Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht nur wir, sondern ganz Europa wird heute Morgen nach Karlsruhe geschaut haben. Die Entscheidung ist, vermute ich, in ihrer Bedeutung für die Zukunft Europas überhaupt nicht zu unterschätzen. Wir ahnen wahrscheinlich alle miteinander, welche Last auf dem Gericht und den Richtern in den letzten Tagen gelegen hat.

Ich will es einmal so sagen: Politisch können und müssen wir über den richtigen Weg aus der europäischen Krise streiten. Aber wir müssen es auf verfassungsrechtlich gesichertem Grund tun. Diese Klarheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir seit heute wieder, und das ist gut an der Entscheidung.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin froh über diese Entscheidung, weil sie erstens den Weg für den Start des ESM freimacht, weil sie zweitens die Parlamentshoheit über den Haushalt bestätigt, weil es dadurch drittens keine Entscheidung im Rahmen des ESM geben darf, die die Haftung Deutschlands verändert, und weil dadurch viertens – wir haben in den Verhandlungen über Fiskalpakt und ESM darum gekämpft – das Informationsrecht des Bundestages, so das Bundesverfassungsgericht in meinen Worten, Vorrang haben muss vor den Vertraulichkeitsgrundsätzen der ESM-Gremien. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Europäische Integration kann es nur mit demokratischer Kontrolle und Beteiligung geben. Das ist die Kernbotschaft, die wir heute aus Karlsruhe vom Bundesverfassungsgericht erhalten haben. Das ist die gute Botschaft aus Karlsruhe. Die Botschaften, die wir gestern von der Bundesregierung gehört haben, sind hingegen nicht gut.

Auch ich weiß seit einigen Jahren, dass Generaldebatten über den Haushalt oft vieles sind, nur nicht Debatten über den Haushalt. Natürlich wird auch heute Bilanz -gezogen nach drei Jahren erfolglosen Bemühens einer Koalition, zu einer Regierung zu werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – -Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Über Arbeitsplätze, über Wirtschaftsergebnisse!)

Der Haushalt, den diese Regierung vorlegt, ist ein Dokument, das schon vieles vorwegnimmt. Man stelle sich das einmal vor: Ein Finanzminister im Glück – drei Jahre gute Konjunktur, ein Füllhorn, durch steigende Steuereinnahmen immer wieder aufgefüllt, zusätzlich 10 Milliarden Euro durch den historisch niedrigen Zins als Zusatzgewinn –, und was machen Sie damit? Was ist Ihr ehrgeiziges Ziel? Sie hätten die erste Regierung seit Jahrzehnten sein können, die die Neuverschuldung auf null bringt. Stattdessen verdaddeln Sie die Chance zwischen unseriöser Steuersenkungspolitik und Klientel--befriedigung,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

zwischen Mövenpick und Betreuungsprämie. Das ist genau das, was ich seit drei Jahren bei dieser Regierung feststelle: Sie, Union und FDP, wollten gemeinsam regieren. Aber Sie hatten nie ein gemeinsames Projekt, nie ein gemeinsames Ziel. Sie wollten die Regierung, aber Sie konnten damit nichts anfangen. Das ist „Politik ohne Morgen“, so hat Franz Müntefering vor kurzem geschrieben. Dafür war Ihre Rede gestern, Herr Schäuble, ein erschütternder Beweis.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auf eines – auch das muss gesagt werden – ist in dieser Koalition immer Verlass: Jeden Sommer versinkt sie regelmäßig in Streit und Chaos. Da kämpft jeder gegen jeden. Verlässlich war bisher auch immer: Anfang September kündigt dann die Bundeskanzlerin den Neustart an. Dann geht alles wie nach dem alten Motto von -Wiktor Tschernomyrdin: Wir wollten alles besser machen, aber am Ende kam es wie immer.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich rechne jetzt nicht drei Jahre auf, sage aber einfach nur mit Blick auf diesen einzigen Sommer: nicht nur Streit über Griechenland, nicht nur Streit über Europa, sondern auch Streit über die Energiewende und die -Kosten, Streit über die Zuschussrente, Streit über das Betreuungsgeld, Streit über die gleichgeschlechtliche Ehe und steuerrechtliche Diskriminierung, Streit – selbst darüber – über die Verfolgung von Steuersündern; und neben alledem spielt der Innenminister mit den Sicherheitsbehörden „Reise nach Jerusalem“. Das ist der Sommer dieser Regierung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Da ist keine Linie, da ist keine Führung, da ist keine Entscheidung. Im Kabinett ist jeder gegen jeden. Kaum kommt aus dieser Regierung einmal ein Vorschlag ans Tageslicht, ist entweder die CSU dagegen oder die FDP oder beide, und die CDU ist gespalten. Nichts geht mehr in dieser Regierung. Das ist die bittere Wahrheit über diese Koalition, und die muss heute zur Sprache kommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, dann mal los!)

Mein Eindruck ist: Diese Regierung wirkt ein bisschen wie ein schwer angeschlagener Boxer, der in der nächsten Runde dem Ende entgegentaumelt. Ich sage nur: Deutschland braucht mehr. Deutschland braucht etwas anderes als ein weiteres Jahr diese schwarz-gelbe Agonie, die wir jetzt gesehen haben. Das geht so nicht weiter.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Frank-Walter Steinmeier als Klitschko! Da lachen wir! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Frank-Walter Klitschko!)

Nun ahne ich, Herr Kauder: Wenn das nur der Vorsitzende der Oppositionspartei sagt, dann lässt Sie das im Zweifel kalt. Aber ich ahne auch: Sie alle miteinander wissen sehr genau, das ist bittere Wahrheit. Wir haben keine Zeit für diesen Dauerstreit innerhalb der Koalition. Die Uhr tickt. Mit dieser Regierung läuft uns die Zeit -davon.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum läuft uns die Regierung nicht davon?)

Noch geht es uns gut; Gott sei Dank. Noch sind die So-zialkassen gut gefüllt. Noch sprudeln die Steuereinnahmen. Aber wenn ich die Vorzeichen richtig deute, dann ist doch eines ganz gewiss, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die fetten Jahre, die wir hatten, sind ganz eindeutig vorbei.

Dass es uns noch vergleichsweise gut geht – Gott sei Dank; ich freue mich darüber –,

(Zuruf von der FDP: Das merkt man!)

ist im Übrigen überhaupt nichts, worauf diese Koalition in irgendeiner Weise stolz sein könnte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Schon klar! Das hat die Opposition gemacht!)

Dass es uns heute besser geht als anderen, ist das Ergebnis von Entscheidungen aus der Vergangenheit. Sie -ernten auf Feldern, auf denen Sie nie gesät und nie gepflanzt haben. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Der Willy Brandt war es!)

Ob Sie das wahrhaben wollen oder nicht: Es waren in diesem Land eben Sozialdemokraten und Grüne, die die Weichen neu gestellt haben:

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)

mit viel Streit mit Ihnen, mit viel Streit in den eigenen Reihen. Aber es waren Sozialdemokraten und Grüne, die das Fundament für den Erfolg von heute gelegt haben, niemand anders.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dazu stehen Sie aber nicht mehr! Alles wollen Sie rückgängig machen!)

Wir sind damals darangegangen und haben einen Vorrat angelegt.

(Widerspruch bei der FDP)

– Sie wissen ja, dass ich recht habe. Deshalb schreien Sie doch so.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben damals den Vorrat angelegt, der uns einen Vorsprung vor anderen verschafft hat.

(Zuruf des Abg. Otto Fricke [FDP])

Aber dieser Vorrat – das wissen Sie auch, Herr Fricke – bleibt nicht ewig, weil Sie die Vorräte, die wir hatten, nicht ergänzen, sondern sie verfrühstücken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn man nicht endlich etwas für die Zukunft tut, dann ist der Vorsprung, den wir hatten, bald aufgebraucht.

Eine Lehre aus den schwierigen zehn Jahren, die wir hinter uns haben, sollten Sie mitnehmen: Hätten wir uns damals, vor zehn Jahren, so in die Furche gelegt wie Sie jetzt, dann wäre Deutschland das geblieben, was wir nach den 90er-Jahren waren: das Schlusslicht in der -europäischen Wachstumstabelle oder, wie die Zeitungen geschrieben haben, der „kranke Mann Europas“.

Wir haben damals dafür gesorgt, dass dieses Land wieder auf Wachstumskurs geht. Das war Mut zur Verantwortung. Sie machen das genaue Gegenteil. Ihr einziges Ziel ist Machterhalt, und das ist zu wenig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – -Norbert Barthle [CDU/CSU]: Geschichtsklitterung im großen Stil!)

Meine Frage an diese Regierung und an die Bundeskanzlerin ist deshalb: Was tun Sie, damit unser Land auch in zehn Jahren noch Arbeit und Wohlstand hat? Was tun Sie gegen den drohenden Fachkräftemangel, -gegen die Zunahme von prekärer Beschäftigung, gegen die Ungleichbehandlung von Mann und Frau im Beruf, gegen die ungelösten Probleme bei der Integration? Was tun Sie gegen die wachsende Undurchlässigkeit unseres Bildungssystems? Und: Was tun Sie angesichts des -Desasters, in das Sie sich selbst mit Ihrer kopflosen Energiepolitik geführt haben?

Wenn es uns nicht gelingt, dafür zu sorgen, dass Deutschland auch in zehn Jahren noch ein attraktiver -Industriestandort mit bezahlbaren Energiepreisen ist, dann können wir uns die ganzen gegenwärtigen Rentendebatten sparen. Ohne funktionierende Unternehmen wird auch der Sozialstaat ausbluten. Dann wird es keine Beschäftigung geben, jedenfalls nicht für 41 Millionen Menschen wie gegenwärtig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Unser Land hat ein Zukunftsproblem; das habe ich eben kurz skizziert. Aber es hat auch ein Gerechtigkeitsproblem, und ich behaupte: Das eine hat mit dem anderen zu tun. Frau von der Leyen hat mit großem Eifer in den letzten Wochen das Problem der Altersarmut entdeckt. Inzwischen hat die Regierung gegen Frau von der Leyen beschlossen, dass es doch keine Altersarmut gibt und damit auch keinen Handlungsbedarf. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, versuchen Sie, eine Debatte, die Sie zunächst begonnen haben, jetzt wieder möglichst schnell zu beerdigen, weil sie Ihnen schlicht unwillkommen ist.
Aber ich sage Ihnen voraus: Es gibt eine Wahrheit, an der sich auch eine Koalition von Union und FDP nicht vorbeidrücken kann. Wir müssen in dem Bereich der drohenden Altersarmut etwas tun. Nur, Frau von der Leyen, wie Sie es anfangen, geht es am Ende auch nicht. Sie zäumen das Pferd von hinten auf. Armut im Alter folgt der Armut im Erwerbsleben. Die Ursache von -Altersarmut ist Erwerbsarmut.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb ist das beste Rezept gegen Altersarmut: gute Löhne, entschiedener Kampf gegen Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit und – auch wenn Sie es nicht mehr hören können; ich sage es trotzdem noch einmal – ein bundesweit verbindlicher gesetzlicher Mindestlohn. Das brauchen wir.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – -Volker Kauder [CDU/CSU]: Das müssen mindestens 14 Euro sein! 15 Euro, mein Lieber! 12 reichen doch noch lange nicht!)

Über all das muss man reden – über einen wirklichen Zukunftsentwurf, wenn Sie so wollen, der Arbeitsmarkt und Demografie endlich zusammenbringt –, aber eben nicht über ein allzu dürftiges Zuschussrentenkonzept, das noch nicht einmal in der eigenen Partei, geschweige denn in der Koalition auf Zustimmung stößt. Damit können Sie keine Angebote machen, über die man ernsthaft reden kann, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber, Herr Schäuble, nachdem ich Ihnen gestern -zugehört habe, ist es auch gar nicht nötig, darüber zu -reden. Sie haben gesagt, der Gegensatz zwischen Arm und Reich in Deutschland, der da herbeigeredet werde, sei – ich zitiere Sie wörtlich – „ein Hirngespinst“. Das haben Sie geruht uns mitzuteilen. Wenn das Ihre Haltung ist, dann brauchen wir in der Tat auch keine Vorsorge -gegen Armut im Alter. Dann brauchen wir in diesem Land keinen Kinderzuschuss für Alleinerziehende. Dann brauchen wir auch keinen Mindestlohn. Ich sage Ihnen nur: Wer so denkt, der versteht auch nicht, warum die normalen Leute in unserem Land es satt haben, immer wieder zur Kasse gebeten zu werden für die Folgen von manchen Maßlosigkeiten und Verantwortungslosigkeiten bei den wirtschaftlichen Eliten dieses Landes.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie werden nicht verstehen, warum die Menschen einfach nicht mehr kapieren und akzeptieren, dass, wenn wir über die Systemrelevanz von Banken reden, immer Opfer des Steuerzahlers gemeint sind, die anschließend eingefordert werden. Da gibt es entgegen Ihrer gestrigen Aussage, Herr Schäuble, ganz viel Ungerechtigkeit in unserem Land. Das ist kein Hirngespinst. Ich sage, es ist im Gegenteil so: Soziale Balance ist systemrelevant für Demokratie. Wir werden das eine nicht ohne das andere haben. Das ist die Lehre, die wir aus der Krise auf den Finanzmärkten ziehen sollten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nicht nur diesen Zusammenhang haben Sie gestern geleugnet. Der Haushalt, den Sie diese Woche präsentieren, ist eigentlich ein Dokument von Mutlosigkeit und auch von Kurzsichtigkeit. Sie stellen sich einfach hin und sagen den Leuten überall in Europa: Nehmt euch ein Beispiel an uns! Wir sind ein Muster an Haushaltsdiszi-plin. – Nur, die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Sie predigen Wasser und trinken Wein. Sie setzen die Neuverschuldung jetzt mit 18,8 Milliarden Euro an. Das ist sogar noch mehr – daran führt kein Weg vorbei – als die 17,3 Milliarden Euro im Jahr 2011. Wir haben Ihnen gestern ja zugehört. Aber Sie können noch so kreativ mit Vergleichszahlen umgehen und hier herumdozieren, es bleibt dabei: Trotz jährlich steigender Steuereinnahmen in den letzten drei Jahren steigt Ihre Neuverschuldung. Ich möchte einmal wissen, wem Sie das in Europa als Beweis für Haushaltsdisziplin durchgehen lassen würden – vermutlich niemandem.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – -Norbert Barthle [CDU/CSU]: Die Ausgaben sinken!)

Auch wenn Sie es gestern von hier aus noch einmal bestritten haben, Herr Barthle: Nicht nur die SPD und die anderen Oppositionsfraktionen haben den Verdacht, dass Sie sich mit all dem eine Sparbüchse – allerdings eine milliardenschwere Sparbüchse – angelegt haben, um dann im nächsten Jahr, im Wahljahr, dem einen oder anderen schwächelnden Minister noch ein bisschen unter die Arme greifen zu können. Das ist doch der Grund, weshalb nicht nur die Bundesbank, sondern auch der Bund der Steuerzahler Ihnen sagt: Dieser Haushalt zeugt von mangelndem Ehrgeiz. – Und das ist der Grund, weshalb wir sagen: Dieser Haushalt stellt vielleicht die Vorbereitung auf ein Wahljahr dar, nicht aber die Vorbereitung auf ein Haushaltsjahr; denn das Haushaltsjahr hätten Sie angesichts der enormen Steuereinnahmen ganz anders, viel besser, viel ehrgeiziger angehen können, als Sie es tun.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die größte Gefahr ist allerdings nach wie vor die -europäische Krise, zu deren Lösung Sie in den letzten drei Jahren nichts Entscheidendes haben beitragen können, noch nicht einmal zu deren Eindämmung. Im -Gegenteil: Drei Jahre werkeln Sie herum. Die Krise -eskaliert von Jahr zu Jahr. In diesen drei Jahren ist die Krise – an den Zahlen kann niemand vorbei – vor allen Dingen in südeuropäischen Staaten größer geworden. In diesen drei Jahren ist auch das Risiko für Deutschland gestiegen. Ich weiß nicht, ob Sie das über den Sommer hinweg verfolgt haben: Das sind schon dramatische Wachstumseinbrüche, die wir in einigen südeuropäischen Staaten haben, vor allen Dingen in einem Land, das hier relativ selten zur Sprache kommt, nämlich in Spanien. Deshalb darf man sich mit Blick auf die -gesamte Währungszone nicht wundern, dass es innerhalb der Euro-Zone alles in allem einen Auftragsrückgang von 15 Prozent gibt. Ich spreche nicht von Griechenland. Ich spreche von der gesamten Währungszone. Sie haben auch gesehen, dass das mittlerweile in einzelnen Branchen bei uns ankommt. Kurzarbeit bei Ford in Köln ist nicht das einzige Signal.

Ich bin nicht hier, um schlechte Laune zu machen,

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das gelingt Ihnen auch gar nicht!)

sondern das sind schlicht und einfach die Zahlen, mit -denen wir uns auseinandersetzen müssen. Wenn Sie einmal einen Blick auf diese Zahlen werfen – das sollten Sie nach der Haushaltsdebatte ernsthaft tun –, dann wissen Sie auch: Bei diesem europäischen Krisenszenario, über das wir hier jetzt zum wiederholten Male sprechen, ist Matthäi am Letzten. Jetzt mit dem Finger auf andere zu zeigen, wie sich das in den vergangenen Monaten und Jahren immer bewährt hat, hilft nicht mehr, weil jeder sieht: Der Werkzeugkasten, auch der Werkzeugkasten dieser Regierung, ist leer.

Jetzt landen Sie genau da, wo ich es Ihnen in meiner vorletzten Rede hier im Deutschen Bundestag vorausgesagt habe. Ich habe gesagt: „Sie werden am Ende beim Anleihekauf der EZB landen“ – und das jetzt unbegrenzt. Das ist die grandiose Leistung, für die Sie sich, Herr Schäuble, gestern hier mit Selbstlob überschüttet haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin – da können Sie sicher sein – nicht mit den Klagezielen des Kollegen Gauweiler einverstanden. Aber in einem hat er recht: Es waren am Ende auch Sie, diese Bundesregierung, Frau Merkel, die die EZB nach und nach in diese Richtung geschoben haben. Nur, jetzt, am Ende dieser Entwicklung, können Sie sich doch nicht hinstellen und rufen: Haltet den Dieb. – Das geht nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es hat einige Jahre ganz gut funktioniert, sich hier und in der deutschen Öffentlichkeit immer als der deutsche und europäische Sparfuchs hinzustellen. Als Griechenland ein 40-Milliarden-Euro-Problem war, haben Sie posaunt: Keinen Cent für Griechenland! – Dann -haben Sie den ersten Rettungsschirm aufgespannt, dann den zweiten und dann immer neue, immer zu spät, -immer zu klein. Sie haben rote Linien gezogen, um -anschließend, nach dem Überschreiten der roten Linien, das Gegenteil von dem zu machen, was am Tag vorher noch in Stein gemeißelt war. Was Sie gemacht haben, war – vermutlich wird sich das zeigen, wenn wir in einigen Jahren zurück auf diese Jahre schauen – die teuerste Variante der Antikrisenpolitik.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Jetzt, da Rettungsschirme in Milliardenhöhe gefüllt, verteilt, wieder aufgefüllt und wieder verteilt worden sind, kommt oben drauf, was vor einem Jahr für Sie alle noch der Gottseibeiuns war. Mit Verlaub, Frau Merkel, das war aus unserer Sicht immer ein wenig scheinheilig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum denn nur „ein wenig“?)

Was einen ärgert – auch das sage ich Ihnen ganz offen –: Sie haben sich oft auch von diesem Podium aus den Mund über Alternativen zu Ihrer Politik zerrissen, die auch von anderen ja durchaus vorgestellt worden sind. Sie haben sich über Ideen empört, selbst wenn sie aus -Ihrem eigenen Sachverständigenrat, dem Rat der Weisen, kamen, etwa die Idee des europäischen Schuldentilgungsfonds. Sie haben sich nicht nur darüber empört, sondern Sie haben das geradezu als Verrat an deutschen Interessen dargestellt. Jetzt, nach dem Scheitern der ganzen Rettungsschirmpolitik, irrt dieser Teil des Plenums samt der Regierung einigermaßen plan- und ziellos -herum. Jetzt auf einmal, am letzten Wochenende – ich traue meinen Augen nicht –, wird umstandslos gutgeheißen, was vor zwölf Monaten noch der Untergang des Abendlandes war.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zinssozialismus!)

Das können Sie doch der deutschen Öffentlichkeit nicht vorführen. So kann man doch Glaubwürdigkeit in der Politik nicht erlangen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Damit ich nicht missverstanden werde: Der EZB ist dabei überhaupt nichts vorzuwerfen. Sie tut das, was jetzt noch zu tun ist, als die einzig noch verbliebene handlungsfähige europäische Institution. Sie muss das jetzt tun, weil kein anderer mehr in Europa verhindert, dass die Währungsunion den Bach runtergeht. Aber dass sie das so tut, wie es am Freitag beschlossen wurde, -zukünftig ohne jede Begrenzung nach oben und ohne jede demokratische Kontrolle, liegt in der Verantwortung auch dieser deutschen Regierung, und das werden wir der Öffentlichkeit sagen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe es ja geahnt – Herr Schäuble, Sie haben es gestern auch hier vom Podium gesagt –: Sie haben erklärt, es werde deshalb alles ganz anders, weil ja sichergestellt sei, dass die Länder, denen durch die Anleihekäufe der EZB Hilfe gewährt werde, erst einmal Programmland werden müssten. Im Übrigen könne ja nichts passieren, weil die EZB selbst auf den sogenannten Primärmärkten überhaupt nicht tätig werden dürfe. Ich habe es geahnt, dass diese Versicherung von heute an die deutsche Öffentlichkeit und auch hier an das Parlament geht.

Nur, es gibt ja schon Papiere Ihrer Regierung, die beschreiben, wie das in Zukunft anders aussehen könnte: dass die EZB spanische Anleihen auf dem Sekundärmarkt kauft, der ESM Anleihen auf dem Primärmarkt, der ESM dann die gekauften Anleihen an Drittbanken weiterverkauft und die EZB dieser Drittbank die Anleihen wieder abkauft. Im Ergebnis jedenfalls landen alle diese Anleihen bei der EZB, deren Anleihenportfolio auf diese Weise mit schlechten Anleihen immer mehr wächst. Das ist das Ergebnis der Entscheidung, die am Freitag getroffen worden ist, auch wenn das Handeln der EZB in dieser Situation notwendig ist.

(Beifall bei der SPD)

Ob Sie das wahrhaben wollen oder nicht – wenn Sie es heute bestreiten, dann werden wir uns in sechs Monaten hier wieder darüber unterhalten –: Das ist nichts anderes als so etwas Ähnliches wie eine Banklizenz durch die Hintertür. Das ist natürlich unvermeidbar auch Vergemeinschaftung von Schulden, allerdings – das ist der Unterschied zu uns – ohne demokratische Kontrolle, ohne klare, nachvollziehbare Regeln und Auflagen, oder ganz kurz: Das, was Sie der deutschen Bevölkerung in den letzten Jahren immer als Ziel Ihrer Politik vor Augen geführt haben, wird jedenfalls durch die Entscheidungen, die Sie jetzt neuerdings begrüßen, ins Gegenteil verkehrt. Das müssen wir der Öffentlichkeit sagen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Schäuble, bei alledem, worüber wir reden: Was ist eigentlich mit der Besteuerung der Finanzmärkte?

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja! Dazu hat er keinen Ton gesagt!)

Was die EZB jetzt zur Währungsstabilisierung in Europa tut und tun muss – ich sage es noch einmal –, das ist, ob man es beabsichtigt oder nicht – das muss gar nicht das Hauptziel sein –, ganz nebenbei, natürlich auch ein Bankensanierungsprogramm, weil auf diese Weise die Banken die Möglichkeit haben, schlechte Papiere, zum Beispiel über den eben beschriebenen Weg, bei der EZB zu deponieren. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass die Märkte im Augenblick so reagieren. Die Bankenaktien schießen natürlich im Augenblick mit dieser Erwartung durch die Decke. Ich sage noch einmal: Das kann man vielleicht gar nicht vermeiden, dass sich die Banken auf diese Weise mit sanieren. Die Frage ist nur: Wo bleibt denn Ihre Forderung, dass der Bankensektor spätestens jetzt auch ernsthaft besteuert wird? Ich habe den ganzen Sommer über dazu von Ihnen nichts gesehen und gehört.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gab keinen Druck, der irgendwie sichtbar geworden wäre, keine Forderungen an die europäischen Partner, von denen ich gehört hätte.

Deshalb frage ich noch einmal mit Blick auf Ihre gestrige Rede, in der Sie sich ja für die Konditionalität so gelobt haben: Wo ist denn diese Konditionalität, wenn es einmal nicht um Sparprogramme bei der Sozialpolitik geht, sondern wenn es um die Beteiligung der Finanzmärkte an der Bewältigung der Kosten der Krise geht? Dazu haben wir hier etwas vermisst.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich verstehe es nicht. Ich verstehe dieses dröhnende Schweigen nicht, weil wir uns gemeinsam nach schwierigen Verhandlungen darauf verständigt haben, dass dies Ziel unserer gemeinsamen Politik ist. Was ich mich frage: Wann, wenn nicht in einer solchen Situation, wann, wenn nicht an einer solchen Schwelle, an der wir sozusagen die Methode der Auswege aus der europäischen Krise völlig umstellen, wann, wenn nicht jetzt, da die Europäische Zentralbank mit Ihrer Billigung neue Aufgaben erhält, wann, wenn nicht jetzt, gäbe es die Chance, die Skeptiker innerhalb der Währungsunion davon zu überzeugen, den Weg in die Finanzmarktbesteuerung mitzugehen? Jetzt wäre der Weg gegeben, und jetzt wäre Konditionalität gefragt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe jedenfalls nicht gehört, dass irgendwelche Initiativen in diese Richtung unternommen worden sind. Das ist in meinen Augen auch in diesem Bereich ohne jeden Ehrgeiz. Es ist bei der Finanzmarktbesteuerung wie bei den anderen politischen Feldern, über die ich gesprochen habe: Es ist die Haltung dieser Regierung, möglichst die Ziele nicht ehrgeizig zu setzen, sondern irgendwie darauf zu vertrauen, dass man schon durchkommt. Ich sage am Ende nur: Das ist zu wenig für Deutschland. Das ist zu wenig für Europa. So kommen wir eben gerade nicht durch.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist für die Opposition auch zu wenig! Zero!)