Hans-Ulrich Klose (SPD):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es war eine sehr kluge Entscheidung der Geschäftsführer, die Debatte über den SPD-Antrag zu den transatlantischen Beziehungen auf die Zeit nach den amerikanischen Wahlen zu schieben; denn jetzt, einen Tag danach, wissen wir jedenfalls, mit welchem Präsidenten und mit welchem Kongress wir es zu tun haben: wie gehabt mit Barack Obama und mit einem republikanischen Haus. Same procedure also?

Nein, meine Damen und Herren, nicht ganz. Der Präsident hat weitere vier Jahre Zeit, um zu bewirken, was er in den ersten vier Jahren nicht bewirken konnte, vor allem dies: die Wirtschaft wieder voranzubringen und die zunehmende Spaltung des Landes in sehr Reiche und sehr Arme ‑ eine gefährdete Mittelschicht dazwischen ‑ zu überwinden. Ob ihm das gelingen wird, hängt nicht allein von seiner Führungskraft ab; es hängt auch ab von der Bereitschaft der republikanischen Führung, sich aus der Umklammerung von Tea Party und Grover Norquist zu befreien. Ich weiß nicht, wer von beiden schwieriger ist.

Auf deren Einsicht zu hoffen, halte ich für ziemlich verwegen. Die republikanische Führung hat aber bei dieser Wahl ‑ hoffe ich ‑ gelernt, dass bedingungslose Konfrontation weder dem Land dient noch der republikanischen Partei. Es geht nicht ohne Kompromissbereitschaft und ein Mindestmaß an Bipartisanship.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gilt schnell zu lernen, meine Damen und Herren; denn Amerika steuert zu auf das sogenannte „fiscal cliff“. Wenn es zum Ende dieses Jahres keine Vereinbarung zur Haushaltspolitik gibt, kommt es durch Wegfall von Steuervergünstigungen faktisch zu Steuererhöhungen und zugleich zu kräftigen Einschnitten in den Haushalt. Die Rede ist von Einsparvolumina von circa 600 Milliarden US-Dollar - Untergrenze.

Die Folgen solcher Einschnitte für die Wirtschaft wären gravierend. Sie abzuwenden und zugleich die Weichen für mehr Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigung zu stellen ‑ darum geht es, übrigens nicht nur aus amerikanischer Sicht. Für die ganze Welt ist es wichtig, wie sich die amerikanische Wirtschaft entwickelt, auch für uns. Denn noch immer ist Amerika für Europa der wichtigste Handels- und Wirtschaftspartner - und umgekehrt. Amerikanische Investitionen sichern Arbeitsplätze in Europa. Europäische, vor allem auch deutsche, Investitionen in den USA sichern dort amerikanische Arbeitsplätze.

Deutschland ist aus amerikanischer Sicht ein wichtiger ökonomischer Partner, nicht zuletzt weil Deutschland in Amerika als Beispiel gesehen und sogar auch ein bisschen bewundert wird, weil es uns bisher trotz massiver Konkurrenz zum Beispiel aus China gelungen ist, unsere produktive industrielle Basis zu behalten und sogar auszubauen.

Deutschland ist deshalb ein Partner, der bei der dringend notwendigen Reindustrialisierung Amerikas helfen kann, auch weil deutsche Firmen, die in den USA investieren, ihre Arbeitskräfte vor Ort finden und schulen. Ich habe das vor einem Jahr in einem VW-Werk in Chattanooga gesehen und zuletzt bei Stihl in Virginia Beach.

Die Zusammenarbeit ist rundherum gut und könnte noch besser werden, wenn es, ja wenn es endlich gelänge, das Projekt einer transatlantischen Freihandelszone in die Tat umzusetzen. Das ist nicht einfach, weil, wenn es um Regeln und Standards geht, es auf beiden Seiten des Atlantiks und, zugegeben, auch innerhalb der EU deutlich unterschiedliche Auffassungen gibt. Der Nutzen einer transatlantischen Freihandelszone wäre aber groß. Deshalb hat die Bundesregierung sich wiederholt für die Errichtung einer solchen Freihandelszone ausgesprochen. Auch der Kollege Polenz hat sich kürzlich noch einmal dazu geäußert - wie ich finde, zu Recht. Denn es liegt auch an uns, das Projekt voranzutreiben. Die Amerikaner sehen jedenfalls Deutschland als das europäische Powerhouse. Sie erwarten, dass Deutschland seine ökonomischen Stärken politisch-strategisch nutzt, zum Vorteil Europas und des gesamten Westens.

Meine Damen und Herren, die Zeiten westlicher Dominanz gehen zu Ende. Der Anteil westlicher Länder an der Weltbevölkerung nimmt ab auf bald nur noch 12 bis 13 Prozent. Die westliche Führungsmacht Amerika steckt in einer innenpolitischen Krise, die durch die jüngsten Wahlen nicht einfach aufgelöst worden ist. In den USA ist ‑ nicht nur vereinzelt ‑ die Rede von „decline“, also Abstieg. Der Glaube, dass Demokratie und Marktwirtschaft einander bedingen und wirtschaftlicher Erfolg nur in einer Demokratie möglich sei, ist durch China erschüttert.

China ist erfolgreich, aber ganz sicher keine Demokratie. Das verursacht hier und da ideologische Kopfschmerzen. Manch einer erwartet, dass die westliche Führungsmacht von China eingeholt und sogar überholt werden könnte. Ich teile diese Besorgnis nicht. Ich kenne mich in der amerikanischen Geschichte ein bisschen aus und weiß, dass Amerika es mehr als einmal geschafft hat, Zeichen von Schwäche und Konflikten zu überwinden. Jedenfalls hat Amerika nicht nur aus meiner Sicht die deutlich besseren Chancen, seine Führungsposition zu erhalten.

Amerika ist ein großes Land und verfügt, anders als China, über reichhaltige Bodenschätze, vor allem über ausreichend Energievorräte. Amerika ist, anders als China, in der Lage, seine wachsende Bevölkerung aus eigener Kraft zu ernähren und produziert Nahrungsmittel über den eigenen Bedarf hinaus für den Export. Amerika hat in seiner Nachbarschaft keine relevanten Feinde. Amerika ist ein attraktives Land mit hohem Innovationspotenzial; der Kollege Mißfelder hat darauf hingewiesen. Amerika ist ein Land mit freiheitlicher Verfassung, ein freies Land, in dem jeder und jede eine Chance für persönlichen Aufstieg hat. Nicht zuletzt deshalb ist Amerika als Zuwanderungsland attraktiv für junge Menschen aus aller Welt. Und ‑ um auch dies zu erwähnen ‑: Amerika wird noch lange Zeit die stärkste Militärmacht bleiben.

Ich glaube deshalb ‑ um es noch einmal zu sagen ‑, dass Amerika mit den neuen Herausforderungen fertigwerden kann. Aber es bleibt auch richtig: Amerika und der Westen sind herausgefordert. Wir müssen uns diesen Herausforderungen stellen.

Amerika hat das lange vor Europa erkannt. Es hat sich nach der Zeitenwende 1989/90 strategisch neu aufgestellt, schrittweise, aber konsequent Richtung Asien und Pazifik. „Pivot to Asia“, das war die Kurzformel der strategischen Neuausrichtung, in deren Verlauf sich der amerikanische Präsident selbst einen pazifischen Präsidenten nannte. „Pivot to Asia“, das klang für manche europäische Ohren nach Abwendung von Europa, war aber nie so gemeint und ist deshalb, um Missverständnisse zu vermeiden, inzwischen durch das Wort „rebalancing“ ersetzt worden.

Das bedeutet Herstellung einer neuen Balance zwischen andauerndem US-Engagement in Europa und verstärktem Engagement der pazifischen Macht Amerika in Asien, also ausdrücklich nicht Abwendung von Europa, sondern die Zusicherung, auch künftig im NATO-Rahmen in Europa engagiert zu bleiben, verbunden allerdings mit der Forderung an die Europäer, künftig mehr zu tun, mehr Verantwortung zu übernehmen, und zwar, Herr Kollege Mißfelder, in doppelter Hinsicht: Zum einen erwarten die Amerikaner von den Europäern einen höheren, effektiveren Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit. Das Missverhältnis zwischen amerikanischen NATO-Aufwendungen, circa 70 Prozent, und denen der Europäer, zusammen nur etwa 30 Prozent, ist offensichtlich und aus amerikanischer Sicht nicht akzeptabel.

Es geht aber nicht nur um Geld und Fähigkeiten, sondern auch um strategisches Burden Sharing. Amerika will, dass sich die Europäer um die Probleme in der europäischen Peripherie selbst kümmern. Amerika hilft, wenn nötig, will aber nicht führen. Das war so im Fall Libyen und wird, fürchte ich, so sein im Fall Mali. Weil das so ist, macht es Sinn, dass sich die Europäer vorher darüber verständigen, was sie mit welchen politischen und/oder militärischen Mitteln in Mali oder in ähnlich gelagerten Fällen erreichen wollen. Die Betonung, dass es sich nur um eine Ausbildungsmission handele, trägt allein nicht. Europa braucht mehr Gemeinsamkeit und, wenn ich das so sagen darf, mehr Entschlossenheit, um als europäischer Akteur in der transatlantischen Zusammenarbeit ein relevanter Partner zu bleiben oder zu werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deutschland, so hört man es gelegentlich in den USA, dürfe nicht zu einem Land der Neinsager werden; es müsse bereit sein, mehr Verantwortung zu übernehmen. Ich weiß, meine Damen und Herren, das alles klingt eher ein bisschen bedrohlich in den Ohren all jener, die weiterhin auf eine Politik der Zurückhaltung setzen. Diese Politik war historisch begründet. An der Richtigkeit der Gründe war und ist nicht zu zweifeln. Die Schlussfolgerungen müssen aber überdacht und den Realitäten der heutigen Zeit angepasst werden. Für Europa und für Deutschland in Europa gilt die Formel „pivot to reality“. „Pivot to reality“ bedeutet nicht, die Prinzipien einer wertorientierten Außen- und Sicherheitspolitik infrage zu stellen. Die Orientierung an Werten ist konstitutiv für das Selbstverständnis des Westens. Es ist aber eben auch richtig, dass eine wertorientierte Außenpolitik an den oft widrigen Realitäten nicht vorbeidiskutieren kann. Wir müssen sie zur Kenntnis nehmen, nicht resignierend oder zynisch, sondern in guter Weise pragmatisch.

Was, meine Damen und Herren, bedeutet das für die praktisch-politische Arbeit der nächsten Jahre, vielleicht Jahrzehnte?

Erstens. Die strategische Neuorientierung der US-Außenpolitik in Richtung Pazifik liegt nicht nur im amerikanischen Interesse. Auch Europa muss die geostrategischen Veränderungen in Richtung Pazifik zur Kenntnis nehmen. Vor allem das exportorientierte Deutschland ist an berechenbar stabilen Verhältnissen in Ostasien in besonderer Weise interessiert. Da es für die EU und einzelne Mitgliedstaaten der EU eine pazifische Machtprojektion nicht gibt, muss sie sich einmal mehr auf das stabilisierende Potenzial der USA verlassen, insbesondere darauf, dass die USA wie auch China auf ein kooperatives Miteinander hinarbeiten und Konflikte vermeiden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Deutschland hat Einfluss in den USA und in China. Mit China verbindet uns eine, wie es heißt, strategische Partnerschaft. Strategisch oder nicht ‑ richtig ist, dass Deutschland aus chinesischer Sicht ein wichtiger Akteur ist, politisch und ökonomisch. Die Stimme Deutschlands hat Gewicht in China. Das sollten wir in Abstimmung mit unseren europäischen Partnern nutzen, um unsere europäische Perspektive positiv zu Gehör zu bringen ‑ in China und darüber hinaus.

Drittens. Politisch muss es unser Ziel sein, die europäischen Lehren aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts global auszuwerten; will sagen: Der europäische Gedanke von gemeinsamer Sicherheit und Sicherheitspartnerschaft könnte auch in anderen Weltregionen an Bedeutung und Zustimmung gewinnen. ASEAN und ASEAN-Staaten sind Ansprechpartner, um die wir uns intensiv und hochrangig bemühen sollten.

Viertens. Deutschland ist ein Partner in Leadership, zuerst und vor allem in Europa. In Europa gibt es heute Schwierigkeiten rund um den Euro. Das eigentliche Problem ist aber nicht der Euro, sondern das mangelnde Bewusstsein von europäischer Zusammengehörigkeit und Identität.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wechselseitige Vorurteile und Ressentiments sind im Verlauf der Euro-Krise überdeutlich zutage getreten. Es wird schwer sein, neuerliche wechselseitige Verwundungen zu heilen.

Fünftens. Die Erfahrung eigener Unzulänglichkeit sollte uns im Auftreten ‑ ich betone: im Auftreten! ‑ etwas bescheidener machen, wenn wir international agieren. Europäer, zumal wir Deutschen, haben eine Neigung zu, wenn ich das so sagen darf, missionarischen Auftritten mit erhobenem Zeigefinger. Vor allem im Umgang mit den neuen Akteuren in Asien wird uns das immer wieder vorgehalten. Die Welt ist eben nicht so, dass alle Staaten und Völker sich an gleichen universellen Werten orientieren. China zum Beispiel lehnt das ausdrücklich und mit chinesisch-philosophischer Begründung ab. „Kommt uns bloß nicht mit Kant“, titelte die FAZ, als sie über eine Philosophenkonferenz in China berichtete. Gleichwohl müssen wir mit China wie auch mit Russland oder mit Staaten der islamischen Welt kooperieren, deren Wertvorstellungen und Verhalten in Sachen Menschenrechte unseren europäischen Vorstellungen nicht entsprechen. Es geht nicht anders ‑ das wissen wir ‑, auch wenn wir es gern anders hätten.

Zum Schluss erlauben Sie mir eine sehr persönliche Bemerkung. Ich weiß, Dankbarkeit ist in der Politik keine belastbare Größe. Als kindlicher Zeitzeuge der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre erlaube ich mir aber bei dieser Gelegenheit ein Wort des Dankes an die Amerikaner. Ohne sie wären wir nicht, wo wir heute sind.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE))

Ohne sie hätten wir weder die deutsche noch die europäische Teilung überwunden. Ich denke, wir sollten uns hin und wieder an diese Wahrheit erinnern.

Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)