Dennis Rohde (SPD):
Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben auch in dieser Debatte wieder gemerkt, dass die Aussprache zum Haushalt des Bundeskanzleramtes mehr ist als eine Debatte über Tagespolitik. Es geht um mehr als Einnahmen und Ausgaben. Im Endeffekt geht es um eine allgemeine gesellschaftspolitische Debatte.
Jetzt haben wir vorhin schon gelernt, wann Herr Kauder und wann Herr Bartsch geboren wurden. Ich oute mich selbst als 1986 Geborenen. Ein Ergebnis der Gnade der späten Geburt ist sicherlich, dass man viele vergangene Epochen aus eigenem Erleben nicht mitbekommen hat. Ich kenne die Zeiten der nationalen Egoismen in Europa nur aus Erzählungen. Die Zeiten des Kalten Krieges, die Zeit der andauernden Bedrohung in Europa kenne ich nicht aus eigenem Erleben. Die Jahre des Entbehrens nach dem Krieg, in denen man froh war, wenn man genug zu essen hatte, kenne ich nur aus den Erzählungen meiner Großeltern. Krieg, Nationalismus, Armut und Entbehrung kenne ich nicht aus eigenem Erleben. Ich kann heute, im Jahr 2016, ausdrücklich sagen, dass ich froh bin, all das nicht erlebt haben zu müssen. Ich bin denjenigen dankbar, die Deutschland und Europa zu einer Region gemacht haben, in der wir in Frieden leben können.
(Beifall bei der SPD)
Mein Großvater war ein einfacher Bahnarbeiter. Er hatte dieses Glück nicht. Er musste die Leiden des Krieges durchleben und in der Nachkriegszeit das Land wieder mit aufbauen. Er war es, der mich politisiert hat und der wahrscheinlich auch dafür verantwortlich ist, dass ich heute hier stehe. Mein Opa hat – genauso wie Millionen andere – dieses Land wiederaufgebaut. Dabei haben die Menschen damals nicht nur an sich selbst und an ihren eigenen Vorteil gedacht, sondern auch an die Allgemeinheit. Ohne Solidarität, ohne dass man einander geholfen hat – so hätte es mein Großvater formuliert –, hätte man dieses Land nicht binnen kürzester Zeit aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges wiederaufbauen können. Ich bin der festen Überzeugung: Nur weil sich die Generation meiner Großeltern trotz aller Entbehrungen gegen nationale Egoismen gestellt hat, nur weil sie solidarisch füreinander eingestanden ist, kann ich, können wir heute in Frieden in Deutschland leben.
(Beifall bei der SPD)
Die Leistung der vorherigen Generation sollte uns Mahnung für das Hier und Jetzt sein. Ich schäme mich – genauso wie es mein Großvater vermutlich tun würde –, dass nationale Rechtspopulisten in diesem Land wieder Erfolge haben, Populisten, getarnt als Beschützer bürgerlicher Werte, die aber in Wirklichkeit die Schwachen gegen die noch Schwächeren ausspielen. Dabei sollte uns allen doch bewusst sein: Nationalismus, der Rückzug in die vermeintlich heile, abgeschottete Welt, war noch nie die richtige Antwort. Es gibt kein Beispiel in der Geschichte der letzten 200 Jahre, das zeigt, dass blinder Nationalismus den Menschen und dem Frieden gut getan hätte, kein einziges Beispiel.
(Beifall bei der SPD)
Ich schaue mit Sorge auf den Versuch, unsere Gesellschaft zu spalten. Zwietracht zu säen und das dann auch noch Mut zu nennen, ist an Widerlichkeit nicht zu überbieten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es tut mir leid um diejenigen, deren Ängste und Zweifel missbraucht werden, deren Ängste und Zweifel geschürt und instrumentalisiert werden. Anstatt ihnen Mut zu machen und Perspektiven zu eröffnen, sollen sie mitgenommen werden auf die eine Seite der Gesellschaft, die dann gegen die andere Seite der Gesellschaft ausgespielt wird. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich möchte nicht in einem Deutschland leben, in dem man wieder nach seinem Aussehen oder seiner Herkunft bewertet wird. Ich möchte nicht in einem Deutschland leben, in dem die religiöse Orientierung, die Sprache, die Homosexualität oder der soziale Status Grundlage für Stigmatisierung sind. Ich möchte nicht in einem Deutschland leben, in dem das Gegeneinander wieder vor dem Miteinander kommt. Die Generaldebatte über den Haushalt ist der richtige Ort, um zu sagen: Lassen Sie uns alle gemeinsam für ein tolerantes und weltoffenes, für ein friedliches und solidarisches Deutschland streiten.
(Beifall bei der SPD)
Ich möchte genauso wie alle anderen das friedliche Miteinander in unserem Land weiterhin sicherstellen. Neben den Debatten über Burka und doppelte Staatsbürgerschaft glaube ich, dass es bei Frieden zuvorderst um sozialen Frieden geht; denn auch und gerade soziale Spaltung kann zur Gefahr für unsere innere Sicherheit werden. Spaltung bedeutet nichts anderes als Ausgrenzung, und Ausgrenzung führt letztlich zum Verlust unser aller Freiheit.
Was eine gespaltene Gesellschaft bedeutet, durfte ich erst vor kurzem von einer Austauschschülerin lernen. Louise ist 17 Jahre alt und kommt aus Brasilien, aus dem Land, das wir alle noch vor Augen haben wegen der teils kontrovers diskutierten und teils imposanten Olympischen Spiele und der Fußballweltmeisterschaft. Brasilien ist aber zuvorderst ein Land tiefer sozialer Gräben. Die daraus resultierende Sprengkraft schlägt sich im tagtäglichen Leben nieder und nimmt allen Menschen die Freiheit. In vielen Städten Brasiliens kann man nicht einfach über die Straße spazieren oder mit dem Fahrrad fahren. Diese für uns selbstverständliche Freiheit war für Louise am Anfang etwas ganz Besonderes. Es ist daher sehr klug von den Müttern und Vätern unserer Verfassung gewesen, dafür zu sorgen, dass der Kampf gegen Armut als Wesensmerkmal des Sozialstaates Verfassungsrang hat.
Ich sage mit Blick auf die kommenden Haushaltsverhandlungen: Wir brauchen einen starken Staat. Wir sollten uns nicht in wahltaktische Debatten über Steuersenkungen nach dem Gießkannenprinzip verzetteln. Wir sollten nicht auf kurzfristige Versprechen hereinfallen, deren Zeche die Gesellschaft am Ende zu zahlen hätte. Vertrauen gewinnt man nicht durch Steuergeschenke, von denen das Gros der Menschen nichts hätte, weil sie entweder keine Einkommensteuer oder so wenig Einkommensteuer zahlen, dass die Steuersenkung am Ende bei ihnen im Portemonnaie nicht auffällt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ja, wir haben in den letzten Jahren Spielräume im Bundeshaushalt geschaffen, finanzielle Spielräume. Erarbeitet haben sie aber die Menschen in unserem Land, und zwar die, die aufrichtig und ehrlich ihre Steuern und Abgaben zahlen. Genau die sind es, die nun auch von diesen Spielräumen profitieren sollten.
(Beifall bei der SPD)
Wir müssen die Spielräume zur Gestaltung nutzen, um in unsere Gesellschaft und damit in den Zusammenhalt zu investieren. Ich finde, wir müssen in Schulen und Universitäten investieren, damit junge Leute die beste Bildung bekommen und damit höhere Bildung keine Charaktereigenschaft einer Elite wird. Ich finde, wir müssen in Mütter und Väter investieren, damit sie für ihr Kind trotz der Herausforderung des Berufs und des Alltags als Eltern da sein können. Das Elterngeld Plus von Manuela Schwesig war ein Schritt in die richtige Richtung.
Ich finde, wir müssen ganz ausdrücklich in neue und bezahlbare Wohnungen investieren, in die Verstetigung des sozialen Wohnungsbaus. Mir ist ganz egal, wer dafür eigentlich verfassungsrechtlich zuständig ist. Ich finde, wir müssen mehr Geld in die Hand nehmen; denn es kann nicht sein, dass insbesondere junge Menschen und Menschen mit kleinen Einkommen keinen Platz mehr in unseren Städten finden.
(Beifall bei der SPD)
Wir müssen diejenigen im Auge behalten, die Qualifizierungsmaßnahmen brauchen, um überhaupt wieder auf dem Arbeitsmarkt eine Beschäftigung zu finden. Wir werden natürlich in Polizei und Sicherheit investieren, damit sich jeder hierzulande überall und zu jeder Zeit frei und sicher fühlen kann. Deshalb fordern wir auch einen massiven Stellenaufwuchs bei der Polizei und halten uns bei der Debatte über Hilfssheriffs und einen Einsatz der Bundeswehr im Inland ganz gepflegt heraus.
(Beifall bei der SPD)
Wir sollten, wenn wir Menschen wirklich finanziell entlasten wollen, genau das tun, was Johannes Kahrs und Thomas Oppermann vorhin gesagt haben, nämlich nicht das Gießkannenprinzip bei der Einkommensteuer anwenden, sondern gezielt bei kleinen Einkommen ansetzen, gezielt bei den Sozialabgaben ansetzen; denn die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen sind die wirklichen Leistungsträger in unserer Gesellschaft.
(Beifall bei der SPD)
Wir müssen in unsere Gesellschaft investieren. Das ist der Gegenentwurf zu einfachen Forderungen nach Steuersenkungen, die nur die Besserverdienenden bevorteilen. Das ist auch der Gegenentwurf zu all denen, die den Mindestlohn aushöhlen wollen, das ist der Gegenentwurf zu all denen, die die Renten kürzen wollen, die die Lebensarbeitszeit am liebsten bis in die Ewigkeit verlängern würden und für ein unfaires Steuersystem plädieren, sodass diejenigen, die ohnehin wenig haben, noch weniger in der Tasche haben werden.
In unserer sozialen Marktwirtschaft muss immer ein Grundsatz gelten: Starke müssen den Schwachen helfen. Schwächere müssen sich anstrengen und, unterstützt von uns allen, versuchen, wieder stärker zu werden. Deshalb noch einmal mein Appell: Wenn wir Menschen entlasten wollen, dann diejenigen, die die Entlastung dringend brauchen, aber nicht diejenigen, denen man gerne ein Geschenk machen möchte.
Ich möchte weiterhin in einem Deutschland der Gemeinsamkeiten leben, ich möchte, dass unsere gemeinsame Prämisse der Erhalt des sozialen Friedens ist. Sozialer Friede kommt aber nicht von selbst, sondern er muss politisch begleitet und verteidigt werden. Gemeinsamkeit vor Egoismus, Toleranz vor Ausgrenzung, Miteinander statt Gegeneinander – der Aufgabe, dies im Dialog mit den hier lebenden Menschen sicherzustellen, ihre Ängste ernst zu nehmen, Zweifel zu beseitigen und alle mitzunehmen, die es wollen, müssen wir uns als Politik mehr denn je zuvor stellen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Johannes Kahrs [SPD]: Sehr gute Rede!)