Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, niemand hat Sie gezwungen, heute Morgen eine Regierungserklärung abzugeben.

Aber ich finde, wenn Sie eine abgeben, dann hat das Parlament mehr verdient als diesen leidenschaftslosen Rechenschaftsbericht.

Vielleicht habe ich eine andere Wahrnehmung als Sie, aber ich meine, die Welt brennt in diesen Tagen. Der arabische Teil ist in Aufruhr. Wenn mich nicht alles täuscht, dann stehen im Nahen Osten die Zeichen wieder auf Sturm. Pakistan treibt in einen Konflikt mit den USA. Was ist unsere Antwort darauf? Was ist die Antwort des größten Landes in Europa? Was Sie hier vorgetragen haben, ist Außenpolitik in Lethargie. Die Welt erwartet mehr von uns.

Frau Bundeskanzlerin, was Sie eben vorgetragen haben, reiht sich in eine Reihe von außen- und europapolitischen Erklärungen ein, die wir in den letzten Monaten von diesem Pult aus von Ihnen gehört haben. Es ist noch keine sieben Monate her, als Sie hier auch über Deauville gesprochen haben. Ein Strandspaziergang mit dem französischen Präsidenten, und ganz Europa war vor den Kopf geschlagen. In Wahrheit sammeln Sie noch heute die Scherben von dem Geschirr ein, das an diesem Tag in Deauville zerschlagen worden ist. So ist es doch, meine Damen und Herren.

Deauville ist kein Glanzpunkt der internationalen Politik. Es ist eher so etwas wie ein Menetekel für Orientierungslosigkeit in Europa geworden.

Bei Lichte betrachtet sind wir innerhalb der noch nicht ganz letzten zwei Jahre von einer anerkannten, respektierten Führungsnation in Europa, die sich selbst die Aufgabe gestellt hat, den täglichen Ausgleich, die Balance in Europa immer wieder neu herzustellen, zu einer Nation geworden, die an die europäische Peripherie geraten ist. Die Kleinen in Europa sind irritiert. Sie wissen nicht mehr, woran sie mit Europa sind, und zweifeln an unserer Verlässlichkeit. Die Großen, Frankreich und Großbritannien, treffen Vereinbarungen an uns vorbei.

Glauben Sie mir: Ich sage das nicht einfach so dahin. Ich sage es, weil ich es mir anders wünschte. Aber ein ums andere Mal kommen Sie mit demselben Ergebnis zurück: nichts in der Hand, aber alle gegen sich.

Für unser Land geht das auf Dauer nicht. Es kostet Respekt und Ansehen, und das aufs Spiel zu setzen, steht nicht in der Verfügungsgewalt dieser Regierung.

Wo bleibt der außenpolitische Gestaltungsanspruch dieser Regierung? Das frage ich mich. Was haben wir unseren Partnern und Verbündeten zu bieten? Wo gibt es Initiativen? Wo ist das Konzept? Wo ist Bewegung in irgendeinem der Problembereiche, die Sie beschrieben haben? Wo sind die Ideen, die Bewegung auslösen? Wie wir eben gehört haben, sind Sie in Gipfelroutinen und Erklärungsroutinen erstarrt. Sie fahren zu dem G-8-Gipfel nach Deauville ohne einen einzigen substanziellen Beitrag. Das haben Sie selbst eben vorgetragen. Unterstützen, beitragen, begrüßen – das waren die meistgebrauchten Vokabeln in Ihrer Regierungserklärung. Aber genau das ist zu wenig für ein Land wie Deutschland.

Ich bin mir sicher: Sie würden mir nicht einmal in allen Punkten widersprechen. Auch Sie spüren in der Tat, dass sich etwas verändert, auch im Verhältnis zu unseren wichtigsten Verbündeten, insbesondere im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Mich würde es sehr verwundern

– passen Sie auf! –, wenn in den letzten Tagen die Drähte zwischen Washington und Berlin bzw. Berlin und Washington nicht geglüht hätten, wenn nicht verzweifelte Versuche stattgefunden hätten, den amerikanischen Präsidenten wenigstens bei dieser Europareise zu einem Abstecher nach Berlin zu bewegen. Ich weiß doch, dass es jeden Morgen schmerzt, wenn man in diesen Tagen die Bilder aus Irland, die Bilder aus Großbritannien, ab heute Nachmittag die Bilder aus Frankreich und dann aus Polen sieht, aber wieder kein Weg Obamas in die deutsche Hauptstadt führt. Noch schmerzhafter, Herr Kauder, muss doch sein, wenn geschrieben wird: Selbst zu Zeiten von George Bush und Gerhard Schröder war das Verhältnis zu den USA nicht so kraftlos und lethargisch wie heute. Die transatlantischen Beziehungen dämmern dahin. Das ist der traurige Befund.

Schauen wir zur anderen Seite, Herr Kauder. Schauen wir Richtung Osten. Herr Westerwelle, ich begrüße ausdrücklich das Dreiertreffen, das mit Russland und Polen in Kaliningrad stattgefunden hat. Aber das ist natürlich noch keine Politik gegenüber dem großen Nachbarn im Osten. In der Großen Koalition, Frau Bundeskanzlerin, hatten wir immerhin die Kraft, so etwas wie eine Modernisierungspartnerschaft mit Russland auf den Weg zu bringen. Was ist aus dieser Initiative geworden? Wer treibt dieses Thema? Auch da Routine, nichts als Routine! Ich sehe keine neuen Ideen. Bei den bestehenden Vorhaben sehe ich jedenfalls nicht, dass mit Energie weitergearbeitet wird. Ich bitte Sie: Lassen Sie uns doch wenigstens das seit Monaten dahindümpelnde Visathema – das steht im Grunde genommen jeder Entwicklung im deutsch-russischen Verhältnis in fast allen Bereichen entgegen – mit einer gemeinsamen Initiative aus dem Parlament nach vorne bringen, allen Unterschieden zum Trotz. Da muss es doch gemeinsame Interessen zwischen den Fraktionen dieses Hauses geben.

Wenn ich von gemeinsamen Interessen spreche: Die gibt es mit Sicherheit und erst recht im Hinblick auf den Nahen Osten. Aber auch da stellt sich die Frage: Wo ist der wahrnehmbare deutsche Beitrag? Ich jedenfalls kann ihn nicht sehen. Es kann doch nicht sein, dass Deutschland sich in die Rolle des Zuhörers begibt, wenn ein amerikanischer Präsident darum ringt, eine Friedenslösung im Nahen Osten doch noch möglich zu machen. Da kämpft Herr Obama – Sie haben das in den letzten Tagen gesehen – mit der Autorität seines ganzen Amtes, und wir stehen an der Seitenlinie. Ich hoffe, dass ich mich täusche, aber das mit Ovationen im amerikanischen Kongress begleitete Nein Netanjahus zu der Initiative Obamas könnte eine neue Runde im Nahostkonflikt eingeläutet haben. Unsere einzige Antwort, Frau Merkel, kann darauf nicht das angekündigte Nein zur Abstimmung über ein unabhängiges Palästina in der Generalversammlung der Vereinten Nationen sein. Das kann es noch nicht gewesen sein.

Professionalität ist hier gefragt. Deshalb sage ich: Man kann zum jetzigen Zeitpunkt natürlich kein Ja ankündigen; das weiß ich. Sie wissen, dass mir Israel nicht weniger am Herzen liegt als Ihnen. Aber gerade deshalb ist die öffentliche Festlegung auf ein Nein zum jetzigen Zeitpunkt so etwas wie die Carte blanche für all diejenigen, die keine Verhandlungen wollen. Deshalb war das falsch, meine Damen und Herren.

In Wahrheit gehören doch der Konflikt im Nahen Osten und die Ereignisse in der arabischen Welt ganz eng zusammen. Ich vermute, so wird es auch auf G-8-Ebene diskutiert. Das, was wir im Augenblick in Nordafrika erleben, ist wahrscheinlich der einschneidendste Wandel in der internationalen Politik seit dem Fall der Mauer. Das passiert nicht irgendwo auf der Welt, sondern an den südlichen Grenzen der Europäischen Union, in der engsten Nachbarschaft zu Europa. Und Europa? Europa ist außerstande, darauf eine wirklich kraftvolle Antwort zu geben – Tage und Wochen von Sprachlosigkeit, von allgemeinen Statements. Es ist ein wenig beschämend für Europa, dass auch hier wieder ein amerikanischer Präsident die Größe der Aufgabe, die vor uns steht, beschreiben muss, konkrete Zeichen der Unterstützung setzt. Das zu beschreiben, was Obama vergangene Woche in seiner Rede getan hat, wäre doch unsere Aufgabe, Europas Aufgabe gewesen.

Zugegeben: Man kann den Vergleich für schief halten, man kann den Namen für falsch halten, aber natürlich brauchen wir etwas für den Maghreb, das die Qualität eines Marshallplans hat. Eines liegt doch auf der Hand: Wenn der Aufstand gegen die Autokraten in der Maghreb-Region, wenn der Schrei nach Demokratie dort den Menschen am Ende größere Unsicherheit, höhere Arbeitslosigkeit oder mehr Armut bringt, dann ist die Zukunft in diesem Teil der Welt höchst ungewiss. Demokratie braucht Demokraten – das weiß aufgrund seiner Geschichte kein Land besser als unseres. Deshalb freuen wir uns für diejenigen, die sich dort Freiheit erkämpft haben, für die Menschen in Tunesien, in Ägypten. Aber es ist eben auch unser Interesse, dass die Freiheit dort bleibt, dass der Weg in Richtung Freiheit und Demokratie dort weiter beschritten wird.

Deshalb reicht der Schutz vor Flüchtlingen, was in den letzten Monaten in der Öffentlichkeit Europas das beherrschende Thema war, nicht aus. Das ist keine Antwort. Was nottut, ist eine echte Entwicklungspartnerschaft mit der Maghreb-Region, ausbuchstabiert von der Demokratisierungshilfe in europäischer Arbeitsteilung über den Auf- und Ausbau rechtstaatlicher Verwaltungsstrukturen bis hin zur ökonomischen Entwicklung. Das betrifft die Investitionen, die dort dringend gebraucht werden, aber auch – auch das darf nicht tabuisiert werden – die Öffnung der europäischen Märkte für Waren und Dienstleistungen aus der Region. Außer lauen Ankündigungen war davon nichts zu hören, und das ist eindeutig zu wenig.

Über Europa werden wir in diesem Hause bei anderer Gelegenheit reden. Reden müssen wir – zum Beispiel darüber, welche Folgen es hat, wenn man bei Auftritten in Brüssel europäische Solidarität verkündet, Sorge um das gemeinsame Ganze äußert, aber dann bei Auftritten im Sauerland den Stammtisch bedient und Vorurteile wider besseres Wissens schürt.

Dazu wird Gelegenheit bestehen. Heute spielt ein ganz anderer Aspekt eine Rolle.

Meine Damen und Herren, wie viel Respekt sich ein Land in der Außenpolitik erarbeitet – hören Sie bitte zu –, hängt nicht von der Teilnahme an Gipfeltreffen ab. Das ist kein Gradmesser dafür. Wertschätzung kommt dann zum Ausdruck, wenn zum Beispiel auch deutsches Personal in internationalen oder europäischen Institutionen gefragt ist.

In Europa haben Sie, wenn ich das richtig sehe, mit dem Verzicht auf den Posten des EZB-Präsidenten, auf den Ihr ganzes Personalpaket zugeschnitten war, gerade erst Ihr Waterloo erlebt. Weil das so ist, präsentieren Sie jetzt offenbar vor lauter Angst, dass es wieder schiefgehen würde, und präsentieren damit wir als größte Volkswirtschaft in Europa keinen eigenen Kandidaten für den IWF-Posten.

Das ist Angst, und das kann nicht die Rolle unseres Landes sein. Zuhören und begrüßen, das ist nicht das, was wir von der Bundesregierung bei solchen Gipfeln erwarten.

Eines ganz zum Schluss. Zu Hause sind Sie im Augenblick heftig dabei, Ihre jahrelangen Irrtümer in der Energiepolitik zu beseitigen. Was Sie im Augenblick tun, ist nicht die Vorbereitung einer Energiewende; darauf lege ich Wert. Die Energiewende gab es bis zum letzten Herbst. Der Atomausstieg stand im Gesetz, und die erneuerbaren Energien sind gegen Ihren erbitterten Widerstand durchgesetzt worden. Das war die Energiewende.

Was wir jetzt sehen, ist nicht die Energiewende, das ist Ihre Wende, die Wende von Union und FDP, die Sie jetzt zur nationalen Angelegenheit erklären. Das ist ein durchsichtiger Trick. Den wird Ihnen die Öffentlichkeit in diesem Land nicht durchgehen lassen.

Wer so etwas tut, der ringt ganz offenbar um Glaubwürdigkeit, die ihm in den letzten Monaten irgendwie abhandengekommen ist. Wenn Sie nach den vielen Volten, nach den Pirouetten, nach den Kehrtwendungen, über die wir in den letzten Tagen und Wochen immer wieder gestritten haben, jetzt Glaubwürdigkeit in der Energiepolitik zurückgewinnen wollen, dann hätte ich doch wenigstens zu diesem Bereich heute Morgen von Ihnen Konkretes erwartet in der Frage, was Sie im Rahmen der G 8 tun wollen. Es liegt doch auf der Hand, dass man dann eine glaubwürdige Initiative im internationalen Rahmen von G 8 startet. Wir werden – das weiß auch ich, das wissen auch wir – nicht den Rest der Welt von heute auf morgen davon überzeugen können, dass wir auf Atomkraft verzichten – trotz Fukushima. Aber was ich nach der innerdeutschen Debatte der letzten Tage und Wochen doch erwartet hätte, das ist eine deutsche Initiative – hier sichtbar, hier heute Morgen diskutiert – zu Mindeststandards für die Sicherheit von Kernkraftwerken weltweit.

Stattdessen freuen Sie sich, dass Sie Ihren japanischen Kollegen in Deauville treffen; das ist eindeutig zu wenig.

Frau Merkel, Ihre Regierungserklärung heute Morgen erlaubt einen tieferen Einblick in die deutsche Außenpolitik dieser Tage, als Sie vielleicht wollten, und das genau erfüllt nicht nur die Opposition in diesem Hause mit Sorge.

Herzlichen Dank.