SPD-Fraktionsvizin Carola Reimann verwies darauf, dass die Große Koalition mit dem Gesetzentwurf das Thema Zeitpolitik ins Rampenlicht rücke und damit Zeitprobleme von Pflegenden deutlich mache.

Guten Morgen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Erst in der letzten Woche haben wir das Elterngeld Plus als wichtigen Baustein für eine bessere Vereinbarkeit von Kindern und Beruf hier im Bundestag verabschiedet. Heute legen wir den nächsten Gesetzentwurf vor, diesmal zur besseren Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Wir rücken damit das Thema Zeitpolitik erneut in das politische Rampenlicht und machen die Zeitkonflikte deutlich, die viele von uns Tag für Tag fast zerreißen.

 

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht nur eine Herausforderung für Eltern. Den täglichen Spagat zwischen Pflichten als Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer auf der einen Seite und der Verantwortung für die Angehörigen auf der anderen Seite müssen auch Beschäftigte bewältigen, die pflegen. Mehr als 2,5 Millionen Menschen sind pflegebedürftig. Sieben von zehn, also 70 Prozent, werden zu Hause gepflegt, auch oder ausschließlich von ihren Angehörigen. Deshalb sind Familien, wie gern gesagt wird, der größte Pflegedienst der Nation. Das sage ich ohne Wertung und ohne das gegen die professionelle Pflege ausspielen zu wollen.

Für Pflegende stellt sich aber das Vereinbarkeitsproblem sogar verschärft; denn der Pflege des Partners oder der Eltern fehlt das Niedliche, das Hoffnungsfrohe, das Eltern, die ihre kleinen Kinder auf dem spannenden Weg ins Leben begleiten, täglich erleben. Es ist schwer, dem eigenen Ehemann nach einem Schlaganfall bei den kleinsten Verrichtungen helfen zu müssen. Es ist fast unerträglich, die demente Mutter in das Reich des Vergessens entgleiten zu sehen. Kollegin Scharfenberg, Demenz ist in der Tat nicht immer von Anfang an mit einer Pflegestufe versehen, aber in schweren Fällen sehr wohl.

(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen die schon ganz schön schwer sein!)

Sechs von zehn Pflegenden geben an, dass sie die Pflege sehr viel von ihrer eigenen Kraft kostet. Drei von zehn fühlen sogar die eigene Gesundheit beeinträchtigt. Das ist der alarmierende Befund der aktuell vorgelegten Pflegestudie der Techniker Krankenkasse.

Zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf – eine große Herausforderung – hat unsere Gesellschaft – da gebe ich Ihnen recht – bislang noch keine ausreichenden Antworten gegeben. Ja, Beschäftigte haben Anspruch auf eine zehntägige Auszeit für Pflege, aber dieser Auszeit fehlte bislang der Lohnersatz, weil wir das in der letzten Großen Koalition so nicht beraten konnten. Ich finde gut, dass jetzt beide Koalitionspartner dahinterstehen und das für richtig halten; denn viele konnten diese Pflegezeit in der Tat deshalb nicht nehmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Familienpflegezeit von Kristina Schröder aus der letzten Legislaturperiode war sicher gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Angesichts der 135 Fälle pro Jahr ist klar, dass das bei 3,5 Millionen Leuten, die in unserem Land pflegen, kaum inAnspruch genommen wurde, weil den Beschäftigten der Rechtsanspruch fehlte. Ferner haben sie diese Hilfe nicht leisten können, weil es keine Lohnersatzleistung gab.

Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf erleichtern wir diese Vereinbarkeit. Die zehnjährige Pflegezeit– Entschuldigung, natürlich die zehntägige Pflegezeit – statten wir mit einem Lohnersatz aus. Es wird hier der Eindruck erweckt, die zehn Tage reichen so gar nicht, es müssen eher zehn Jahre sein. So ist das ist bei mir angekommen. Deswegen der Versprecher. – Diese zehn Tage sind dafür da, um Krisen und Pflegesituationen, die sich nicht so entwickeln, wie man es erwartet hat, abzudecken. Sie sind für eine Unterstützung in einer Notfallsituation gedacht. Das Pflegeunterstützungsgeld erlaubt es jetzt den Pflegenden, sich einigermaßen frei von finanziellen Nöten auf das Organisatorische und die Unterstützung ihrer Angehörigen zu konzentrieren. Das ist eine echte Verbesserung.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Auf die Familienpflegezeit bekommen die Beschäftigten einen Rechtsanspruch, damit sie diese Familienpflegezeit auch tatsächlich in ihren Betrieben und Behörden durchsetzen können. Die Möglichkeit, ein Darlehen zu bekommen, verbessert die Inanspruchnahme. Das hilft den Beschäftigten. Weil wir die Gewährung des Darlehens zu einer öffentlichen Aufgabe machen, helfen wir auch den Arbeitgebern.

Mit unseren beiden Gesetzesinitiativen, einmal zum Elterngeld Plus, zum anderen mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf, verabschieden wir uns natürlich auch noch ein Stück weit mehr vom Alleinverdienermodell und kommen in der Realität der Gegenwart unserer Familien an; denn die meisten Frauen wollen mehr als Kinder, Küche und Kanüle. Auch immer mehr Männer wollen mehr familiäre Verantwortung übernehmen und übernehmen sie auch – für ihre Kinder, für ihre Partnerin und auch für ihre Eltern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Für sie, Frauen wie Männer, wollen wir Wege aufzeigen, wie sie Beruf und familiäre Aufgaben unter einen Hut bekommen können, ohne daran selbst zu zerbrechen.

Auch die Wirtschaft wird von unseren neuen gesetzlichen Regelungen profitieren; denn es geht nicht darum, den Ausstieg aus Erwerbsarbeit zu organisieren, sondern ganz im Gegenteil: Es geht darum, dass Beschäftigte den Spagat zwischen Erwerbsarbeit und der Pflegeverantwortung besser bewältigen können und im Job bleiben. Das gelingt heute noch zu selten. Von den nicht erwerbstätigen Pflegenden hat jeder neunte seine Arbeit aufgegeben. Viele gehen wegen der Pflege von Angehörigen früher in Rente. Uns geht es deshalb auch darum, dass die Beschäftigten mithilfe der neuen Regelungen leichter im Job bleiben können und als Fachkräfte ihren Unternehmen erhalten bleiben.

Mir persönlich sind zwei Aspekte noch besonders wichtig. Wir regeln erstmals eine Auszeit für Sterbebegleitungen. Wenn Eltern und Partner im Sterben liegen, bekommen die Angehörigen das Recht, bis zu drei Monate ganz oder teilweise aus dem Job auszusteigen. Das ist für viele eine wichtige Hilfe.

Gestern haben wir hier intensiv über mögliche rechtliche Regelungen zur Sterbehilfe und Sterbebegleitung diskutiert. Dabei ist in ganz vielen Reden auf die Angst Sterbender vor Einsamkeit und die Bedeutung der menschlichen Begleitung hingewiesen worden. Deshalb ist es konsequent, dass wir die Begleitung von Angehörigen mindestens von der rechtlichen Seite her leichter machen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir modernisieren mit dem vorliegenden Gesetzentwurf den Angehörigenbegriff. Künftig können auch Stiefeltern, Schwägerinnen, Schwäger und gleichgeschlechtliche Partnerinnen und Partner die Familienpflegezeit in Anspruch nehmen. Auch diese Lösung orientiert sich stärker an der Lebenswirklichkeit.

Ich persönlich würde mir wünschen, dass wir bei den Angehörigen noch einen weiteren Schritt machen, nämlich dass wir auch Freunde und Nachbarn unterstützen, wenn sie die Pflege anderer auf sich nehmen. Diese Bereitschaft ist vorhanden. Hilfenetzwerke im Freundeskreis oder in der Nachbarschaft nehmen an Bedeutung zu. Um das festzustellen, muss ich nur den Blick in mein eigenes Büro richten: Die Mütter meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wohnen in Hamburg, im Ruhrgebiet, in Bayern; meine eigene Mutter wohnt in Nordrhein- Westfalen.

Das tägliche Kümmern, das tägliche Nach-dem-Rechten-Sehen können wir gar nicht allein leisten. Das übernehmen in allen Fällen gute Nachbarn und Freundinnen. Dieses Engagement von Nachbarn und Freundinnen, insbesondere bei gesundheitlichen Krisensituationen – da ist das Pflegeunterstützungsgeld angesprochen worden – würde ich gern nicht nur im Rahmen von Reden zum bürgerschaftlichen Engagement loben, sondern auch wirklich unterstützen;

(Beifall der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

denn für die Pflegeverantwortung ist nicht der Verwandtschaftsgrad entscheidend, sondern die Bereitschaft, ihr verlässlich nachzukommen.
Danke.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)