Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

herzlich willkommen zu unserer Konferenz über die Ergebnisse des vierten Armuts- und Reichtumsberichts. Man hat ja den Eindruck, wenn es nach der Bundesregierung ginge, dann sollte diese Veranstaltung am besten gar nicht stattfinden.

Was haben die nicht alles getan, um die Veröffentlichung des Berichts zu verzögern, zu relativieren und am besten ganz untergehen zu lassen. Erst hieß es, der Entwurf wird vor der Sommerpause veröffentlicht. Dann wird das verschoben. Dann werden einzelne Inhalte doch an die Presse durchgestochen. Und vom Wirtschaftsminister sofort in Frage gestellt. Das Kabinett hat sich bis heute nicht damit befasst.

Das zeigt doch zweierlei: Erstens, mal wieder, dass es der schwarz-gelben Regierung gut tun würde, mehr mit- als übereinander zu reden. Und zweitens, dass es dieser Regierung nicht ernst ist mit der Armutsbekämpfung in unserem Land – ja, dass die Frage des sozialen Zusammenhangs eine Frage ist, die diese Regierung weitgehend kalt lässt.

Dabei ging es uns damals, als wir nach der rot-grünen Regierungsübernahme schnell die Einführung eines Armuts- und Reichtumsberichts beschlossen haben, doch genau darum: Dass sich die Politik, die Regierung, regelmäßig mit der Frage der Verteilung von Armut und Reichtum beschäftigen muss. Dass dafür belastbare Zahlen herangeschafft werden. Und dass damit auch über politische Handlungsoptionen diskutiert werden muss. Wörtlich haben wir damals in unserem Antrag formuliert: „Einer gerechteren Verteilung von Wohlstand und Arbeit kommt entscheidende Bedeutung für die Entwicklung unseres Landes zu. Armuts- und Reichtumsberichterstattung sind eine Voraussetzung für eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes und damit für die Beseitigung der Armut.“

Nichts davon ist inzwischen überholt, Diagnose und Therapie bleiben richtig beschrieben. Und deshalb ist es unverantwortlich, die Fortschreibung des Berichtes immer weiter zu verschleppen.

Ich bin dennoch froh, dass meine Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion, die Mitglieder der AG Verteilungsgerechtigkeit, die Verzögerungstaktik der Regierung durchkreuzen. Wir warten nicht auf einen formalen Kabinettsbeschluss. Und müssen das auch nicht. Mitte Oktober berichtete das Statistische Bundesamt über wachsende Armut in Deutschland. 16 Millionen aller Deutschen sind nach dessen Berechnungen von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. 16 Millionen, das sind fast 20% unserer Bevölkerung!

Und nur eine Woche später veröffentlichte die Bundesbank neue Zahlen, nach denen das Geldvermögen der Deutschen so hoch ist wie nie zuvor – zumindest zusammengerechnet. Im Frühjahr, mitten in der europäischen Finanzkrise, addierte sich das Geldvermögen aller privaten Haushalte auf eine Rekordsumme von 4,8 Billionen Euro!

So arm wie lange nicht, so reich wie nie zuvor – zwei Meldungen, die nicht zusam-menpassen scheinen. Da ist etwas aus dem Lot geraten. Und deshalb müssen wir heute über die Verteilung des Wohlstands in unserem Land reden, mit oder ohne Kabinettsbefassung!

Die Schere zwischen Arm und Reich spreizt sich weiter – dieser Befund wird gestützt durch die Fakten, die aus dem Entwurf des Vierten Armuts- und Reichtumsberichts bereits bekannt geworden sind. Dort steht etwa, dass viele Menschen, unter ihnen alarmierend viele Kinder, in einem Haushalt mit Einkommen weit unter dem Durchschnitt lebe. Und dass sich gleichzeitig das insgesamte Vermögen der privaten Haushalte (also zusätzlich zum Geldvermögen auch Immobilien) seit 1992 mehr als verdoppelt habe. Ich wiederhole: Verdoppelt!

Insgesamt, man ahnt es nach diesen Zahlen ja bereits, konstatiert der Bericht: Die Privatvermögen sind in Deutschland immer ungleicher verteilt. Zehn Prozent der Haushalte vereinen mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens auf sich. Die untere Hälfte der Haushalte verfügt im Gegenteil nur über rund ein Prozent des Nettovermögens.

Es geht dabei gar nicht nur um die Ungerechtigkeit dieser Zahlen an sich: Es geht um die soziale Balance in unserer Gesellschaft, und letztlich um unsere Demokratie. Wir haben in den letzten Jahren gelernt, dass einige Banken sys-temrelevant sind. Aber anscheinend haben wir verlernt, dass soziale Gerechtigkeit systemrelevant für unsere Demokratie ist. Es muss uns deshalb allen Sorgen machen, wenn mehr als die Hälfte aller Deutschen heute finden, dass es in unserem Land weitgehend oder sogar ganz und gar ungerecht zugeht.

Und ein weiterer Befund, der mir Sorgen macht: Während die Privatvermögen einiger Weniger wachsen, wird der Staat immer ärmer. Ersteres hat sich – ich habe es bereits gesagt – in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt; das Nettovermögen des deutschen Staates ist aber in der gleichen Zeit um 800 Milliarden Euro zurückgegangen.

Damit eins klar ist: Ich möchte hier keine Neiddebatte führen, oder Reiche an den Pranger stellenEs ist kein Verbrechen, wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Im Gegen-teil. Aber es kommt auf die Ausgewogenheit an. „Nur Reiche können sich einen schlanken Staat leisten“, lautete der Kampfspruch der Linken einmal. Und es stimmt: Wenn dem Staat die Puste ausgeht für wichtige Zukunftsinvestitionen, zum Beispiel in Bildung, dann sind es die Armen zuerst, die das merken. Wir wollen deshalb ganz bestimmt keinen Reichtum, keinen Wohlstand und keinen wirtschaftlichen Erfolg verhindern oder erschweren.

Aber wir müssen den Staat so handlungsfähig machen, dass er dafür sorgen kann, allen die gleichen Chancen auf Wohlstand, die gleichen Möglichkeiten zur Bildung, zum Aufstieg, zum eigenen Fortkommen zu geben. Das ist die sozialdemokratische Antwort auf soziale Ungleichheit!

Meine Generation hat gelebt vom Aufstieg durch Bildung. Wir konnten uns auf das Versprechen verlassen, dass es uns Kidnern einmal besser gehen würde als den Eltern. Das hat sich heute gedreht. Die bedrückendste Zahl aus einem OECD-Bericht, den ich neulich in die Finger bekam, war die: 22% der Schulabgänger in Deutschland machen heute einen niedrigeren Schulabschluss als ihre Eltern. Das Bildungsversprechen gilt so nicht mehr – aber das müssen wir wieder ändern!

Und wenn wir gleiche Chancen ermöglichen wollen, dann müssen wir Bildungsinvestitionen hochfahren. Und wenn wir einen handlungsfähigen, d.h. auch finanziell handlungsfähigen Staat brauchen, dann müssen wir öffentliche Verschuldung abbauen. Wir haben in den letzten Jahren ja alle miteinander gelernt, dass die dauerhafte Abhängigkeit von den Finanzmärkten keine Zukunftsoption sein kann.

Bildungsinvestitionen hoch, Staatsverschuldung runter: Beides zusammen geht nur – dafür reicht Adam Riese – wenn wir auch auf der Einkommenseite des Staates etwas verändern. Konkret: Wenn wir noch einmal über Steuerpolitik reden.

Meine Damen und Herren,
Sie wissen so gut wie ich: Wenn wir das Wort Spitzensteuersatz in den Mund nehmen, dann gibt es welche in der Regierung, die sofort laut aufheulen. Das haben wir wieder einmal gemerkt, als der Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichts in die Presse kam. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Von denen, die Steuersenkungen für ihre Klientelgruppen beschließen und auch noch auf  Pump finanzieren, von denen, die Prämien beschließen, um Kinder von Bildung und Sprachförderung fernzuhalten – von denen müssen wir uns nicht erzählen lassen, wie gerechte und zukunftsgewandte Steuerpolitik aussieht!

Und ich bin mir ehrlich gesagt auch sicher: Die Menschen können diese ewigen Versprechungen sowieso nicht mehr hören. Sie haben die Nase voll von ungedeckten Schecks und handwerklicher Pfuscherei. 75 Prozent der Deutschen sprechen sich inzwischen für eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes aus.

Unser Steuerkonzept nimmt das auf. Wie die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger wollen wir ein Land des sozialen Zusammenhalts, in dem starke Schultern mehr tragen als schwache. Wir schlagen deshalb eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 49% vor, der für Einkommen ab 100.000 Euro gelten soll. Gleichzeitig sollen auch die mehr beitragen, die über hohes Vermögen, über Erbschaften und Kapital verfügen. Noch einmal: Nicht aus Neid oder Anti-Reichen-Ideologie. Sondern, um notwendige Mehreinnahmen des Staates dort zu generieren, wo ausreichend finanzielle Ressourcen vorhanden sind. Im Kern ist das, worum wir bitten, eine Prise Patriotismus: Dass nämlich die, die in diesem Land – und auch mithilfe dieses Landes – wohlhabend geworden sind, ein wenig mehr mithelfen, um die unerlässlichen Aufgaben zu finanzieren.

Ganz wichtig ist mir, neben notwendigen Änderungen in der Steuerpolitik, aber ein zweiter Punkt. Die Christen sagen: Der Mensch lebt nicht von Brot allein. Und so wird auch mehr Geld allein nicht helfen, um die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen. Armut bekämpfen, das heißt auch und vor allem: Arbeitslosigkeit senken, für gute Arbeit sorgen, und endlich Mindestlöhne einführen.

Im Entwurf des Berichtes gibt das Ministerium es ja selbst zu: „Stundenlöhne, die bei Vollzeit zur Sicherung des Lebensunterhalts eines Alleinstehenden nicht ausreichen, verschärfen Armutsrisiken und schwächen den sozialen Zusammenhalt." Eine bessere Begründung für die Einführung von Mindestlöhnen gibt es doch nicht! Ich bin gespannt, ob sich die gesamte Bundesrgierung nun endlich darauf verständigen kann. Viel Hoffnung in die rationale Politik und Erkenntnisfähigkeit dieser Koalition besteht ja – ehrlich gesagt – nicht mehr!

Ich kann mir an dieser Stelle einen Verweis auf den Koalitionsgipfel am ver-gangenen Wochenende nicht verkneifen. Da hat man ja gemerkt, wie sich die Bundesregierung die Zukunft vorstellt. Es ist uns doch allen klar, dass die gute wirtschaftliche Entwicklung nicht ewig anhalten wird. Erste Anzeichen dafür gibt es jetzt schon dafür, dass es bald auch bei uns wieder ruckeliger zugehen wird. Die Bundesregierung setzt sich damit nicht auseinander – dabei kommen wir doch von einem hohen Niveau! So schwer wäre das gar nicht. Wir sind nicht in der Lage von Griechenland, Spanien oder Italien. Auf der Tagesordnung des Koalitionsausschusses stehen aber nur alte Ladenhüter: Betreuungsgeld und Praxisgebühr. Das das eine kommen und das andere abgeschafft würde, war doch schon vorher klar – da hätten sie sich gar nicht treffen brauchen! Interessanter ist, was fehlte auf der Tagesordnung. Es fehlte eine Regelung für Kurzarbeit, es fehlte eine Verabredung zum Erhalt der Tarifeinheit, es fehlte der Mindestlohn. Nicht nur keine Einigung – nicht mal gesprochen wurde darüber! Franz Müntefering hatte Recht, als er die Politik der Koalition neulich als „Politik ohne Morgen“ bezeichnet hat. Um die Zukunft kümmern die sich wirklich nicht.

Armut bekämpfen heißt auch Arbeitslosigkeit senken, das war ein Leitgedanke sozi-aldemokratischer Regierungspolitik. Über die Erfolge und Auswirkungen werden Sie sicherlich heute noch intensiv diskutieren. Ich freue mich, dass heute auch Markus Grabka vom DIW zu unseren Gästen und Impulsgebern zählt. In einer kürzlich erschienenen Studie hat er nämlich von einer Trendwende gesprochen, was die Auseinanderentwicklung der Einkommensverhältnisse angeht. Die Lohneinkommen besser- und geringverdienender Deutscher rücken wieder zu-sammen.

Das ist doch mal eine erfreuliche Nachricht! Und eine Nachricht, die damit zu tun hat, dass die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung endlich wieder zunimmt. Das dürfen nicht nur wir Sozialdemokraten auch einmal mit Stolz zur Kenntnis nehmen! Die Reformen, die wir in unserer Regierungszeit in Angriff genommen haben, waren schmerzlich. Aber das Ziel, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und mehr Menschen in Beschäftigung zu bringen, das haben wir erreicht.  Hilde Mattheis hat eben bereits über die Wichtigkeit der Primärverteilung gesprochen. Auch unser österreichischer Frend Alfred Gusenbauer, der frühere Bundeskanzler, hat uns bei unserem Zukunftskongress vor wenigen Wochen noch einmal ins Stammbuch geschrieben: Sekundärverteilung ist schön und gut – aber sie kann niemals korrigieren, was bei der Primärverteilung verloren geht. Deshalb brauchen wir nicht nur anständige Mindestlöhne, sondern wir brauchen vor allem anständige Tariflöhne!

Es ist jetzt ein guter Moment, um darüber zu reden, wie wir die Schere zwischen Arm und Reich verringern können. Denn unsere eigene Erfahrung zeigt – und die Studie aus dem DIW scheint das zu untermauern: Politik ist nicht machtlos. Wenn wir den Mut zur Gestaltung haben, können wir die Lebensverhältnisse der Menschen verbessern. Darüber wollen wir heute diskutieren – und ich freue mich, dass Sie alle mit uns nachdenken, mit uns reden und mit uns handeln wollen!  Herzlichen Dank.