Lars Klingbeil, MdB spricht im Deutschen Bundestag zur Einsetzung der Enquete-Kommission

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Dass wir heute im Bundestag die Einsetzung einer Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" beschließen, zeigt, dass die netzpolitische Debatte kein Nischenthema mehr ist. Netzpolitik und die Herausforderung, die digitale Welt zu gestalten, sind mitten in der politischen Debatte angekommen. Ich habe die Hoffnung, dass mit der Einsetzung der Enquete-Kommission diese Debatte auch endlich im Deutschen Bundestag ankommt.

 

 

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Der Grund für die Einsetzung der Enquete-Kommission ist sicherlich das persönliche Engagement einiger hier im Haus, und zwar parteiübergreifend. Der hauptsächliche Grund für diese Enquete-Kommission - auch das gehört zur Wahrheit dazu - ist allerdings, dass uns als Parlamentariern gerade im letzten Jahr vielfach verdeutlicht
wurde, dass wir mit unseren Debatten nicht mehr auf der Höhe der Zeit waren,

(Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch!)

dass sich gerade junge Menschen von dem abgewandt haben, was wir hier machen, und dass wir auch gemerkt haben, dass wir gerade die junge Generation mit vielen Entscheidungen nicht mehr erreicht haben.

Wir haben diese Enquete-Kommission also vor allem denjenigen zu verdanken, die zu Zigtausenden eine Onlinepetition gegen die Netzsperren unterzeichnet haben. Wir haben sie denjenigen zu verdanken, die auf die Straße gegangen sind, um für Bürgerrechte im Netz zu kämpfen, und denjenigen, die sich jenseits der politischen Parteien engagiert haben. Lassen Sie uns das heute noch einmal deutlich betonen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN)

Die Politik hat Fehler gemacht. Lassen Sie mich zumindest für meine Partei sagen: Wir haben aus diesen Fehlern gelernt. Das Internet ist nicht ein Raum der Bedrohung, sondern der Chance. Auch die Aussage vom Internet als rechtsfreier Raum wird nicht durch Wiederholung richtig: Das Internet war nie ein rechtsfreier Raum, und genauso wenig darf es ein bürgerrechtsfreier Raum sein. Wir haben begriffen, dass der kompetente Umgang mit neuen Medien einen Mehrwert für die Gesellschaft darstellt, und wir haben verstanden, dass sich Gesellschaft und Öffentlichkeit durch das Internet immer stärker online manifestieren und die Politik ihren Gestaltungsanspruch wahrnehmen muss.

Ich betone: Netzpolitik ist keine Politik für eine diffuse Klientel, die wir Politiker gern als Community bezeichnen. Netzpolitik ist Gesellschaftspolitik. Bei der Arbeit der Enquete-Kommission wird es darauf ankommen, genau das deutlich zu machen.

In den vergangenen Monaten wurden von allen Parteien viele Hände in die Richtung derjenigen ausgestreckt, die sich lautstark gegen politische Fehlentscheidungen in der
Netzpolitik gewehrt haben. Eine ausgestreckte Hand und ein kulturelles Bekenntnis zum Web 2.0 reichen aber noch lange nicht aus, um Vertrauen zu schaffen oder zur ückzugewinnen. Ein funktionierender Twitter-Account macht noch keinen guten Netzpolitiker.

Wenn die FDP-Fraktion in einer Pressemitteilung zur Einsetzung des Unterausschusses "Neue Medien" schreibt: "Parlament unterstreicht seine Web-2.0-Kompetenz", dann klingt das für mich eher bemüht als kompetent.

Es reicht eben nicht aus, die Hand auszustrecken und ein Smartphone bedienen zu können. Es kommt darauf an, dass wir hier im Parlament substanzielle Lösungen erarbeiten. Es kommt darauf an, dass wir Rahmenbedingungen setzen, die das Leben, Arbeiten und Wirtschaften in der digitalen Gesellschaft ermöglichen. Das wird in den nächsten zwei Jahren unsere Aufgabe sein.

(Beifall bei der SPD)

Die Zeit der Symbolpolitik muss vorbei sein. Natürlich werden wir kontrovers diskutieren. Natürlich wird es Widersprüche geben. Natürlich haben wir viele unterschiedliche Interessen zusammenzubringen. Klar ist schon jetzt: Es wird keine einfachen Lösungen geben. Es muss aber vor allem darum gehen, dass wir als Enquete-Kommission deutlich machen: Es gibt im Internet andere Logiken als in der Offlinewelt. Wir werden die Wertsch öpfungsmechanismen aus der Offlinewelt nicht eins zu eins in die Onlinewelt übertragen können. Gleiches gilt für die Balance zwischen Bürger- und Freiheitsrechten.
Diese neuen Logiken und neuen gesellschaftlichen Entwicklungen zu begreifen, zu erklären und umzusetzen, wird Aufgabe der Enquete-Kommission sein.

Die SPD-Fraktion unterstützt den interfraktionellen Antrag zur Einrichtung der Enquete-Kommission gerade deshalb, weil alle aus unserer Sicht relevanten Themen aufgegriffen wurden. Die SPD-Fraktion hat in der Verhandlung darauf gedrängt, dass im Vergleich zum Ursprungsentwurf der gesamte Bereich der sozialen Absicherung einer digital geprägten Arbeitswelt mit auf die Agenda kommt. Es gibt wohl kaum ein Politikfeld, das sich durch Digitalisierung so verändert hat wie der Bereich der Arbeitswelt. Wir haben völlig veränderte Erwerbsbiografien und Erwerbsformen. Genau hierauf muss die Politik Antworten finden. Ich bin froh, dass es meiner Partei zusammen mit den Grünen gelungen ist, diesen Bereich in die Enquete-Kommission aufzunehmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich halte es für einen Fortschritt, dass wir in der Enquete-Kommission Themen wie Open Data oder Open-Government-Strategien diskutieren. Der Versuch von Barack Obama, in den USA mehr Transparenz und Offenheit in Bezug auf staatliches Wissen herzustellen, sollte auch uns beschäftigen. Seine Ansätze in den USA stehen für ein Staatsverständnis, das von Offenheit und Transparenz geprägt ist. Ich wünsche mir, dass wir diesen Weg auch in Deutschland gehen und dadurch mehr Offenheit und Transparenz schaffen.

Ich habe einige Themenschwerpunkte skizziert und halte es für sinnvoll, dass wir in den nächsten zwei Jahren über all diese Fragen grundsätzlich diskutieren. Ich sage aber auch: Diese Enquete-Kommission darf nicht zur Ausrede werden, um drängende politische Fragestellungen auf die lange Bank zu schieben. Wir als SPD werden in den verschiedenen Ausschüssen, vor allem im Unterausschuss "Neue Medien", die Debatten zu einer gesetzlichen Verankerung der Netzneutralität, zu Medienkompetenz, zu Grundrechtsschutz und zur Wahrung von Medienfreiheit und Medienvielfalt vorantreiben, weil der Handlungsbedarf im Hier und Jetzt besteht und wir uns nicht auf Vorschläge einer Kommission verlassen können, die erst in zwei Jahren vorliegen. Diese Enquete-Kommission darf nicht zum Ruhekissen der Regierung werden und so ermöglichen, dass drängende Sachverhalte der Netzpolitik um zwei Jahre vertagt werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ohnehin erwarte ich mir von der Regierung eine stärkere Koordination ihrer netzpolitischen Arbeit. Chaos scheint der rote Faden dieser Regierung zu sein, auch in der Netzpolitik.

(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Bitte?)

Von Ressort zu Ressort gibt es völlig unterschiedliche Richtungen. Auch wenn ich vielleicht die Forderungen der Internetwirtschaft nach einem Internetminister für zu hochgesteckt halte, so ist das Ansinnen hinter dieser Forderung doch berechtigt. Weil Netzpolitik Gesellschaftspolitik ist, sind unterschiedliche Ressorts, Ministerien und Staatskanzleien beteiligt. Mein Eindruck - zumindest in den letzten Wochen - war, dass all diese Akteure in völlig unterschiedliche Richtungen laufen. Es fehlt an Koordination, vor allem fehlt es aber an Konzeption. Man muss sich das einmal anschauen: Der Innenminister lädt zu einer Dialogreihe "Netzpolitik". Die Familienministerin will ein Forum "Internet" gründen.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Aber die kümmern sich sehr intensiv!)

Die Verbraucherschutzministerin ist damit beschäftigt, Google zu beschimpfen. Auch der regierungsinterne Streit nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung zeigt: Diese Regierung hat keine Linie in der Netzpolitik.

(Beifall bei der SPD)

Wir brauchen ganzheitliche gesellschaftspolitische Ansätze, weil es uns nur dann gelingt, die Potenziale des Internets völlig auszuschöpfen. Wir alle reden von einer Konvergenz der Medien. Wir sehen aber auch, dass wir eine Konvergenz der Politik oder auch eine Konvergenz des Rechts noch nicht haben. Wenn man sich die Debatte um die Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages anschaut, sieht man auch da: Wir streiten über Zuständigkeiten, erledigen aber nicht die eigentlichen Aufgaben, die uns die digitale Gesellschaft mit auf den Weg gibt.

Lassen Sie mich zu meinem letzten Punkt kommen: zu den Chancen für eine demokratische und politische Partizipation. Ich bin davon überzeugt, dass wir in Zeiten einer hohen Politikverdrossenheit und katastrophalen Wahlbeteiligung das Internet durch diese Enquete-Kommission stärker aufstellen können, um Menschen an politischen Prozessen zu beteiligen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir durch eine intensive Nutzung des Internets für eine Revitalisierung der Demokratie sorgen können. Die ersten Ansätze, beispielsweise die Online-petition, hat es bereits gegeben. Ich plädiere dafür, dass wir auch im Rahmen dieser Enquete-Kommission neue Ideen ausprobieren, indem wir zum Beispiel Gesetzentwürfe und Papiere online zur Verfügung stellen und um Kommentierung bitten.Der Kollege Kretschmer hat gerade vom 18. Sachverständigen geredet. Ich plädiere ausdrücklich dafür, dass wir nicht nur die Sachverständigen und die Abgeordneten einbeziehen, sondern dass wir diese Enquete auch für die Bevölkerung öffnen und diese mitdiskutieren lassen.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das hat er gerade gesagt!)

Lassen Sie uns diesen Weg gehen. Lassen Sie uns unserem Auftrag gerecht werden. Lassen Sie uns die Erwartungen erfüllen, die in uns gesetzt werden. Lassen Sie uns vor allem dafür sorgen, dass diese Enquete-Kommission kein netzpolitisches Feigenblatt des Deutschen Bundestages ist. Wir haben viel zu tun. Ich bin optimistisch, dass wir das schaffen können.

Herzlichen Dank für das Zuhören.

(Beifall bei der SPD)