Herr Steinmeier, Sie hätten eigentlich vier Wochen früher nach Bayreuth kommen müssen, da war hier noch etwas los …
Steinmeier: Sie meinen auf dem Grünen Hügel? Ich muss gestehen: Das habe ich noch nicht geschafft.
Warum mag denn die SPD-Führungsriege Wagner nicht?
Es sind ganz sicher ganz viele sozial-demokratische Wagner-Fans unter ihren regelmäßigen Besuchern. Einige von denen, nicht nur Otto Schily und Brigitte Zypries, die jedes Jahr hierher kommen, kenne ich sogar. Bei mir zuhause gab es leider keine Bibliothek und kein Klavier. Deshalb habe ich den Zugang zu klassischer Musik nicht so recht gefunden. Vermutlich ist das der Grund dafür, dass ich über verschiedene Musikrichtungen eher beim Jazz als bei Wagner gelandet bin.
Muss Bayreuth fürchten, dass der Zuschuss für die Festspiele gekürzt wird, wenn die SPD in Berlin an die Macht kommt?
Quatsch. Nie zuvor ist Kultur so gefördert worden wie zu SPD-Zeiten. Ich darf erinnern: Bis die SPD 1998 in die Bundesregierung kam, gab es gar keine Stelle innerhalb der Bundesregierung, die sich um die Kulturpolitik im Lande gekümmert hat. Es war Gerhard Schröder, der den ersten Staatsminister für Kultur eingesetzt hat – und der Fördermöglichkeiten, in deren Genuss auch Bayreuth kommt, geschaffen hat. Und das bekanntlich nicht zu Lasten der klassischen Musik – im Gegenteil!
Es gab aber aus der SPD den Ruf, genauer gesagt von Oliver Scheytt, den Zuschuss für Bayreuth zu kürzen.
Eins der meistverkaufen Bücher der letzten Jahre über Kulturpolitik war der Aufruf „Der Kulturinfarkt“. Das fanden viele schick. Ich habe dem öffentlich widersprochen. Und ich kann den Bayreuthern nur empfehlen, frühzeitig das Gespräch mit Oliver Scheytt, einem wirklich erfahrenen Kulturpolitiker der SPD, zu suchen, bevor man ihn verzeichnet und in Schubladen packt, wo er nicht hingehört.
Herr Steinmeier, Ihre Mutter war Vertriebene, hat das bei Ihnen zu Hause eine Rolle gespielt?
Meine Mutter ist mit sieben Frauen in einem der letzten Trecks 1944 aus Breslau herausgekommen und über viele Um- und Irrwege in Westfalen gelandet. Dort lebte und lebt meine ganze Familie mütterlicherseits. Natürlich hat das hat unser Familienleben geprägt. Viele die nicht nur ihre Heimat, auch Angehörige und engste Freunde verloren und nie wieder gesehen haben. Natürlich war da viel Trauer in den 50er und 60er Jahren, aber kein Hass und die Vorstellung, etwa Grenzen in Frage stellen! Sie haben akzeptiert, dass der Krieg Folgen geschaffen hat, die unwiderruflich sind und haben sich selbst um die Eingewöhnung – Neudeutsch würde man sagen Integration – in der dortigen ländlichen Bevölkerung bemüht. Bei meiner Mutter vor allen Dingen über Sport. Das zeigte schon damals, dass Sport und Sportvereine ein großer Integrationsfaktor war und es heute unter veränderten Bedingungen weiter sind.
Ihr Vater war Tischler, wie haben Ihre Eltern Ihre Karriere verfolgt?
Mein Vater war ein sehr aktiver Mensch, Tischler – und in fast allen örtlichen Vereinen aktiv. Er ist leider im letzten Jahr verstorben. Natürlich ist das für ihn eine andere und fast fremde Welt in die ich nach Studium und nach dem Wechsel von der Wissenschaft in die Politik vorgedrungen bin. Aber ich habe immer erlebt, dass meine Eltern diesen Weg mit Sympathie verfolgt und mitgebangt haben, wenn es etwa um Wahlen ging. Wir haben über all die Jahre gut Kontakt gehalten, selbst wenn es zu Außenministers Zeiten manchmal schwer war, zueinander zu kommen.
Sie haben auf eine weitere Kanzlerkandidatur verzichtet. In welcher Rolle sehen Sie sich, wenn die Frage große Koalition auftauchen sollte.
Ich weiß, dass das im Augenblick eine Frage ist, die viele bewegt. Aber Wahlkämpfer versuchen erst einmal, die eigene Partei so stark wie möglich zu machen. Wir kennen keine Koalitionswahlkämpfe im eigentlichen Sinn. Wir haben gesagt, was unser Ziel ist: eine gemeinsame Koalition mit den Grünen im Bund. Darauf konzentriere ich mich, also auf den 22. September und weniger auf den 23. September.
Sie machen derzeit Wahlkampf bei den Menschen draußen.
Sogar sehr gerne. Ich bin froh, dass ich aus dieser Berliner Käseglocke draußen bin, wo sich alle nur noch gegenseitig Umfragen vorgelesen haben. Ich besuche über einhundert Wahlkreise und überall sage ich den Menschen: Es ist nicht egal, wer unser Land regiert. Es ist nicht egal, ob man im Alter mit der Rente zurecht kommt, es ist nicht egal, ob man in einem Vollzeitjob von seinem Lohn leben kann, es ist nicht egal, ob es genügend Betreuungsplätze für unsere Kinder gibt. Und deshalb beunruhigt mich eine Umfrage ganz besonders: Immer noch wissen mehr als 30 Prozent der Deutschen nicht, dass am 22. September gewählt wird. Ich finde, es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Menschen Wahlen nicht unwichtig nehmen. Wir müssen ihnen sagen: Da wird auch über eure Zukunft entschieden und das macht ihr besser selber als dass ihr andere über euch entscheiden lasst. Deshalb ist mein erstes Ziel, weshalb ich jetzt unterwegs bin – letzte Woche 21 Städte, 25 Veranstaltungen – zu sagen: Leute nehmt die Wahl wichtig, geht hin!
Aber die 30 Prozent, die gar nicht wissen, dass Wahl ist, erreichen Sie damit doch nicht, oder?
Darum sitzen wir jetzt zusammen. Weil ich nicht nur Veranstaltungen mache, sondern immer da, wo ich bin, wenn es geht, begleitende Interviews führe.
Ist es nicht legitim, politikferner zu leben, weil die Errungenschaften, um die vorherige Generationen noch gekämpft haben, so selbstverständlich geworden sind?
Demokratie braucht Beteiligung, ohne Beteiligung stirbt sie ab. Selbstverständlich hat jeder das Recht, an einer Wahl nicht teilzunehmen. Aber für mich, der ein paar Länder dieser Welt kennengelernt hat, ist es schwer verständlich, dass sich Menschen überall auf der Welt die Köpfe einschlagen, dafür dass sie endlich die Möglichkeit haben, an Wahlen teilzunehmen – und wir leisten uns hier knapp 30 Prozent Nichtbeteiligung und bei Kommunalwahlen sogar besorgniserregend mehr. Deshalb finde ich schon, dass wir die Pflicht haben, dagegen zu streiten.
Nun haben wir seit vier Monaten in Bayern eine Sondersituation mit der Verwandtenaffäre. Wähler denken, warum soll ich wählen – die Politik nimmt den Staat ja doch als Selbstbedienungsladen. Das ist ja nachvollziehbar.
Die Empörung über die Verwandtenaffäre ist absolut nachvollziehbar. Das muss Konsequenzen haben und kann nicht akzeptiert werden.
Die Vetternwirtschaft der regierenden CSU, 1,5 Millionen an die eigene Ehefrau, das alles zerstört Glaubwürdigkeit von Politik! Trotzdem: Darin erschöpft sich ja nicht Politik. Und ich warne davor, das Nichtwählertum auch noch medial zu hofieren, wie man das in Talkshows neuerdings sieht. Ich kann auch tägliche Berichterstattung darüber, dass der Wahlkampf langweilig sei und die Parteien alle gleich, nicht gut heißen. Wir dürfen uns diese Trägheit im Geiste nicht leisten. Nach wie vor gibt es ganz unterschiedliche Antworten der Parteien. Union und FDP sagen, wenn der Lohn nicht reicht, soll man halt zum Amt gehen und sich dort noch Unterstützung holen. Wir sagen umgekehrt: Das ist nicht das Bild von Gesellschaft, für das wir eintreten. Wir müssen den schlichten Grundsatz wiederherstellen, dass Leute, die regelmäßig zur Arbeit gehen, vom Lohn für ihre Arbeit auch leben können. Der Schluss, den wir ziehen: Wir brauchen erstens ordentliche Tariflöhne und deshalb starke Gewerkschaften sowie eine gesetzliche Regulierung, damit Tarifeinheit in unserem Lande bewahrt bleibt. Und wo das nicht funktioniert brauchen wir einen echten gesetzlichen Mindestlohn. Anders wird das nicht zu korrigieren sein.
Wäre es nicht sinnvoll, einen sozialen Pflichtdienst einzuführen, nachdem wir den Wehr- und Zivildienst abgeschafft haben?
Hätten Sie mich in den 80er Jahren gefragt, hätte ich Ja gesagt. Jetzt mit Blick auf das 21. Jahrhundert und die nächsten Jahrzehnte kann ich nur sagen, so überlegenswert solche Ideen in der Vergangenheit waren – unter dem Druck der Demografie und mit dem Ausmaß an Fachkräfte- und Lehrlingsmangels der nächsten Jahre werden wir das nicht mehr machen können. Wir entzögen dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt so viele junge Menschen, die wir dringend brauchen, um auch wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Deshalb ist das Thema, für das ich in der Vergangenheit Sympathie hatte, aufgrund der demografischen Entwicklung über uns hinweggegangen.
Im Jahr 2002 wurde in Ihrer Zeit als Geheimdienstkoordinator der Vertrag zwischen BND und NSA geschlossen. Erläutern Sie doch bitte Ihre Position, die Sie im Geheimdienstausschuss nicht darlegen durften.
Ich habe nie einen so einen erbärmlichen Fluchtversuch aus der Verantwortung erlebt wie den von Herrn Pofalla, der versucht hat, zunächst einen wirklichen Skandal herunterzureden. Und als das nicht gelang, die Schuld auf andere abzuwälzen. Am Ende hat auch das nicht funktioniert. Aber es zeigt doch: Mit so viel Mutlosigkeit wird man am Ende nicht erfolgreich regieren können. Dass es 2002 einen Vertrag zwischen BND und NSA gegeben hat, ist nicht nur wahr, sondern auch richtig. Denn es ging damals um eine amerikanische Abwehrstation in Bad Aibling, die nur amerikanischem Recht unterstellt war – auf der keine deutschen Rechtsgrundsätze einzuhalten waren. Und der Vertrag, der geschlossen worden ist, hat sichergestellt, dass dort deutsches Recht gilt. Es ist also ganz anders, als Herr Pofalla in der Öffentlichkeit gesagt hat. Der damalige Vertrag hat nicht die Ausweitung, sondern die Einschränkung von Abhörmöglichkeiten in Deutschland geschaffen. Das alles hat nichts zu tun mit der flächendeckenden Abschöpfung privater Daten aus dem Internet, über die wir seit den Enthüllungen von Edward Snowden reden. Die findet, wie wir inzwischen wissen, ganz woanders statt. Dazu hat Herr Pofalla noch gar nichts gesagt. Und da drückt er sich vor seiner Verantwortung.
Wie kommen Sie damit klar, dass möglicherweise sämtliche Ihrer E-Mails gelesen werden?
Dass ist nicht nur ein Thema für Politiker. Wenn sich als wahr herausstellt, dass US-Geheimdienste sogar durch aktive Zusammenarbeit Server von US-Dienstleistern abschöpft, dann ist das ein Problem für jegliche private Datenkommunikation, vor allen Dingen auch von Unternehmen und Unternehmensgeheimnissen, die ja auf US-Servern ebenso zugänglich sein können. Ich habe immer versucht, meinen E-Mail-Verkehr zu kontrollieren. Geheimnisse tausche ich nicht per Mail- und Handy-Kommunikation aus.
Wie geht die Geschichte jetzt weiter? Die Bürger interessiert es ja kaum
Wir ermöglichen natürlich auch durch, sagen wir mal 97 Apps, die jeder auf seinem Smartphone hat, die Kontrolle über jede Bewegung, jede Vorliebe. Es wurde jetzt berichtet von den schönen neuen Müllcontainern der Stadt London mit Bildschirmen auf den Seiten. Die haben eine Technik drin, die beim Vorbeigehen Vorlieben aus dem Smartphone ablesen kann, dann kriegst Du passgenau Deine Werbung gezeigt, die Dich als Kunden einsortiert. Daran hat Orwell nicht gedacht. Wir müssen uns wieder daran erinnern, wo wir herkommen. Es ist nicht der erste Wandel in der Realität der Kommunikation. Wir haben mehrere Wellen in den zurückliegenden Jahrzehnten hinter uns. Nur eine Aufgabe ist immer die gleiche geblieben – nämlich den Rechtsstaat zu erhalten. Ich setze sehr darauf, dass die Debatte nicht nur eine deutsche und nicht nur eine europäische ist, sondern am Ende auch eine amerikanische. Das deutet sich ja schon an. Und dass man dann zwischen Europa und den Vereinigten Staaten zu einem neuen Verständnis darüber kommt, was an privater Kommunikation auch Dritten gegenüber zugänglich sein soll. Die Befugnisse, die Serviceunternehmen haben, um die über ihre Speicher laufenden Kommunikationsvorgänge an Dritte weiterzugeben, müssen neu geregelt werden. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als sich darüber in einem neuen internationalen Abkommen zu verständigen.
Es ist erst Ihr zweiter Wahlkampf für ein Bundestagsmandat. Was nehmen Sie anders wahr als 2009?
Die Rolle desjenigen, der die Hauptverantwortung trägt, des Kanzlerkandidaten, jetzt Peer Steinbrück, ist kaum vergleichbar mit dem, was wir tun. Verantwortlich zu sein für alles, für Gelingen und Misslingen, für die Stimmung, für Umfragen, das ist eine Herausforderung bei der ich allergrößten Respekt habe, wie Peer Steinbrück sich ihr stellt. Wer gesehen hat, welches Gewitter er über sich ergehen lassen musste und gleichwohl nicht eingeknickt ist, der ahnt und spürt, dass das ein Mann mit breitem Kreuz und gradem Rückgrat ist. Nicht nur ich, sondern viele andere aus der Führung der SPD sind unterwegs in diesen Tagen und den nächsten Wochen, um den zu unterstützen, der diese Hauptlast trägt. Selbstverständlich ist das anders als 2009, aber anstrengend und herausfordernd ist es auch.