Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Allgemeinen – das wissen Sie – gehöre ich zu den eher gelassenen Menschen dieser Republik. Aber, so befürchte ich, diese Regierung und auch diese Regierungsfraktionen bringen in den nächsten Minuten mein Selbstbild in Gefahr. Ich kann jedenfalls nicht gelassen bleiben, wenn ich sonntagabends vor dem Fernseher sitze und mir anschaue, worüber sich diese Koalition angeblich einig ist. Das macht mich wieder und wieder fassungslos.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Da werden zum einen die wirklich wichtigen Themen der Koalition umschifft. Die FDP muss zur Kenntnis nehmen, dass über den Mindestlohn auf dem CDU-Bundesparteitag entschieden wird, nicht aber in der Koalition. Stattdessen werden dann Notfallkoffer gepackt. Da sind Trostpflästerchen und Placebos drin. Für die siechende FDP gibt es eine kleine Vitaminspritze in Form von Steuersenkungen, immerhin in der Größenordnung von 6 Milliarden Euro, und für die CSU gibt es eine familienpolitische Beruhigungspille für 2 bis 3 Milliarden Euro. So kauft man vielleicht ein paar Wochen Ruhe in der Koalition, aber gesund wird diese Koalition dadurch nicht. Das ist rausgeschmissenes Geld.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind nicht mehr an den Menschen dran! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Diese Rede ist unter Ihrer Würde, Herr Steinmeier!)
Das vorab.
Sie ahnen, dass ich mich heute nicht deshalb zu Wort gemeldet habe; vielmehr habe ich ehrlich die Sorge, dass wir in der Debatte um das Betreuungsgeld so tun, als sei das eine der vielen familienpolitischen Debatten hier im Hause, in der es die einen so sehen, die anderen es anders sehen und alles gangbare Wege sind. Meine Damen und Herren, ich habe mich deshalb zu Wort gemeldet, weil ich fest davon überzeugt bin, dass das, was wir heute Nachmittag hier diskutieren, eine andere Qualität hat. Was Sie mit dem Betreuungsgeld auf den Weg bringen wollen, ist finanzpolitisch, familienpolitisch, integrationspolitisch, frauenpolitisch und auch wirtschaftspolitisch Unsinn. Das ist eine verhängnisvoll falsche Weichenstellung für die Zukunft.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Ich habe mich auch deshalb zu Wort gemeldet – das in allem Ernst –, weil ich ahne, dass das auch viele in Ihren Reihen ganz genauso sehen. Und ich habe mich zu Wort gemeldet, weil ich Sie bitten möchte, diesen verhängnisvoll falschen Weg nicht zu gehen und auch nicht mitzugehen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Das fängt aus meiner Sicht damit an, dass wir ehrlich über das streiten, worum es wirklich geht. Ihre Ministerin sagt, sie wolle den Frauen Anerkennung zollen, die sich entscheiden, zu Hause bei den Kindern zu bleiben. Schon das ärgert mich maßlos, weil sie so tut, als wolle irgendjemand in diesem Hause diesen Frauen Anerkennung verweigern. Niemand will das. Es würde in der Debatte schon helfen, wenn Sie aufhören würden, mit dieser Unterstellung zu arbeiten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Haben Sie es eigentlich verstanden?)
Für mich geht es um ganz etwas anderes. Es geht für uns darum, dass die Weichen an dieser entscheidenden Stelle jetzt nicht falsch gestellt werden. Es geht darum, dass wir mit der Einführung eines Betreuungsgeldes nicht Chancen aufs Spiel setzen, vor allem Chancen der Kinder, die der Betreuung in öffentlichen Einrichtungen am dringendsten bedürfen. Das darf nicht geschehen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Sie aber sind dabei, genau das zu tun. Ich behaupte, Sie wissen es sogar. Sie wissen es; denn ich habe Ihren Rednern und Rednerinnen in der vergangenen Woche genau zugehört. Da haben sie nicht über das Betreuungsgeld geredet – ganz ehrlich –; vielmehr haben wir miteinander geredet auf zahllosen Veranstaltungen, Festakten, Kongressen, Tagungen. Anlass war: 50 Jahre Anwerbeabkommen Deutschland/Türkei. Da waren Redner von Ihnen, Redner von uns; keiner hat vergessen, den Dank gegenüber denjenigen abzustatten, die von weither gekommen sind und am Wohlstand dieses Landes mitgearbeitet haben. Keiner hat auch den Hinweis vergessen, dass uns auf der Wegstrecke der letzten 50 Jahre Integration nicht restlos geglückt ist, dass da Defizite geblieben sind, an denen wir arbeiten müssen – das haben auch Ihre Leute immer wieder gesagt –, und dass wir bei der Aufarbeitung dieser Defizite nur dann erfolgreich sein werden, wenn es uns gelingt, diese Kinder endlich mit gleichen Chancen – das heißt auch, gleichen Sprachkenntnissen – in die Schule zu bringen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Wer das aber alles richtig findet, der muss doch dann auch den nächsten Schritt gehen und sagen, dass das ohne frühkindliche Betreuung, ohne Betreuung in Kitas und Kindergärten, nicht funktioniert. Das haben Sie auch in allen öffentlichen Reden landauf, landab in der vergangenen Woche gesagt. Und dann, nicht zwei Jahre später, nicht zwei Monate später, sondern am Sonntag derselben Woche, nachdem zahllose Reden dieser Art gehalten worden sind, entscheiden Sie genau das Gegenteil.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Unsinn, was Sie da erzählen! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sie haben es doch immer noch nicht verstanden!)
Dann entscheiden Sie sich für einen finanziellen Anreiz, der dazu führen wird – das garantiere ich Ihnen –, dass viele von denen, die es dringend nötig hätten, aus Kitas ferngehalten werden, und das ist der falsche Weg.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Es ist der falsche Weg. Sie haben dieselben Zahlen zur Verfügung wie ich.
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Nein!)
Sie führen dieselben Gespräche mit den Bürgermeistern und Oberbürgermeistern von CDU-regierten Städten, die Ihnen alle dasselbe sagen.
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Sie wissen ja gar nicht, wovon Sie reden!)
Was die FDP anbelangt, so darf ich Ihnen die Aussage von Miriam Gruß aus dem Jahr 2008 im Bundestag zitieren: Mit dem Betreuungsgeld verstärken wir den Teufelskreis, in dem Kinder, die von zu Hause keine Chance auf frühe Bildung … haben, vom Kindergarten ausgeschlossen werden …
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das ist schon drei Jahre her!)
Meine Damen und Herren, ich will ja nur daran erinnern, dass wir in der Debatte zu diesem Thema hier in diesem Haus miteinander schon einmal etwas weiter waren. Ich will nicht zurück in eine Zeit, in der ein Franz-Josef Wuermeling von der „gemeinschaftszersetzenden Berufstätigkeit der Frau“ sprach. Das kann nicht sein. Dahin wollen wir nicht zurück.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wenn Sie wirklich etwas für die Kinder tun wollen, dann nehmen Sie das Geld, über das Sie am vergangenen Wochenende geredet haben, und geben es dorthin, wo es dringend benötigt wird: in die Schaffung von Plätzen in Kindertagesstätten.
Ich sage Ihnen noch: Sorgen Sie vor allem dafür, dass in den neuen Kitas schließlich Erzieher arbeiten werden. Darum geht es nämlich.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Eduard Oswald: Bitte kommen Sie zum Schluss.
Das muss der Weg sein. Deshalb sagen wir Nein zu den von Ihnen entschiedenen Maßnahmen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)