Viktor Orban wurde am 29. Mai 2010 zum ungarischen Ministerpräsidenten gewählt. Doch nach zwei Jahren im Amt fällt die Zwischenbilanz seiner national-konservativen Regierung mehr als mager aus: Finanziell steht Ungarn kurz vor dem Ruin. Die ungarische Wirtschaft liegt am Boden, das Land steckt in einer schweren Rezession mit einer hohen Arbeitslosig-keit. Gesellschaftlich ist Ungarn tief gespalten und politisch in der Europäischen Union weit-gehend isoliert.
Neben einer Reihe von sozial- und wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen der Regierung bereitet uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aber insbesondere der Umgang mit den Grund- und Freiheitsrechten in Ungarn große Sorgen. Seit ihrem Antritt vor zwei Jahren hat die Fidesz-Regierung mit ihrer Zweidrittelmehrheit mehr als 360 Gesetze und eine neue Verfassung im Eiltempo durchs Parlament gepeitscht. Nicht jedes einzelne neue Gesetz für sich ist ein Drama, aber im Sog dieser gewaltigen Gesetzesflut sind elementare demokratische und rechtsstaatliche Grundprinzipien weggespült worden. „Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne“, so lautete bislang die Antwort der ungarischen Regierung auf die Kritik aus dem In- und Ausland. Als Leitmotiv einer parlamentarischen Demokratie taugt dieses Motto jedoch in keiner Weise. Politik muss sich Zeit nehmen. Eine Zweidrittelmehrheit im Parlament bedeutet nicht nur legitimierte Macht, sondern auch eine besondere Verantwortung für eine Regierung. Der grundlegende Umbau der staatlichen Strukturen in Ungarn mit dem Ziel, einer Regierungspartei langfristig den politischen Einfluss zu sichern, widerspricht unserem Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auch die jüngste Initiative der Orban-Regierung, die staatliche Parteienfinanzierung wegen der schlechten Haushaltslage für zwei Jahre komplett zu streichen, fügt sich in dieses Bild. Dahinter verbirgt sich nicht weniger als der Versuch, die Oppositionsparteien in der weiteren politischen Auseinandersetzung empfindlich zu schwächen. In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung und die europäischen Institutionen auf, bei den besorgniserregenden Entwicklungen in Ungarn nicht wegzuschauen.
Bei Themen wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit darf das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes nicht gelten. Im Gegenteil: Es gibt sogar die Pflicht zur Einmischung, gerade wenn es um unsere gemeinsamen europäischen Werte geht. Die EU-Kommission hat – nach langem Schweigen – mittlerweile durch die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn gezeigt, dass sie gewillt ist, ihre Rolle als Hüterin der europäischen Verträge und Grundwerte entschlossen wahrzunehmen. Wir hätten jedoch auch von Orbans konservativen Parteifreunden im Rat und im Europäischen Parlament, also den Mitgliedern der Europäischen Volkspartei, erwartet, dass sie ebenfalls deutliche Kritik an den Entwicklungen in Ungarn üben. Auch die Bundeskanzlerin und der Außenminister haben dazu bisher leider geschwiegen. Eine klare öffentliche Positionierung ist überfällig.
Das uneinheitliche Vorgehen im Fall Ungarn zeigt aber auch, dass die Europäische Union beim Umgang mit Rechtspopulisten noch keine konsequente Strategie verfolgt. Es ist verheerend, wenn der Eindruck entstanden ist, dass in Europa mit zweierlei Maß gemessen wird. Es darf nicht sein, dass die EU-Partner bei den großen Mitgliedstaaten – wie bei Italien unter Berlusconi – beide Augen zudrücken, während die kleinen Mitgliedstaaten drangsaliert werden. Die Europäische Union muss kompromisslos für die Einhaltung der europäischen Grundwerte eintreten. In dieser Frage darf es keinerlei Rabatte geben. Für alle Mitgliedstaaten - egal ob groß oder klein, egal ob neu beigetreten oder Gründungsmitglied - gelten die demokratischen und rechtsstaatlichen Standards gleichermaßen.