Regierung hält Pflegebedürftige und Angehörige mit Ankündigungen zum Narren
In seiner Begrüßung verwies Frank-Walter Steinmeier darauf, dass die Bundesregierung bislang außer Ankündigungen nichts vorzuweisen hätte. Angefangen beim Koalitionsvertrag bis hin zum Ausruf des Jahres 2011 zum “Jahr der Pflege” durch Ex-Gesundheitsminister Rösler. Die eigentlich zugesagten Eckpunkte und der für den Sommer angekündigte Gesetzentwurf ließen weiter auf sich warten. Erst vor zehn Tagen hätte der neue Gesundheitsminister Bahr die Befassung der Eckpunkte im Kabinett zurückgezogen, weil die Koalition sich nicht einig sei. Dies käme einem politischen Offenbarungseid gleich. Dabei hätten die Menschen im Bereich der Pflege Erwartungen an die Politik. Pflegende Angehörige und Betroffene würden von Schwarz-Gelb zum Narren gehalten werden.
Die SPD-Bundestagsfraktion wolle ihr Orientierungspapier als Eckpunkte eines Pflegekonzepts zunächst diskutieren, um Kritik und Verbesserungsvorschläge mit aufzunehmen. Dazu diene auch diese Fachkonferenz, sagte Steinmeier.
SPD hat umfassenden Vorschlag für ein Gesamtkonzept Pflege vorgelegt
Die SPD-Fraktion wolle jetzt die Diskussion ihrer Vorschläge, um anders als die jetzige Regierung 2013 vorbereitet zu sein, erklärte die stellvertretende gesundheitspolitische Sprecherin Hilde Mattheis zu Beginn ihrer Erläuterungen zum Orientierungspapier der SPD-Fraktion.
Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff verankern
Niemand der pflegebedürftig sei dürfe abseits gestellt werden, er hätte ein Recht auf Teilhabe und wolle vor allem in seiner häuslichen Umgebung bleiben. Ein zentrales Anliegen einer Pflegereform sei ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff. Die SPD nehme anders als die Regierung die Arbeit des Beirats dazu, der noch im Auftrag der ehemaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt tätig war, ernst. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff würde sich nicht nur daran orientieren, was Betroffene körperlich noch in ihrem Lebensalltag selbstständig verrichten könnten, sondern auch worin sie durch psychische oder kognitive Defizite benachteiligt sind, erklärte Mattheis.
Mehr Unterstützung für Pflegebedürftige - gute Arbeit für Pflegekräfte
Die SPD wolle mit einem Gesamtkonzept Pflege für Pflegebedürftige die Unterstützung und Sicherung der Teilhabe ausweiten, Pflegepersonen weiter entlasten, gute Arbeit für Pflegekräfte ermöglichen und die Pflegeinfrastruktur in den Kommunen ausbauen. Die Potenziale der Familie, der Nachbarschaften, des ehrenamtlichen Engagements müssten gestärkt werden und mit professionellen Pflege- und Betreuungsstrukturen verknüpft werden. Dabei müssten die Bedürfnisse von pflegebedürftigen Menschen mit Migrationshintergrund in der Hilfeplanung berücksichtigt werden. Nötig sei eine umfassende sozialräumliche Planung, damit sowohl das Wohnumfeld als auch ambulante Betreuungsformen und Hilfeangebote den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen vor Ort entsprechen.
Mehrkosten für gute Pflege solidarisch finanzieren
Diese Ansprüche seien, so Hilde Mattheis mit Mehrkosten verbunden, doch es ginge dabei um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die soziale Pflegeversicherung genieße eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz, weshalb sie im Zuge einer Pflegereform zu stärken sei. Die SPD spricht sich deshalb klar gegen eine kapitalgedeckte private Pflegezusatzversicherung aus. Die SozialdemokratInnen wollen die solidarische Finanzierung zu einer Bürgerversicherung Pflege ausbauen. Dazu sei auch die Bemessungsgrundlage zu verbreitern und es müsse ein Risikostrukturausgleich zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung eingeführt werden.
SPD-Vorschläge intensiv diskutiert
Im Anschluss folgten neun fachliche Stellungnahmen zu den Schwerpunkten des Orientierungspapiers sowie eine Diskussion mit dem Publikum. Die Vorschläge der Sozialdemokraten erlangten breite Unterstützung und es gab eine Reihe von Anregungen.
Arbeitsbedingungen und Bezahlung von Pflegekräften verbessern
Vor allem ging es in der Diskussion um die Arbeitsbedingungen und Bezahlung von Pflegekräften. Bereits heute herrsche ein Mangel an Pflegekräften. Kampagnen allein würden nicht helfen, junge Menschen dazu zu motivieren, einen Pflegeberuf zu ergreifen. Viele Pflegekräfte würden im Arbeitsalltag ihrer Motivation, alten Menschen helfen zu wollen, nicht gerecht werden können. Sie bräuchten mehr Freizeit und Erholungsphasen, um für die körperlich und psychisch anstrengende Tätigkeit Kraft zu schöpfen und den Beruf auch lange ausüben zu können. Außerdem müsse die Ausbildung verbessert und mehr für die berufliche Entwicklung durch Weiterbildung getan werden. Angelernte Kräfte sollten weiter qualifiziert werden. Vor allem aber müsse die Bezahlung verbessert werden, die häufig nicht weit über dem Mindestlohn der Branche liegen würde. Eine Pflegefachkraft berichtete, dass es auch bei vielfacher Qualifizierung oft nicht möglich sei, sich dann auch weiter zu entwickeln.
Pflege würde sowohl in der Familie als auch professionell in Einrichtungen oder ambulant vor allem von Frauen geleistet. Auf der anderen Seite seien es vor allem Frauen, die im Alter oder bei Pflegebedürftigkeit mit geringen Altersbezügen schlecht dastehen würden. Auch dieser Umstand sollte von der Politik bedacht werden.
Zugang zu Prävention und Rehabilitation für Pflegebedürftige verbessern
Auch die Schnittstellenproblematik zwischen den einzelnen Sozialversicherungsträgern wie Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung wurde mehrfach angesprochen. Dadurch bleiben die Prävention und die Rehabilitation bei Pflegebedürftigen und alten Menschen auf der Strecke, obwohl beides für die Menschen viel Positives bewirken würde. Werde ein Antrag auf eine Reha-Maßnahme gestellt, würde dieser so lange zwischen den einzelnen Versicherungsträgern hin und her geschoben, dass sich dadurch die Situation der Betroffenen verschlechtere.
Auch junge Pflegebedürftige berücksichtigen
Eine Vertreterin einer Pflegeeinrichtung für junge Menschen, die z. B. als Folge von Unfällen pflegebebedürftig wurden, verwies darauf auch deren Situation im SPD-Konzept zu berücksichtigen. Denn häufig würden junge Pflegebedürftige zusammen in Einrichtungen mit alten Menschen betreut, was den Bedürfnissen der jüngeren in keinster Weise gerecht werde.
Mehr Beratung von Mensch zu Mensch
Für Angehörige sei die Pflegeberatung von großer Wichtigkeit. Doch sie dürfe nicht durch Call-Center erfolgen, sondern im direkten Gespräch. Dabei ginge es auch nicht nur um Hilfe bei administrativen Fragen und Zuständigkeiten von Versicherungsträgern, sondern vielmehr sei eine Begleitung der Pflegenden gefragt. Bei Ihnen müsse Kompetenz aufgebaut werden, auch damit sie im Pflegealltag bestehen können und selbst dabei gesund bleiben.
Die Herausforderung durch mehr Alleinlebende in den Blick nehmen
Die steigende Anzahl von Personen, die keine Familie hätten und auf sich allein gestellt seien, wurde als weitere Herausforderung für die Pflege genannt, genauso wie die Mobilität von berufstätigen Familienangehörigen, die für die Pflege ihrer Angehörigen nicht zur Verfügung ständen.
Qualitätsuntersuchung verbessern
Nach wie vor wird die Qualitätsbewertung der Einrichtungen kritisiert, die zu wenig Transparenz gebracht habe. Eine bessere Datenerhebung zur Qualitätsuntersuchung sei notwendig, dies müsse die Politik regeln. Auch weil die Pflegebedürftigen nicht über eine kollektive Vertretung verfügten, die das durchsetzen könnte.
Finanzielle Lasten gerecht verteilen
Und natürlich gab es Fragen zu künftigen Finanzierung der vielfältigen Aufgaben der Pflege bei mehr älteren Menschen und Pflegebedürftigen, denen immer weniger junge Menschen gegenüber stehen. Dr. Klaus Jacobs vom Wissenschaftlichen Institut der AOK wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine Umfrage des Instituts zu den Erwartungen an die Pflegeversicherung ergeben habe, dass die Menschen wüssten, dass Pflege teurer werde. Sie seien auch bereit dies zu tragen, wenn es dabei gerecht zugehe. Vor allem werde diese Einschätzung von gesetzlich Versicherten mit hohem Einkommen vorgetragen. Deshalb seien die privat Versicherten genauso in die Finanzierung der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe mit einzubeziehen.
Einen Tag vor der SPD-Fachkonferenz, hatte das Deutsche Institut für Wirtschaft (DIW) für den Erhalt des Umlageverfahrens und eine bürgerschaftliche Form der Pflegefinanzierung plädiert. Im Interesse der Qualität der Pflege könne auch eine Beitragsanhebung kein Tabu sein. Und durch eine gesamtwirtschaftlich betrachtet minimale Anhebung würde das Wachstum nicht gefährdet. Zentral sei daneben auch eine Zusammenführung der privaten und der sozialen Pflegeversicherung.
Die Arbeit am Konzept geht in die nächste Runde
Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Elke Ferner erklärte, am Konzept der solidarischen Finanzierung der Bürgerversicherung Gesundheit und Pflege werde intensiv weiter gearbeitet. Dabei gehe es auch um die Frage wie die die verschiedensten Einkommensarten bei der Beitragserhebung mit einbezogen werden können. Hier seien nun auch die Beschlüsse des Parteitages im Dezember abzuwarten.
Die Arbeitsgruppe Gesundheit wird nun die Hinweise aus der Fachkonferenz sowie aus den vielen “Fraktion vor Ort”-Veranstaltungen in den Wahlkreisen diskutieren und sie – wenn auch nicht alle – in die Entwicklung des Pflegekonzepts mit aufnehmen.
Auf dem Podium:
Jürgen Gohde, Vorsitzender des Kuratoriums Deutsche Altenhilfe, ehemaliger Vorsitzender des Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs
Brigitte Döcker, Vorstandsmitglied des AWO Bundesverbands e.V.
Heike von Lützau-Hohlbein, 1. Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft
Johanna Knüppel, DBfK Bundesverband
Herbert Weisbrod-Frey, Bereichsleiter Gesundheit, ver.di Bundesverband
Jörg Süshardt, stellv. Leiter des Sozialamts der Stadt Dortmund
Frau Kathrin Ruttloff, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.
Dr. Monika Kücking, Abt. Leiterin Gesundheit beim GKV Spitzenverband
Jens Kaffenberger, stellv. Bundesgeschäftsführer des Sozialverbandes VdK Deutschland
Dr. Klaus Jacobs, WIdO – Wissenschaftliches Institut der AOK
Das Orientierungs-papier der SPD-Bundestags-fraktion zur Pflegereform wurde am 29.09. auf einer Fachkonferenz mit rund 240 Teilnehmerinnen und Teilnehmern intensiv diskutiert. Die Vorschläge der Sozialdemokraten erhielten viel Zustimmung und es gab eine Reihe von Anregungen, die nun in den weiteren Arbeitsprozess miteinfließen werden.