äußeren Sicherheit muss aber von einem wichtigen zweiten Aspekt begleitet werden. Wir müssen uns auch um die Ungleichheit der Lebensverhältnisse in Europa kümmern. Wir haben damals, als Trump in den USA zum Präsidenten gewählt wurde, viele Analysen über die Gründe gehört. Darin wurde insbesondere als einer der Gründe genannt, dass die Ungleichheit der Lebensverhältnisse im Rust Belt zu Unzufriedenheit und Gewalt geführt hat.
Die Situation in Europa ist ungleich schlimmer. Denn die Ungleichheit der Lebensverhältnisse in Europa ist weitaus größer als in den USA. Ich möchte das an einer Zahl deutlich machen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf beträgt in Bulgarien 5 500 Euro im Jahr; in Luxemburg beträgt es 81 000 Euro. Oder nehmen wir die Arbeitslosigkeit: Die Arbeitslosenquote reicht von 2,3 Prozent in der tschechischen Hauptstadt bis 20,7 Prozent in Griechenland.
Ich glaube, dass es diese Ungleichheiten sind, die den Zusammenhalt in Europa immer wieder neu gefährden. Deswegen muss es eine wichtige Priorität für uns sein, dass wir wieder näher zusammenkommen und diese Ungleichheit überwinden.
Das ist auch im ureigensten Interesse Deutschlands und übrigens auch im ureigensten Interesse der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Denn eines möchte ich ganz klar sagen: Wenn Armutswanderung in vielen Städten in Deutschland ein großes Thema ist und wir es mit Armutsmigration und Lohndumping zu tun haben, dann ist es auch in unserem eigenen Interesse, etwas dafür zu tun, dass es anständige Löhne und anständige soziale Bedingungen in allen anderen europäischen Ländern gibt.
Ich denke, dass dabei ein besonderes Augenmerk auf die Jugendarbeitslosigkeit gelegt werden muss, und sie wird auch auf der Tagesordnung des bevorstehenden Treffens stehen. Wir können nämlich noch immer kein Signal der Entspannung heute aus diesem Bereich senden.
Wir haben in Griechenland eine Jugendarbeitslosigkeit von 40,8 Prozent, in Spanien von 36,8 Prozent und in Italien von 32,2 Prozent. Und wir müssen feststellen:
Wir haben zwar in den letzten Jahren hier investiert, aber es hat Jahre gebraucht, bis das europäische Geld auch tatsächlich bei den jungen Leuten in den jeweiligen Ländern angekommen ist. Ich fordere nicht nur eine Verstetigung der Mittel. Vielmehr brauchen wir in der Europäischen Union bessere Verfahren, um schneller auf Krisen reagieren zu können. Auch das muss Thema sein, wenn nun die Staats- und Regierungschefs sich treffen und über den zukünftigen Finanzrahmen reden. Da geht es auch darum, wie wir in der Europäischen Union auf Krisen besser reagieren können. Hier gibt es einiges zu tun.
Um den sozialen Zusammenhalt zu stärken, brauchen wir aber auch faire Regeln. Wir wollen kein Lohndumping. Wir brauchen einen Rahmen für Mindestlöhne. 235 Euro im Monat beträgt zurzeit der Mindestlohn in Bulgarien, während er in Luxemburg bei 2 000 Euro im Monat liegt. Ich bin weit davon entfernt, entspannt zu sein, wenn ich mir die sozialen Sicherungssysteme in der Europäischen Union anschaue. Es gibt viele Länder, die keine Sozialhilfe wie wir bzw. keine Existenzsicherung haben. Die Situation ist in den letzten Jahren nicht besser, sondern schlechter geworden. Wir wollen nicht, dass die Europäische Union Sozialhilfe zahlt; das müssen die Länder schon selbst machen. Aber wir müssen im europäischen Recht verankern, dass jeder Mitgliedstaat ein funktionierendes Sozialrecht auf Existenzsicherung schaffen muss und dass dieses Recht regelmäßig angepasst wird; denn nur so können wir Armutsmigration und Arbeitsmarktzuwanderung verhindern.
Es ist außerdem sehr sinnvoll, den Aufbau von Mindestlohnsystemen zu organisieren. Es geht nicht darum, dass wir einen einheitlichen Mindestlohn vorgeben, sondern um einen Rechtsrahmen, innerhalb dessen sich die Mindestlöhne bewegen.
Wir haben zudem für faire Regeln zu sorgen, wenn es um das Thema Steuerdumping geht. Wir müssen dem Steuerdumping endlich die Grundlage entziehen. In Deutschland und im restlichen Europa hat kein Mensch Verständnis dafür, dass Brüssel alles Mögliche regelt, dass aber in dieser Frage seit Jahren nichts erreicht wird. Deutschland muss hier wesentlich mehr Druck machen, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist.
Im Übrigen setzen wir uns für eine Sitzverlagerungsrichtlinie ein; denn es ist genauso wenig akzeptabel, dass die Verlagerung des Unternehmenssitzes dazu führt, dass Mitbestimmungsregeln unterlaufen werden, wie es gerade in Deutschland bei der Fusion von Thyssen und Tata passiert, um ein konkretes Beispiel zu nennen. Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden.
Bei der Steuerpolitik in Europa geht es aber auch um ein gemeinschaftliches Wettbewerbsmodell, das auf der Basis der sozialen Marktwirtschaft fußt. Unser Rechtsstaat kann aus meiner Sicht bestimmte Praktiken von Staatskonzernen oder Monopolisten – ob sie nun aus China oder aus Kalifornien kommen – nicht akzeptieren. Das wichtigste Bollwerk gegen solche Praktiken sind die Europäische Union und eine gemeinsame, abgestimmte Steuerpolitik auf der europäischen Ebene. Wir brauchen eine Stärkung des Zusammenhalts, um unser Modell der sozialen Marktwirtschaft in Europa gegen permanente Angriffe zu verteidigen und unseren Sozialstaat vor der Unterminierung seiner Grundlagen zu schützen.
Wenn wir das alles zusammenfassen, kommen wir zu dem Schluss: Wir brauchen eine klare Neuausrichtung der Europapolitik. Das hat uns geleitet, als wir den Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD geschlossen haben. Wenn die Mitglieder der SPD und der Parteitag der Union zustimmen, dann wird das ein starkes Signal an unsere europäischen Partner und insbesondere an unsere französischen Freundinnen und Freunde sein. Denn im Rahmen dieses Koalitionsvertrages ist nichts weniger als eine neue Europapolitik verabredet worden: ein Investitionshaushalt und kein Sparhaushalt, ein entschlossenes Vorgehen gegen Steuerdumping, ein entschlossenes Ja zu sozialen Mindeststandards und Grundsicherungssystemen sowie ein klares Bekenntnis zur Sicherung der Mitbestimmung.
Das alles zusammen leitet eine neue Europapolitik ein. Das ist wichtig und ein zentrales Signal, das wir dem nun bevorstehenden Rat senden.
Ich möchte noch auf einen anderen Punkt eingehen, der ebenfalls Gegenstand der morgigen Beratungen in Brüssel sein wird. Wir brauchen eine Stärkung der demokratischen Legitimation und der Institution. Dabei gibt es aus meiner Sicht wertvolle Impulse aus dem Europäischen Parlament. Wichtig ist das zur Diskussion stehende Spitzenkandidatenprinzip, wonach sich nur dann jemand um das Amt des EU-Präsidenten bewerben kann, wenn er zuvor Spitzenkandidat in der europäischen Parteienfamilie war. Das war bei der letzten Europawahl noch umstritten.
Ich freue mich, dass das mittlerweile von vielen anderen, auch vom konservativen Teil der europäischen Parteienfamilie, so gesehen wird. Nach dem Brexit geht es jetzt auch um die Frage einer neuen Bewertung der freiwerdenden Mandate. Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass es zu transnationalen Listen kommt. Bedauerlicherweise hat die EVP-Fraktion dies für 2019 unterbunden, indem sie ihre Zustimmung dazu verweigert hat. Ich glaube aber, dass die Zukunft Europas auch darin liegt, dass es gemeinsame europäische Listen mit Kandidaten aus verschiedenen Mitgliedstaaten gibt und dass das zu einer Stärkung der demokratischen Legitimation des EU-Parlaments und der europäischen Parteienfamilie gehört.
Ich bin sicher, dass wir das in Zukunft erreichen müssen und auch erreichen werden. Es ist klar: Es geht wirklich darum, dass wir uns für die nächsten Jahre auf der europäischen Ebene etwas vornehmen. Das Vertrauen muss wieder wachsen. Das bedeutet auch, dass man auf Herz und Nieren prüft, wo der Zusammenhalt gestärkt werden kann, wo sich Institutionen weiterentwickeln müssen und wo wir schlicht und ergreifend eine neue Politik brauchen. Ich bin zuversichtlich, dass es dafür mit dem neuen Koalitionsvertrag eine gute Grundlage gibt. Ich freue mich auf die Umsetzung dieser politischen Vereinbarung.
Vielen Dank.