Fraktion intern: Familienpolitik soll Familien stark machen. In der Corona-Krise und insbesondere während des ersten Lockdowns in diesem Frühling mit Schul- und Kitaschließungen haben die Familien sehr gelitten. Welche Lehren können daraus gezogen werden?

Franziska Giffey: Für viele Familien in Deutschland waren die ersten Monate der Corona-Krise eine sehr schwierige Zeit. Und auch jetzt ist die Lage ernst. Eine wichtige Lehre aus dem Lockdown ist sicherlich, dass die Frage der Kinderbetreuung für Familien, für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch für die Unternehmen in unserem Land ganz entscheidend ist. Deshalb ist für mich sehr wichtig zu betonen, dass die Schließung von Kitas und Schulen das letzte Mittel sein muss, wenn es wieder um Einschränkungen geht.

Im Vergleich zu manch anderen europäischen Ländern hinkt Deutschland bei den Betreuungsangeboten vielerorts noch immer hinterher. Die Hausfrau, die auch die Kinder betreut, galt in Westdeutschland lange als die Grundlage der Sozialpolitik.

Franziska Giffey: Generell ist die Kinderbetreuung im Osten des Landes traditionell breiter aufgestellt, mit mehr Angeboten für die Ganztagsbetreuung und Kita-Plätzen. Man muss aber auch sagen, dass in den letzten Jahren in ganz Deutschland unheimlich nachgeholt wurde. Der Bund hat hier unterstützt: Mit Kita-Investitionsprogrammen und auch mit dem Gute-Kita-Gesetz investieren wir Milliarden sowohl in die Kapazität als auch in die Qualität und die Gewinnung zusätzlicher Fachkräfte. Durch die ersten vier Investitionsprogramme sind eine halbe Million Kita-Plätze entstanden. Mit dem neuen Kita-Investitionsprogramm kommen fast 100.000 Plätze dazu, die wir aus dem Konjunkturprogramm finanzieren können. Aber nach der Kita darf natürlich nicht Schluss sein. Deshalb kämpfen wir für den Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter. Denn der Betreuungsbedarf endet nicht mit der Kita. Und wir erleben, dass eine gute Kinderbetreuung ganz entscheidend für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, aber auch für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist.

Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ist im Koalitionsvertrag vereinbart worden. Doch noch haben die Länder nicht zugestimmt.

Franziska Giffey: Wir arbeiten intensiv daran. Der Bund stellt für die kommenden Jahre 3,5 Milliarden Euro Investitionsmittel für die Länder bereit, um die Ganztagsbetreuung auszubauen. Und jetzt geht es natürlich darum, dass wir auch den Rechtsanspruch auf Bundesebene regeln.

Der Rechtsanspruch soll ab 2025 gelten, ist das realistisch?

Franziska Giffey: Im Koalitionsvertrag ist ein Rechtsanspruch ab 2025 vereinbart. Über die konkreten Schritte dahin wird jetzt mit den Ländern verhandelt. Wie flexibel ist der Zeithorizont? Franziska Giffey: Vereinbart worden ist, dass die Betreuung für die Kinder von Klasse 1 bis 4, an fünf Tagen in der Woche, acht Stunden am Tag gesichert werden muss, inklusive einer verlässlichen Ferienbetreuung und maximal vier Wochen Schließzeit im Jahr. Diskutiert wird auch ein Stufenmodell ab 2025, bei dem man Schritt für Schritt mehr Klassenstufen einbezieht. Das Entscheidende ist, dass wir damit beginnen, denn der Bedarf bei den Eltern ist da. Auch für die Erwerbsquote von Frauen ist eine gute Kinderbetreuung ein echter Gamechanger.

Kann man optimistisch sein, dass es in dieser Legislaturperiode noch etwas wird?

Franziska Giffey: Ich hoffe sehr darauf. Bei der frühkindlichen Betreuung gibt es bereits einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz.

Trotzdem klafft eine Betreuungslücke: über 300.000 Kita-Plätze fehlen.

Franziska Giffey: Vor zehn Jahren haben etwa zehn Prozent der unter Dreijährigen eine Kita besucht, heute sind wir bei weit über 30 Prozent – Tendenz steigend. Der Bedarf liegt allerdings inzwischen bei über 40 Prozent. Es ist hier ein bisschen wie bei Hase und Igel. Es sind sehr viele zusätzliche Plätze geschaffen worden – von Bund und Ländern. Aber die Eltern brauchen eben auch mehr Plätze, weil wir einen gesellschaftlichen Wandel haben. Mehr Frauen gehen länger arbeiten. Paare wollen mehr Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Und das bedeutet, dass wir weiter investieren müssen.

Eine große Hürde beim Ausbau ist das fehlende Personal. Warum ist der Fachkräftemangel so groß?

Franziska Giffey: Wir haben mit unserer Fachkräfteoffensive und auch mit den entsprechenden zusätzlichen Geldern aus dem Gute-Kita-Gesetz den Ländern Unterstützung gegeben, damit sie die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen attraktiver ge stalten, mehr Menschen gewinnen und auch im Beruf halten können. Ich wünsche mir, dass wir eine Situation erreichen, in der sich niemand mehr fragen muss, ob sie oder er es sich leisten kann, Erzieherin oder Erzieher zu werden. Wenn man für eine solche Ausbildung nicht bezahlen muss und eine Ausbildungsvergütung erhält, dann gibt es auch mehr Menschen und insbesondere auch mehr Männer, die diesen Beruf ergreifen möchten. Deshalb unterstützen wir die praxisintegrierte vergütete Ausbildung mit Bundesmitteln.

Ein großes Thema ist auch die Qualität der Betreuung in den Kitas. Frühkindliche Bildung ist sehr wichtig. Die Mittel aus dem Gute-Kita-Gesetz dürfen aber auch von den Ländern genutzt werden, um die Beiträge zu streichen. Das kritisieren viele.

Franziska Giffey: Zwei Drittel der Gelder werden für die Steigerung der Qualität ausgegeben, ein Drittel für die Reduzierung von Kita-Gebühren. Es gibt Bundesländer, die haben bereits die Gebührenfreiheit erreicht, so ist es zum Beispiel in Berlin. Das Land kann so 100 Prozent der Mittel in Qualität investieren. Andere wählen andere Schwerpunkte. Die Gebührenfreiheit ist wichtig für die Frage der Teilhabe. Denn es gibt immer noch Leute, die es sich nicht leisten können, ihr Kind in die Kita zu schicken. Und wenn die Gebühren bei 1000 Euro oder mehr liegen, dann sagen sie: »Ich gehe doch nicht nur für die Kita-Gebühren arbeiten«. Und wer bleibt zu Hause? Es sind meistens die Frauen. Die haben in dem Fall eine Lücke in ihrer beruflichen Laufbahn. Diese wird zur Lohnlücke und dann zur Rentenlücke. Das ist ungerecht. Dem wollen wir entgegenwirken.

Studien belegen, dass die größte Last der Haushaltsund Betreuungsarbeit während des Lockdowns im Frühling von Frauen getragen wurde. War das überraschend?

Franziska Giffey: Nein. Wir hatten ja auch vor Corona-Zeiten generell eine ungleiche Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Frauen arbeiten im Schnitt pro Tag 1,5 Stunden mehr für die familiäre Sorgearbeit als Männer. Diese ungleiche Verteilung hat sich verstärkt. Denn bei der Frage, wer in der Krise im Job kürzer tritt, ist die Abwägung meist ganz klar gewesen: diejenige, die weniger verdient. Diese Ungleichheit hat die Krise verstärkt und auch deutlich sichtbarer gemacht.

Sichtbar geworden während der Corona-Krise ist auch der Nachholbedarf bei der Digitalisierung in den Schulen. Mit dem Digitalpakt hat der Bund mehr als fünf Milliarden Euro für WLAN, Endgeräte, digitale Tafeln bereitgestellt. Doch bisher sind nur wenige Mittel abgerufen worden.

Franziska Giffey: Damit kann man nicht zufrieden sein. Die Bildungsressorts auf Bundes- und Landesebene sind in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass der Abruf dieser Gelder besser läuft. Aber es geht nicht nur darum, dass Computer und interaktive, digitale Tafeln gekauft und in der Klasse aufgehängt werden, sondern es geht vor allen Dingen um die pädagogische Kompetenz der Lehrkräfte. Die Schulen müssen unterstützt werden bei der Erstellung von Konzepten für IT-gestütztes Lernen. Da sehen wir große Unterschiede.

Inwiefern?

Franziska Giffey: Es gibt Schulen, die in Deutschland schon seit fünf, sechs Jahren kreidefrei sind. Aber dort gibt es dann auch meistens sehr engagierte Lehrerkollegien. Da ist oft eine Schulleitung, die dort eine Priorität setzt. Die sich tatkräftige Partnerinnen und Partner sucht. Ob eine Schule auf digitales Lernen setzt, darf aber nicht mehr abhängig davon sein, ob Schulleitung oder Lehrerkollegium das gut finden und das befördern, sondern es muss für alle Standard werden. Ausstattung ist das eine, und zwar unabhängig von sozialer Lage der jeweiligen Schülerinnen und Schüler. Unabhängig davon, ob Eltern sich das leisten können. Das andere ist die pädagogische Kompetenz der Lehrerinnen und Lehrer. Das ist ganz entscheidend. Hier muss investiert werden. Es muss aus meiner Sicht eine Verpflichtung zur digitalen Fortbildung geben, damit keiner mehr sagen kann: »Das ist nicht mein Spezialgebiet. Das lasse ich lieber.« Das darf nicht sein. Die digitale Schule ist die Zukunft. Das ist eine der großen Bildungsaufgaben, die in den Bundesländern ansteht.

Wie sieht die langfristige Zukunftsvision für starke Familien aus?

Franziska Giffey: Wir arbeiten dafür, dass es jedes Kind packt. Egal, ob es in eine reiche oder arme Familie geboren worden ist. Das ist eine Aufgabe, die weit über diese Legislatur hinausreicht. Mein Wunsch wäre darüber hinaus, dass wir es schaffen, aufbauend auf unserem Starke-Familien-Gesetz eine sozialdemokratische Kindergrundsicherung zu etablieren.

Wie sieht die aus?

Franziska Giffey: Die besteht nicht nur aus Geld für die Familien, sondern aus zwei Säulen. Das eine ist eine gute Infrastruktur: gute Kitas, eine gute Ganztagsschule, gute Kinder- und Jugendarbeit. Und auf der anderen Seite ein neues Kindergeld, welches die vielen Leistungen, die wir im Moment schon haben, zusammenführt, vereinfacht und unbürokratischer gestaltet. Wir machen dafür jetzt schon wichtige Schritte, wenn wir etwa unser Digitale- Familienleistungen-Gesetz verabschieden, um die verschiedenen Leistungen zu bündeln. Wenn ein Kind zur Welt kommt, können Eltern künftig Geburtsurkunde, Elterngeld, Kindergeld und perspektivisch auch den Kinderzuschlag in einem Antragspaket von zu Hause oder unterwegs rund um die Uhr digital beantragen. Damit die Daten laufen und nicht die Bürgerinnen und Bürger. Und damit Eltern weniger Zeit für die Bürokratie brauchen und mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen können.