Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Es gibt europäische Fragen - das habe auch ich erlebt -, bei denen die Antworten nicht auf der Hand liegen, und niemand sollte so tun, als habe er sie komplett parat. Die Frage ist nur, ob diese Regierung die Botschaften in den letzten Tagen, insbesondere die gestrigen Botschaften aus Frankfurt, richtig verstanden hat.

Gestern war nicht irgendein Tag im europäischen Alltag. Wenn Sie sich die Agenturmeldungen den Tag über angeschaut haben, dann wissen Sie, dass es dort hieß: Die EZB steht an der Kante.   Die FTD hat geschrieben: „EZB muss Euro-Staaten anpumpen“. Das Handelsblatt schrieb: „Hilfe für Schuldensünder wird für EZB zum Bumerang“.

Unterschätzen Sie das nicht: Das, was wir hier von der EZB gehört haben, war ein letztes Alarmsignal. Frau Merkel, das war heute zu spüren: Dieses Alarmsignal wollen Sie nicht wirklich hören.

Wie hat man das zu interpretieren? Ich interpretiere das so: Es gab eine ziemliche Scheinruhe in den letzten Tagen, eine relative Ruhe auf den Anleihemärkten, und diese Scheinruhe hatte einen hohen Preis. Warum? Weil die Regierungen in Europa nicht gehandelt haben   auch die deutsche Regierung nicht  , musste die EZB handeln   es blieb ihr gar nichts anderes übrig  , und das hat sie getan. Was hat sie getan? Sie hat massenhaft notleidende Staatsanleihen aufgekauft. Die Folgen sehen wir jetzt. Das, was droht, ist ein schwerwiegender Vertrauensverlust der Europäischen Zentralbank. Was wird damit klar? Nicht nur Handeln hat seinen Preis   das ist das, womit Sie in den letzten Tagen immer in den Medien präsent waren  , auch Nichthandeln hat einen Preis. Hü und hott haben wir in den letzten Tagen gesehen.

Aber das ist eben nicht nur hü und hott in den Medien, sondern das hat Konsequenzen: Glaubwürdigkeitsverlust für die Regierung, Glaubwürdigkeitsverlust auch für die Europäische Zentralbank, wie wir sehen, die jetzt mit in den Sog gezogen wird. Das ist nicht zu verantworten.

Wenn die Regierungen in Europa in diesen Tagen nichts Entscheidendes bewegen oder wenn sie einfach nur weiter darauf setzen, dass die Europäische Zentralbank das tut, was sie in den letzten Tagen getan hat, dann wird diese Zentralbank, ob sie will oder nicht   das kann sie dann gar nicht verhindern  , zur Bad Bank in Europa. Sie wissen das genau. Herr Trichet hat es Ihnen gesagt, Herr Weber hat es Ihnen gesagt.

Alle in Europa fordern doch jetzt ein kräftiges Signal, einen mutigen Entwurf, um die zweifelnden Märkte   nichts anderes ist es doch, was sich da täglich zeigt   zu überzeugen.

Deshalb ist mein Schluss aus der Nachrichtenlage des gestrigen Tages, Frau Merkel, verehrte Mitglieder der Regierung: Das, was die EZB macht, taugt nicht dauerhaft als Rettungsschirm, nicht für bankrotte Staaten, nicht für Banken, die unverantwortliche Kreditpolitik gemacht haben, nicht für einfallslose Politik. Deshalb ist das Signal für Europa: Die Zeit des Sichdurchmogelns ist vorbei.

Das Durchwursteln wird in der Lage, in der wir sind, einfach nicht mehr funktionieren. Ich glaube, Sie, Frau Merkel, wissen das. Bei Ihrer Rede heute morgen hatte ich allerdings den Eindruck, Sie wollen es uns nicht sagen. Wenn man genau hingehört hat bei der Rede, dann hörte man viel Hoffnung. Da ist viel lautes Pfeifen im Walde. Aber knapp unter der Oberfläche haben Sie doch dieselben Befürchtungen, die auch bei den anderen Fraktionen hier im Hause bestehen. Die Hoffnung, von der diese Regierungserklärung heute morgen getragen war, ist doch, dass man mit einer kleinen Vertragsänderung   so haben Sie es eben vorgetragen  , die niemandem so richtig weh tut, durchkommt. Dann kommt Weihnachten, und die Finanzmärkte sind weit weg. Dann ist für viele Skiurlaub, und im Januar schauen wir einmal. Ich sage Ihnen: So mag man denken, aber das ist keine Politik. Das zeugt nicht von Verantwortung in der tiefsten Krise Europas, die jedenfalls ich erlebt habe und an die ich mich erinnern kann.

Aber ich ahne: Sie haben dieselben Befürchtungen wie wir. Das, was sich da an Ratlosigkeit und Angst breit macht, kann doch nicht der Gradmesser für richtige Politik sein. Auch Sie haben doch die Befürchtung, dass die europäischen Partner irgendwann sagen: „Jetzt reicht es“, oder dass die EZB in den nächsten Tagen sagt: „Bad Bank in Europa wollen wir nicht länger sein. Wir halten das nicht aus“, oder dass die Märkte sagen: „Wir lassen uns über die nächsten zwei, drei Wochen oder gar zwei, drei Monate nicht einlullen“, und das Elend dann sofort im Januar beginnt.

Von dem, was in den letzten Tagen und Wochen offensichtlich die Leitmarken Ihrer Politik waren, nämlich Hoffnung und Angst, können und dürfen Sie sich nicht leiten lassen. Sie dürfen sich nicht von der leeren Hoffnung leiten lassen, dass es schon nicht ganz so schlimm kommen wird, vor allen Dingen aber nicht davon   das spüren wir auf der linken Seite des Hauses noch viel stärker  , dass Ihnen am Ende Ihre eigenen Leute von der Fahne gehen. Das kann nicht Maßstab für Politik sein. Sich wegducken, das ist ein kläglicher Abgesang auf die gestaltende europäische Politik, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten geleistet haben.

- Ja, das war Helmut Schmidt. Das habe ich auch gelesen. Aber ich bin mir sicher: Helmut Kohl sieht das auf Ihrer Seite des Spektrums auch nicht ganz anders.

Leere Hoffnung, Angst oder Befürchtungen, die nicht mit einer entsprechenden Politik einhergehen: Das macht den Zickzackkurs aus, von dem ich schon gesprochen habe, und führt letzten Endes dazu, dass diese Regierung vor der europäischen Aufgabe so versagt wie keine andere vor ihr. Ich glaube, Frau Merkel, Sie spüren, dass Sie sich durch die Entscheidungen und Nichtentscheidungen der letzten Wochen in ein Geflecht von Ankündigungen, Halbwahrheiten und auch Lebenslügen hineinbegeben haben. Aber Sie wissen im Augenblick nicht, wie Sie da herauskommen sollen.

Im April haben Sie verkündet: kein Geld für Griechenland. Das Ergebnis ist bekannt. Sie haben gesagt: Griechenland bleibt ein Einzelfall. Dann kam der Rettungsschirm. Sie haben gesagt: Der Schirm ist Ultima Ratio; er wird wahrscheinlich gar nicht in Anspruch genommen. Dann kam Irland.

Sie haben gesagt: Wir wollen keine Transferunion. Ihr eigener Berater aber sagt: In gewisser Weise haben wir das schon. Sie haben gesagt: Wir brauchen automatische Sanktionen. Zusammen mit Herrn Sarkozy haben Sie sie in Deauville gekippt. Sie haben gesagt: Defizitsünder werden mit dem Entzug der Stimmrechte bestraft. Heute war kein Wort davon zu hören. Sie haben gesagt: keine Euro-Bonds. Ihre Experten sagen: Mit der European Financial Stability Facility haben wir sie eigentlich schon.

Sie haben die Gläubigerbeteiligung gefordert. In Ihrer heutigen Regierungserklärung sind Sie merkwürdig vage geblieben.

Nicht zu vergessen ist auch das Gezerre um die Finanztransaktionsteuer. Hier im Parlament ist Frau Merkel manchmal ein bisschen dafür; auf europäischer Ebene ist Herr Schäuble manchmal ein bisschen dagegen. Geschehen ist jedenfalls nichts. Das ist die dramatische Bilanz nach diesem halben Jahr europäischer Politik in der Krise. Ich sage Ihnen: Das sehen die Leute in Ihren eigenen Reihen nicht wesentlich anders als wir. Das muss Ihnen Sorgen machen, Frau Merkel.

Aber wir stehen in der Tat in diesen Tagen in Europa vor einer historischen Aufgabe. Es geht um die Zukunft der gemeinsamen Währung. Mehr noch: Es geht um die Zukunft des gemeinsamen europäischen Projekts. Es wird vom Handeln der europäischen Regierungen abhängen, ob wir wieder ins 19. und 20. Jahrhundert, in nationalstaatliches Denken zurückfallen oder   darauf kommt es an   ob wir jetzt den Mut zu dem nächsten großen europäischen Sprung aufbringen, das Europa der Nationalstaaten schrittweise zu überwinden und diese Europäische Union zu einer politischen Union fortzuentwickeln. Diese Frage steht auf der Tagesordnung. Vor dieser Frage dürfen wir uns nicht verstecken. Das ist meine feste Überzeugung.

Die Unruhe an den Finanzmärkten hat nicht nur mit der Finanzsituation Griechenlands, Irlands oder Portugals zu tun. Die Fragen, die die Finanzmärkte stellen, sind fundamentaler Natur. Es sind Fragen, die auch die Menschen stellen. Darin drücken sich Zweifel an der Funktionsfähigkeit der europäischen Institutionen aus. Es gibt Zweifel an der Reichweite europäischer Solidarität und an der europapolitischen Zuverlässigkeit der Deutschen. Darüber reden wir in diesen Tagen. Diese Zweifel beseitigen wir nicht im täglichen Klein-Klein. Da muss ein großer Sprung her.

Deshalb   da bin ich mir sicher   werden wir diese Zweifel, die ich eben beschrieben habe, nur beseitigen, wenn wir auf die sich stellenden Fragen klar und unmissverständlich antworten.

Keine Einzelmaßnahme   nicht die Aufstockung des Rettungsschirms, kein Euro-Bond, nicht ein weiteres EZB-Aufkaufprogramm   wird in der Lage sein, die Zweifel zu überwinden, von denen ich spreche. Wir brauchen aus meiner Sicht einen wirklich umfassenden Ansatz, der aus drei Elementen besteht:

Erstens. Wir brauchen die Gläubigerbeteiligung durch einen intelligenten Haircut. Die Krisenstaaten Griechenland, Irland und Portugal werden auf absehbare Zeit   das wissen Sie in der Regierung auch   nicht in der Lage sein, auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zurückzukommen. Wenn die Anpassungslast am Ende nicht allein bei den europäischen Steuerzahlern ankommen soll   darum geht es mir  , dann muss der Weg der Gläubigerbeteiligung durch einen intelligenten Haircut beschritten werden, bevor die EZB die schlechten Anleihen wieder ins Portfolio aufnimmt.

Zweitens   das wird unumgänglich sein, wenn wir im Januar 2011 nicht wieder über dieselben Themen mit der derselben Tagesordnung miteinander reden wollen  : Damit die Krise nicht noch auf andere stabile Volkswirtschaften in Europa übergreift, brauchen wir ein klares Signal europäischer Solidarität. Ich sage Ihnen voraus, dass dieses Zeichen der europäischen Solidarität   auch wenn wir das heute verdrängen; wir werden dazu gleich noch mehrere Redner von Ihnen hören   höchstwahrscheinlich eine Unterfütterung durch einen erweiterten europäischen Rettungsschirm braucht.

Drittens. Wir müssen endlich den Geburtsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion beseitigen und zu einer politischen Union kommen. Eben wurde dazwischengerufen: Euro-Bonds. Ich finde, wir sollten uns zu schade sein, die Fragen, die uns im Augenblick gestellt werden, immer nur mit Ja oder Nein zu beantworten. Wenn wir zu der politischen Union kommen wollen   und zwar mit europäischer Solidarität, wie ich sie verstehe  , dann müssen die Antworten anspruchsvoller ausfallen. Jeder von uns, auch auf dieser Seite des Bundestages, weiß, dass die Antwort nicht allein „Euro-Bonds“ lautet.

Den Weg zur politischen Union werden wir nur gehen können, wenn wir uns in Europa auf klare Regeln und solide Haushaltspolitik sowie auf Mindeststandards für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik verständigen. Das gilt aber auch da, wo die Verständigungen am stärksten blockiert waren, etwa im Steuerrecht. Es kann doch nicht sein, dass Länder wie Irland oder durch neue Entscheidungen jetzt auch Ungarn ihre Standards zulasten anderer Mitgliedsländer nach unten verändern.

Da brauchen wir eine engere wirtschaftspolitische Abstimmung und Homogenisierung.

Dann sage ich Ihnen: Ja, in diesem Zusammenhang macht auch das Nachdenken über limitierte Euro-Bonds einen Sinn. In diesem Zusammenhang sind sie tatsächlich verantwortbar. Wir sollten uns endlich aus einer kleinlichen Instrumentendebatte befreien, die uns mit den immer gleichen Fragen und den immer gleichen Antworten aufgedrängt wird. Wir müssen vielmehr die Größe der Frage erkennen, die wir hier zu beantworten haben.

Frau Merkel, auch wenn Sie in der Regierungserklärung etwas anderes gesagt haben, sage ich Ihnen voraus: Das meiste von dem, was ich eben als Aufgabe beschrieben habe, wird kommen, und zwar nicht nur, weil es vernünftig ist, sondern weil wir die Risiken, mit denen wir im Augenblick zu kämpfen haben, für die Zukunft vermeiden wollen.

Ob wir den im Augenblick in Europa bestehenden Grundzweifel an Deutschlands europapolitischer Glaubwürdigkeit beseitigen können, hängt von der entscheidenden Frage ab, wie wir uns in dem Diskussionsprozess der nächsten Wochen darstellen, ob das alles gegen den Widerstand eines unentschiedenen, zögernden und zweifelnden Deutschlands kommt oder ob wir die Kraft für wirkliche Gestaltung in Europa zurückgewinnen. Ehrlichkeit, Mut und Klarheit, das ist aus meiner Sicht gefragt, nicht leere Hoffnung und Angst. Unsere Partner erwarten von uns - darauf weise ich ausdrücklich hin - ein klares Bekenntnis zum europäischen Projekt. Sie erwarten, dass wir uns eben nicht wegducken, sondern dass wir Verantwortung übernehmen. Wenn ich sage „Verantwortung übernehmen“, dann meine ich die europäische Verantwortung. Damit wir uns nicht missverstehen: Wenn wir europäische Verantwortung übernehmen, dann liegt das im deutschen Interesse.

Herzlichen Dank.