Neue Osnabrücker Zeitung: Bei der Italienwahl gab es nur knapp zehn Prozent Zustimmung  für Reformer Mario Monti. Ist das eine Absage an die europäische Sparpolitik a la Kanzlerin Angela Merkel?

Frank-Walter Steinmeier: Die Prognosen für Monti lagen nicht viel höher. Reformer werden bei Wahlen selten belohnt. Auch in Deutschland hat es lange gedauert, bis erkannt wurde, dass es die Reformpolitik von Gerhard Schröder war, die uns vor einem Schicksal wie dem Italiens oder Spaniens in der jetzigen Krise bewahrt hat.

Ein Bündnis zwischen dem Sozialdemokraten Pier Luigi Bersani und dem Technokraten Monti hätte die bisherige Sparpolitik sinnvoll ergänzt und garantiert, dass der Dreiklang zwischen Ausgabendisziplin, Strukturreformen und Wachstumspolitik auch Italien aus der Krise führt. Aber diese Chance scheint nun vertan.

Mindestlohn, Doppelpass, jetzt auch noch Schwenk zur Homo-Ehe. Die Kanzlerin „klaut“ der SPD Thema um Thema. Wie können sie kontern?

Die Kanzlerin kann der SPD keine Themen „klauen“, sie kann der SPD nur nachlaufen. Mich stört das nicht. Umfaller gleich serienweise haben wir bei der Union und bei der FDP über die ganze Legislatur schon, und in besonders hohem Tempo in den letzten acht Wochen erlebt. Der Mindestlohn war vor Jahresfrist noch Teufelswerk, die Homo-Ehe galt als Abschaffung der Republik, ebenso der Doppelpass für in Deutschland lebende Ausländer. Seit dem letzten Wochenende schien auch die letzte Bastion geräumt und bei der Homo-Ehe alles plötzlich anders. Aber plötzlich regt sich doch Widerstand gegen den Kurs der Kanzlerin. Es scheint in der Union noch Leute zu geben, deren Überzeugung ich zwar nicht teile, die aber immerhin noch eine haben und nicht nur nach der Macht schielen.

Wir Sozialdemokraten schauen uns die peinlichen Wendemanöver mit Gelassenheit an. Glaubwürdig für Gleichstellung, Mindestlohn und Integration stehen nur wir.

Die Union stößt erneut konservative Anhänger vor den Kopf. Bleibt sie aber bei der Ablehnung der Homo-Ehe, wird die Union von Verfassungsrichtern getrieben. Ein Verliererthema für CDU-Chefin Merkel in jedem Fall?

Das ist eine neue Erfahrung für die CDU: Man muss sich gelegentlich entscheiden. Genau dies hat Angela Merkel dreieinhalb Jahre vermieden. Wegducken als Regierungsprinzip darf aber nicht belohnt werden. Dass eine Koalition eine Wahlperiode - also vier Jahre lang - nur um sich selbst kreist und von Reformen anderer lebt, ohne sich selbst zu rühren, ist beispiellos. Wenn Merkel jetzt in der Schlusskurve Entscheidungen nur unter wahltaktischen Gesichtspunkten trifft, wird sich das rächen - die Verweigerung einer Kursänderung bei der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften  in der CSU und in Teilen der CDU ist eine Riesenschlappe für Merkel. Was das für so schwierige Fragen wie eine mögliche Zypernhilfe heißt, kann man nicht absehen. Ich bin mir aber sicher, im Adenauer-Haus macht sich der ein oder andere Sorgen.

Die SPD spricht davon, im Bundesrat nach dem Niedersachsensieg die Gestaltungsmehrheit gewonnen zu haben. Sie setzt dabei auf die Linke, die in Brandenburg mitregiert. Ist Rot-Rot-Grün damit salonfähig?

Das ist doch ein durchsichtiges Manöver der Union. Wir haben im Bundestagswahlkampf 2009 eine Koalition mit der Linkspartei ausgeschlossen. Die Linkspartei hat in den vergangenen dreieinhalb Jahren nichts dafür getan, dass ein Bündnis wahrscheinlicher wird. Es bleibt dabei: Wir wollen eine Koalition mit den Grünen.

Bundespräsident Gauck hat in seiner Grundsatzrede eine zu rasche EU-Osterweiterung als Fehler bezeichnet. Das war Anfang 2000, als Sie Außenminister waren. Trifft Sie Gaucks Kritik?

Ich habe das so nicht verstanden. Der Fall des Eisernen Vorhangs 1990 hat Fakten geschaffen. Die Wiedervereinigung war ein  Gewinn für  Deutschland, aber auch der Beginn eines Prozesses für die Vereinigung Europas. Die Deutschen wären schlecht beraten gewesen, nach Erreichen der eigenen Einheit sich dem entgegen zu stellen. Wir müssen dem Bundespräsidenten dankbar sein für seine Rede. Er hat vieles gesagt, was wir in den letzten Jahren von der Kanzlerin gern gehört hätten: Ein klares Bekenntnis für Europa, Mitgefühl mit den Europäern, denen es zur Zeit nicht so gut geht wie uns, und die Aufforderung an die Politik, die eigenen Hausaufgaben zu erledigen und nicht dauernd Schuld auf Brüssel und die dort angesiedelten europäischen Institutionen abzuladen.

Die Kanzlerin hat während ihrer Türkeireise das Wort von der „privilegierten Partnerschaft“ vermieden. Wie ist das zu verstehen?

Ehrlich gesagt: Ich habe die Äußerungen der Kanzlerin nicht verstanden. Angela Merkel will Gespräche und die schnellere Öffnung neuer Verhandlungskapitel, lehnt gleichzeitig aber die EU-Mitgliedschaft der Türkei ab - das passt nicht zusammen, das sind doch nur wohlfeile Worte. Auch hier hat die Kanzlerin einmal mehr Wahltaktik im Kopf und türkischstämmige Wähler in Deutschland im Visier gehabt,  statt echte Antworten zu geben. Ich sehe nicht, dass sich etwas in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Türkei verändert hat.

Zum Schluss: Das von Staatsbankrott bedrohte Zypern bittet um EU-Hilfe. Sagt die SPD im Bundestag Ja?

Niemand in Europa kann Ja  sagen, wenn er vorher nicht weiß, wie es in Zypern weitergeht. Von den Entscheidungen des neuen zypriotischen Präsidenten und der neuen Regierung hängt es ab, ob Hilfe kommt. Die Bedingungen der SPD sind klar: Es gibt keine Unterstützung, solange wir befürchten müssen, mit EU-Mitteln ein Geschäftsmodell zu fördern, zu dem auch Geldwäsche gehört. Die SPD erwartet entschiedene Maßnahmen gegen unlautere Methoden auf dem Finanzsektor. Sie verlangt einen  Stopp der unseriösen Dumpingangebote im Bereich der Körperschaftssteuer, die in Zypern bei nur  zehn Prozent liegt. Auch fordern die Sozialdemokraten, dass Zypern die Finanztransaktionssteuer unterstützt, die jetzt in der EU auf den Weg gebracht wird. Wenn das erfüllt ist, kann man über EU-Hilfe reden.