Frage: Die Späh-Affäre beschäftigt die Republik. Die Union erweckt den Eindruck, Steinmeier ist Schuld, dass abgehört worden ist. Wenige Tage später hieß es, dass gar nicht abgehört wurde. Was halten Sie davon?

Es ist doch erbärmlich, dass eine Kanzlerin, die seit acht Jahren regiert, die Verantwortung für ihre Schwierigkeiten bei einer Regierung abzuladen versucht, die vor zwölf Jahren regiert hat. Nachdem das nicht funktioniert hat, soll es jetzt gar keinen Skandal gegeben haben! Wie bei jedem Problem scheitert die Regierung auch hier bei der notwendigen Aufklärung des Abhörskandals. Geschehen ist bisher nichts. Herr Pofalla hat uns eine Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und dem amerikanischen Geheimdienst  vorgelegt, die mit dem eigentlichen Skandal gar nichts zu tun hat. Denn die massenhafte Abschöpfung privater Daten kommt ja nicht durch die offizielle Zusammenarbeit zwischen dem Bundesnachrichtendienst und dem amerikanischen Nachrichtendienst zustande, sondern weil offenbar massenhaft Daten von Servern direkt in Amerika abgeschöpft worden sind, über die auch sehr viele Deutsche ihre Internetkommunikation abwickeln. Und deshalb ist ziemlich sicher davon auszugehen, dass auch Daten von Deutschen ausgespäht werden.

Viele Leser teilen uns ihr Unwohlsein darüber mit, dass diese Affäre nicht aufgeklärt wird. Ihr Nachfolger im Kanzleramt, Ronald Pofalla, hat die NSA-Affäre für beendet erklärt. Wie viel Aufklärung dürfen sich die Bürger noch erhoffen?

Ihre Leser machen sich zu Recht Sorgen. Dieser Regierung ist die Aufklärung nicht mehr zuzutrauen. Wochenlang hat Schwarz-Gelb versucht, aus ihrer Verantwortung zu fliehen. Sie hat mit dem Finger auf andere gezeigt, statt sich an die Arbeit zu machen.
Dabei zeigt jede neue Äußerung von Snowden, dass es Dimensionen des Skandals gibt, die wir noch gar nicht diskutiert haben. Ich bin sicher, diese Diskussion wird keine rein deutsche bleiben; in den Vereinigten Staaten beginnt sie gerade erst. Auch wenn Herr Pofalla sich was anderes wünscht: Alle Fragen sind offen.

Union und FDP haben es abgelehnt, Sie vor dem parlamentarischen Kontrollgremium zur Spähaffäre anzuhören. Das soll Sie sichtbar geärgert haben.

Es hat mich granatig geärgert, dass eine Regierung vor ihrer Verantwortung flüchtet und sich in Diffamierungen – auch gegen meine Person – ergeht. Union und FDP hatten vorher tagelang meine Aussage dort verlangt. Umso empörender fand ich es, dass trotz meiner Bereitschaft auszusagen, mit der Mehrheit von Union und FDP meine Anhörung abgelehnt worden ist. Das ist infam und lässt vermuten, dass es Interesse an Aufklärung bei den Regierungsparteien nie gab.

Sie schlossen die Vereinbarung zur Zusammenarbeit der Geheimdienste 2002 – unter dem Eindruck von 9/11 – als Kanzleramtsminister ab. Haben Sie sich etwas vorzuwerfen?

Nein, ganz im Gegenteil: Denn die Amerikaner betrieben damals in Bad Aibling eine Abhörstation, für die amerikanisches Recht galt. Die Vereinbarung von 2002 – ergänzt in 2004 – hat sichergestellt, dass seit der Zeit deutsches Recht Anwendung findet. Ziel war damals, Grenzen zu ziehen für die Überwachung und nicht Erweiterung der Abhörmöglichkeiten. Deshalb hatte und konnte es aber nichts mit der  Billigung von Abhörpraktiken zu tun haben, die erst später auf Grundlage einer neuen Internet-Technologie und eines neuen Kommunikationsverhaltens der Bürger mehr als zehn Jahre später stattfinden sollte.

Sie haben in Braunschweig auf einer Wahlkampfveranstaltung gesprochen. Wo sehen Sie die SPD vor der Bundestagswahl?

Ich bin froh, dass der Wahlkampf jetzt beginnt, wir raus sind aus der Berliner Käseglocke, in der sich alle gegenseitig die neuesten Umfrageergebnisse vorlesen. Natürlich bin ich nicht zufrieden mit den Umfragen, aber Wahlkampf ist dazu da, um aus Umfragen bessere Wahlergebnisse zu machen. Deshalb bin ich unterwegs in ganz Deutschland, besonders gerne auch in Niedersachsen und hier in Braunschweig.

Haben Sie die Kritik des Ex-SPD-Chefs Franz Müntefering am Wahlkampfstart der Partei als böses Foul empfunden?

Wer das „Zeit“-Interview ganz liest, wird gelassener reagieren. Da scheint ganz viel von seiner politischen Erfahrung durch. Er hat immer ein offenes Wort gepflegt. Ich habe nichts daran auszusetzen, wenn er das als absehbarer Ruheständler auch tut. Gerade weil Franz Müntefering aber über so viel Erfahrung verfügt, hätte er einzelne Aussagen vielleicht besser überdenken sollen.

Die SPD wird bereits ein oder zwei Tage nach der Wahl einen Parteikonvent abhalten. Bereiten Sie sich dann auf eine Große Koalition vor?

Da wird viel hineingeheimnisst, was ein absoluter Unsinn ist. Wir hatten in früheren Jahren einen Parteirat. Der hat immer nach einem Wahlergebnis getagt, auch um zu sondieren, welche möglichen Konstellationen für Koalitionen sich ergeben. Jetzt gibt es den Parteirat nicht mehr, der wurde abgeschafft. Stattdessen gibt es den Parteikonvent. Wir haben lediglich beschlossen, dass der Parteikonvent tagt. Mehr nicht. Das rechtfertigt keine Spekulationen über Personen oder mögliche Koalitionen, von denen ich gelesen habe.

Warum gelingt es der SPD denn nicht, die Spekulationen wieder aus der Welt zu schaffen?

Es ist offenbar spannend für viele Journalisten, in solch eine Veranstaltung etwas hineinzudeuten, was der Parteikonvent nach meiner Überzeugung nicht hergibt.

Die FDP kämpft um den Einzug in den Bundestag. Ein halbes Prozent mehr oder weniger wird über Koalitionsmöglichkeiten entscheiden. Wird es Rot-Rot-Grün geben?

In der Frage zu einer Koalition mit der Linkspartei haben wir klar entschieden. Ich selbst habe das bei meiner Kanzlerkandidatur 2009 ausgeschlossen. Wer diese Frage heute beantworten will, muss sich fragen, ob die Linkspartei in den vergangenen vier Jahren näher an eine Regierungsfähigkeit gekommen ist. Das würde ich verneinen. Im Gegenteil: Die Linkspartei ist heute nur noch die gemeinsame Überschrift. Eine Adresse, unter der sich drei Parteien versammeln: Eine Links-Ost-Partei, eine Links-West-Partei, die beide nichts miteinander zu tun haben wollen. Hinzu kommt die Kommunistische Plattform. Deshalb sage ich: Das ist keine Partei, mit der man mitten in der europäischen Krise eine stabile Regierung bilden kann.

In puncto Europapolitik haben wir von Ihrer Partei viel Kritik an Kanzlerin Merkel gehört. Was würde die SPD denn anders machen? Glauben Sie wirklich an Eurobonds, an eine Vergesellschaftung der europäischen Schulden?

Ich glaube, dass die gegenwärtige Regierung nicht verstanden hat, wie sich unser eigenes Land aus einer schweren Krise befreit hat. Vor gut zehn Jahren waren wir noch der kranke Mann Europas. Wir haben uns aus dieser Lage befreit, weil wir drei Dinge gleichzeitig gemacht haben. Erstens haben wir gespart. Zweitens haben wir Strukturreformen umgesetzt, auch mit dem Risiko, Wahlen zu verlieren. Drittens haben wir gleichzeitig versucht, den Wachstumspfad nicht zu verlieren. Frau Merkel versteht die beiden ersten Elemente, das Wachstumselement geht aber verloren. Es war nicht alles falsch, was der europäische Rat entschieden hat; das ist auch der Grund dafür, warum die SPD einzelne Entscheidungen mitgetragen hat. Es war aber ein Fehler, das Wachstum in Europa zu vernachlässigen. Merkels mangelnder wirtschaftspolitischer Durchblick hat die Krise verschärft. Zwei Drittel der Euro-Länder befinden sich in der Rezession.

Die SPD hat mit der Agenda 2010 wesentlich zur jüngeren Erfolgsgeschichte Deutschlands beigetragen. Es besteht der Eindruck, dass die SPD sich zu dieser eigenen Erfolgsgeschichte nicht bekennt. Ist die Partei wieder hinter der Klugheit der Schröder-Ära zurückgefallen?

Hätte Gerhard Schröder damals so mutlos regiert wie Angela Merkel heute, säßen wir in der Tinte wie viele andere in Europa. Natürlich haben die Weichenstellungen durch die Reform damals Streit hervorgerufen – innerhalb und außerhalb der Partei. Im Abstand von mehr als zehn Jahren urteilt die SPD aber gelassener über die Agenda. Niemand will die Rückabwicklung. Was notwendig bleibt, ist die Korrektur von Fehlentwicklungen, die es gegeben hat. Nehmen wir die Leiharbeit: Wir wollten die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts. Wir wollten, dass Unternehmen Spitzenbelastungen durch Leiharbeit abfedern können. Was wir aber keinesfalls wollten, ist, dass einzelne Unternehmen ganze Stammbelegschaften durch Leiharbeiter ersetzen und Lohndumping betreiben.

Die SPD bekommt Kanzlerin Merkel auf vielen Feldern im Wahljahr nicht zu fassen. Bei den Themen Mindestlohn und hohe Mietpreise etwa hat die Union gleich nachgezogen. Setzen Sie große Hoffnungen in das TV-Duell?

Das Fernsehduell findet große Beachtung. Es ist auch für Peer Steinbrück die Möglichkeit, die Kanzlerin endlich in den Wahlkampf hineinzuziehen, den sie bisher voller Absicht vermeidet. Gerade hier auf den Straßen in Braunschweig sehe ich, wie umstandslos aus dem SPD-Programm plagiiert wird. Die CDU plakatiert jetzt sogar mit unserem Begriff der guten Arbeit. Ich setze darauf, dass so viel Beliebigkeit sich am Ende nicht rechnet und die Menschen am Ende doch lieber das Original wählen. Das ist die SPD.

Woher kommen denn dann diese großen Abstände in den Umfragen zwischen Original und Fälschung, wie Sie es sagen, zustande?

Da ist für uns Luft nach oben, keine Frage. Wahlkampf ist dazu da, diese Luft auszufüllen. Nicht nur durch gute Vorschläge, sondern auch durch Ehrgeiz und Engagement. Wir werden uns nicht auf klassische Marktplatzveranstaltungen im Wahlkampf beschränken. Wir werden auch an den Türen klingeln und über manchen Gartenzaun schauen. Deswegen sage ich voraus: Was die Umfragen heute sagen, ist nicht das Ende der Tage.

Was würden Sie dem Arbeiter bei VW, der Doktorandin an der PTB oder dem Handwerker in unserer Region sagen: Drei Gründe, warum er oder sie die SPD wählen sollte?

Erstens müssen wir den Grundsatz wieder herstellen, dass diejenigen, die fünf Tage zur Arbeit gehen, von ihrer Arbeit auch leben können. Die Antwort von Union und FDP auf Niedriglöhne ist Aufstockung. Wir wollen ordentliche Tariflöhne, und da, wo es keine ordentlichen Tariflöhne gibt, Mindestlöhne.
Zweitens müssen wir uns auch um diejenigen kümmern, die ihr Arbeitsleben hinter sich haben. Mit der Hilfe der SPD ist das Rentensystem wieder stabilisiert worden. Wir haben sogar Rücklagen. Es gibt aber Ungerechtigkeiten etwa bei denen, die ihre 45 Versicherungsjahre nicht erreichen, aber trotzdem lange gearbeitet haben und auf die Grundsicherung zurückfallen. Sie werden so behandelt, als hätten sie nicht gearbeitet. Das wollen wir ändern. Wir schaffen für sie den Anspruch auf eine neue Form der Solidarrente. Außerdem: Wer 45 Jahre hinter sich hat, soll außerdem abschlagsfrei in Rente gehen können.
Drittens müssen wir mehr Geld in Bildung investieren. Das bedeutet mehr Geld für Kitas und Kindergärten, mehr Geld für Ganztagsschulen, mehr Geld für Schulen, in denen der Putz nicht von der Decke bröselt und der Unterricht nicht ausfällt. All das brauchen wir. Was wir nicht brauchen, ist das Betreuungsgeld der Union, mit dem wir die Kinder aus unseren Betreuungseinrichtungen fernhalten. Die zwei Milliarden Euro, die wir dann wieder einsparen, müssen wir für den Ausbau von Kitas, Kindergärten und Ganztagsschulen aufwenden. Das sind drei gute Gründe für die SPD, mit den anderen wird es all das nicht geben.