Nichts in Europa ist deutscher als die Europäische Zentralbank. Dieser Satz stand wie in Stein gemeißelt für die ersten zwei Jahrzehnte der Währungsunion. Stolz wurde hierzulande gerne darauf verwiesen, dass der Euro auch deshalb lange Zeit eine einzige Erfolgsgeschichte war, weil die Stabilitätskultur der Deutschen Bundesbank konsequent in der EZB fortgeführt wurde. Fast schien es so, als hätten die Deutschen zwar ihre geliebte D-Mark gegen die Einheitswährung Euro eingetauscht, aber trotzdem ihre gute alte Bundesbank behalten.

Tatsächlich hat Deutschland bei den Verhandlungen über die Währungsunion gegen erhebliche Widerstände durchsetzen können, dass die EZB in weiten Teilen dem bewährten Erfolgsmodell der Bundesbank nachempfunden wurde. So erhielt auch die EZB ihren Sitz in Frankfurt, ebenso wurde die Unabhängigkeit von Weisungen aus der Politik vertraglich verankert. Auch das vorrangige Ziel der Zentralbank, die Preisstabilität in der Eurozone zu garantieren, kam dem Sicherheitsbedürfnis vieler Deutscher entgegen – immer noch zutiefst traumatisiert vom Schreckgespenst der Hyperinflation der Jahre 1922/23. Kurzum: Die EZB war ein nahezu perfektes Abbild der Bundesbank.

Auf dem Höhepunkt der Euro-Krise erweist sich die EZB immer mehr als letzter Stabilitätsanker der Währungsunion. Sie ist die einzige verbliebene europäische Institution, die in der Krise noch handlungsfähig ist und die Gemeinschaftswährung vor spekulativen Attacken schützen kann. Die EZB hat sich für diese Hauptrolle nicht beworben. Vielmehr wurde ihr die Verantwortung klammheimlich von der verzagten Politik aufgenötigt. Doch die kritischen Fragen, ob sich die EZB in ihrer neuen Rolle nicht zunehmend von ihren deutschen Wurzeln entfernt, werden immer lauter. Die Antwort lautet: Nein. Wenn die Zentralbank in der Krise ihr Rollenverständnis neu definiert, dann wird sie dadurch mitnichten weniger deutsch. Ganz im Gegenteil.

Denn wer es mit der Liebe zur Tradition ernst meint, der kann nicht verhehlen: Die Bundesbank war in ihrer Historie bisweilen deutlich weniger dogmatisch als heute viele ihrer Anhänger wahrhaben wollen. So scheint sich kaum ein ordnungspolitischer Hardliner daran zu erinnern, dass unser Grundgesetz in Artikel 109 ein klares Bekenntnis zum „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht“ enthält. Dieses Endziel der staatlichen Wirtschaftspolitik wurde 1967 unter maßgeblicher Mitwirkung des damaligen sozialdemokratischen Wirtschaftsministers Karl Schiller durch das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz konkretisiert. Demnach soll der Staat dafür Sorge tragen, die vier Ziele Preisstabilität, Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und außenwirtschaftliches Gleichgewicht gleichermaßen zu verwirklichen.
Dieses „magische Viereck“ mit Leben zu erfüllen, war nicht nur Aufgabe der Bundesregierung, sondern eben auch der Bundesbank. So war die Zentralbank in der Vor-Euro-Ära sogar gesetzlich „verpflichtet, unter Wahrung ihrer Aufgabe die allgemeine Wirtschaftspolitik der Bundesregierung zu unterstützen“. Den Auftrag der Bundesbank umschrieb das Gesetz mit den schlichten Worten: „die Währung sichern“. Diesen Handlungsspielraum interpretierten die deutschen Währungshüter sogar so weit, dass sie im Krisensommer 1975 im großen Stil deutsche Staatsanleihen aufkauften, um das Zinsniveau zu drücken. Diese Einkaufstour an den Märkten war der Bundesbank immerhin stolze 7,6 Milliarden D-Mark wert. Seither scheint sich jedoch niemand mehr an diese Jugendsünde erinnern zu wollen.

Zurück in die Gegenwart: Im Grunde tut die Europäische Zentralbank mit ihren umstrittenen Interventionen derzeit genau das. Sie sichert die Gemeinschaftswährung – und das sogar in bester Tradition der Bundesbank. Doch wer das deutsche Modell als perfekte Blaupause für die EZB betrachtet, der muss erklären, warum die Sicherung der Preisstabilität unverändert Vorrang vor den anderen wirtschaftspolitischen Zielen genießen soll. Historisch lässt sich das dogmatische Festhalten an der einseitigen Anti-Inflations-Politik der EZB jedenfalls nicht rechtfertigen. Es geht letztlich gar nicht darum, die EZB zu einer europäischen Zwillingsschwester der US-amerikanischen Federal Reserve umzustylen. Es würde schon reichen, wenn wir zulassen, dass sie einfach noch ein wenig deutscher wird.

Mario Draghi hat kürzlich angeboten, im Bundestag um Unterstützung für die Schritte der EZB gegen die Krise zu werben. Der EZB-Chef sollte diese Gelegenheit nutzen und die deutschen Parlamentarier darum bitten, endlich das Mandat der Zentralbank zu erweitern und alle vier Ziele gleichrangig im EZB-Statut zu verankern. Was könnte der nachhaltigen Stabilisierung der Währungsunion mehr dienen als ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht in der Eurozone – mit stabilen Preisen, einer prosperierenden Wirtschaft, Arbeit für alle und einer ausgeglichenen Leistungsbilanz. Was für Deutschland jahrzehntelang gut war, kann für die Währungsunion schließlich nicht schlecht sein.