Frau Nahles, alles dreht sich um Jamaika. Säßen Sie gerne mit am Tisch der Sondierer, um die Weichen für die kommenden vier Jahre zu stellen?

Nahles: Wir haben nach der historischen Wahlniederlage keinen Regierungsauftrag. Der Wähler hat der SPD den klaren Hinweis gegeben, dass er uns nicht in dieser Aufgabe sieht. Das nehmen wir an.

Die SPD würde sich nicht der staatspolitischen Verantwortung stellen, wenn Jamaika scheitert und Neuwahlen drohen?

Nahles: Die SPD ist keine Mehrheitsreserve im Wartestand. Im Übrigen habe ich keinen Zweifel, dass Jamaika zustande kommt. Der klare Wille ist bei allen vier Parteien zu erkennen.

Wie bewerten Sie die bisherigen Sondierungsergebnisse von CDU, CSU, FDP und Grünen?

Nahles: Das Ganze wirkt wie eine Kreuzfahrt ohne Ziel. Die Jamaikaner schippern ohne Kompass auf der See, kreuzen dieses und jenes Thema, aber wissen nicht, wo sie Anker werfen wollen. Wir stehen vor großen Herausforderungen, doch die Grundsatzfragen sind sechs Wochen nach der Wahl alle noch offen. Womöglich wird aber auch Theater gespielt und die Verhandlungen sind tatsächlich viel weiter. Meine Prognose ist: Vor Weihnachten liegt der Koalitionsvertrag auf dem Tisch.

Heftig streiten die Sondierer über Zuwanderung. Muss es auch aus Sicht der SPD eine Begrenzung geben?

Nahles: Am Grundrecht auf Asyl dürfen wir nicht rütteln. Aber ja, wir brauchen bei der Migration mehr Realismus ohne Ressentiment. Realismus heißt, wir haben bei der Integration noch eine Menge zu tun, das spürt jeder Abgeordnete in seinem Wahlkreis. Mehr als eine Million Zuwanderer in Arbeit zu bringen, ist eine enorme Herausforderung. Wir müssen die Probleme klarer benennen, ohne die Flüchtlinge und die Einheimischen gegeneinander aufzuwiegeln oder die Gesellschaft zu spalten. Wir haben zwar ein Integrationsgesetz auf den Weg gebracht, aber bei Steuerung und Kontrolle der Einwanderung hapert es. Das erleben wir täglich im Bereich von Innenminister Thomas de Maizière.

Werden Sie konkret: Wie will die SPD die Einwanderung steuern?

Nahles: Die SPD-Fraktion wird am kommenden Dienstag einen Entwurf für ein Einwanderungsgesetz beschließen und rasch dem Bundestag vorlegen. Ziel ist die gezielte Steuerung der Einwanderung. Sogenannte Obergrenzen sind doch nur Scheinlösungen, die den Menschen eine Begrenzung vortäuschen. Bisher wählen viele das Asylrecht, die aber gar nicht politisch verfolgt sind, sondern bei uns arbeiten wollen. Damit überlasten sie einerseits die Asylverfahren und andererseits werden sie dann unweigerlich wieder weggeschickt – obwohl wir sie durchaus hier brauchen könnten. In Zeiten des Fachkräftemangels würde uns ein Gesetz helfen, das Einwanderern klare und transparente Wege zu uns ermöglicht, wenn sie Sprachkenntnisse, Ausbildung und Berufserfahrung bereits mitbringen.

Sollte der Familiennachzug wieder ermöglicht werden?

Nahles: Wir sollten Familien mit subsidiärem Schutz eine Perspektive in Deutschland geben, wenn sie gut integriert und tüchtig sind. Wer Arbeit hat, sollte unabhängig von seinem Aufenthaltsstatus bleiben und seine Familie nachholen dürfen. Das schafft einen enormen Integrationsanreiz.

Zur Lage der SPD: Wie muss die Erneuerung nach dem Wahlfiasko aussehen?

Nahles: Wir haben ein sehr schwaches Profil und in allen Wählergruppen verloren. Das ist bitter. Deswegen muss die SPD wieder klar erkennbar werden. Wir brauchen wieder Leidenschaft für unsere Politik, daran fehlt es. Die Sehnsucht und der Appell an das sozialdemokratische „Wir“ reichen in der modernen Gesellschaft nicht mehr aus. Eine Antwort darauf zu finden, ist für uns als Volkspartei überlebensnotwendig.

Haben Sie eine?

Nahles: Wir müssen kein neues Thema erfinden. Die SPD steht für soziale Gerechtigkeit und Fortschritt. Aber wir müssen die großen Fragen wieder in den Vordergrund rücken. Wie wir die Digitalisierung gestalten können, damit sie für Arbeitnehmer zur Chance wird, ist im Wahlkampf völlig untergegangen. Wir müssen klare und verständliche Antworten liefern auf die Sorgen, die die Menschen im digitalen Kapitalismus bedrücken. Wir waren im Wahlkampf mit unseren Konzepten viel zu technisch und sind nicht durchgedrungen, die Menschen haben sich nicht angesprochen gefühlt. Um wieder Leidenschaft zu erzeugen, müssen die Menschen wieder emotional bei uns andocken können.

Martin Schulz ist das alles nicht gelungen, er hat die SPD als Kanzlerkandidat zu ihrem schlechtesten Ergebnis in der Nachkriegszeit geführt. Warum sollte er jetzt der Richtige sein, um die Partei wieder aufzurichten?

Nahles: Das Auswechseln von Parteivorsitzenden alle paar Monate hat uns in der Vergangenheit auch nicht geholfen. Wir verlieren und gewinnen Wahlen gemeinsam. Martin Schulz hat sich entschlossen, die Aufgabe der Erneuerung anzunehmen. Er hat dafür breite Rückendeckung in der SPD.

Sigmar Gabriel hält den Fokus auf soziale Gerechtigkeit für einen Kardinalfehler des Wahlkampfes. Nehmen Sie seine Kritik an?

Nahles: Es ist ein Diskussionsbeitrag. Viele andere haben sich ebenfalls zu Wort gemeldet und wir führen eine breite Debatte über Ideen und Antworten.

Welche Rolle wird der Bundesaußenminister und frühere Parteichef künftig in der SPD spielen?

Nahles: Das weiß ich nicht. Er hat geholfen, die Partei 2009 nach dem ersten desaströsen Wahlergebnis aus der moralischen Depression zu holen. Er hat die Grundlage für die gute Arbeit in der Regierung gelegt. Das Profil der SPD ist aber geschwächt worden, die Wahlerfolge, die wir brauchen, sind ausgeblieben. Beim entscheidenden Ziel, den Kanzler zu stellen, sind wir nicht vorwärts gekommen. Sigmar Gabriel  wird nun seine Rolle suchen, darüber werden wir auch gemeinsam reden. Klar ist: Es brechen neue Zeiten an – für alle. Dafür stehe ich als neue Fraktionschefin.

Braucht die SPD für eine Machtperspektive nicht den Schulterschluss mit der Linksparte und muss ein rot-rot-grünes Bündnis in den Blick nehmen?

Nahles: Die Koalitionsfrage  hat zurzeit keine Priorität. Es geht um SPD pur! Wir müssen beantworten, was wir sind, was wir sein wollen, wofür wir stehen. Nur, wenn wir zu eigener Stärke zurückfinden, können wir uns Gedanken über Koalitionen machen. Bevor wir uns um Koalitionen und Prozentziele für die nächste Wahl kümmern, sollten wir den Weg bis dahin in den Blick nehmen. Wir haben 20,5 Prozent geholt, das ist die traurige Wahrheit!

Zur Sexismus-Debatte: Erst die Skandale in Hollywood, jetzt in Westminster, wo bleibt der Aufschrei in Berlin?

Nahles: Ich habe den Eindruck, die Debatte findet in Deutschland  bisher eher  auf privater Ebene statt. Ich habe intensiv mit vielen Frauen darüber gesprochen. Sie treibt die Frage um, wo sind die Grenzen, was muss ich mir gefallen lassen? Wir Frauen stehen oft vor grenzwertigen Situationen. Ein Typ kommt Dir zu nahe, fasst Dich womöglich sogar an: Bin ich dann eine Zicke, wenn ich zurückweiche? Oder beschwere ich mich? Alle Frauen haben unzählige solche Erfahrungen gemacht. Es ist gut, dass diese Debatte nun offener geführt wird und sich die Grenzen verschieben, Frauen nicht länger davor zurückschrecken, laut und deutlich Nein zu sagen. Die Politik kann diesen Bewusstseinswandel nicht verordnen, aber nur wenn es offene Debatten gibt, können wir auch auf Fortschritt in den Köpfen hoffen.

Reichen persönliche Debatten dafür aus, oder sind neue Gesetze notwendig?

Nahles: Persönliche Debatten reichen sicher nicht. Ein konkreter Ansatz muss sein, den Frauenanteil auf allen Ebenen weiter zu stärken. Aktuell erleben wir sogar einen Rückschritt - in den Konzernetagen als auch im Deutschen Bundestag. Der Frauenanteil bei der Unionsfraktion liegt bei unter 20%, von anderen Parteien ganz zu schweigen, das ist ein Skandal.

Frau Nahles, Olaf Scholz fordert die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro. Ein richtiger Vorstoß, der von den Jamaika-Sondierern jetzt aufgegriffen werden sollte?

Nahles: Olaf Scholz hat Recht: Wachstum, ordentliche Löhne  und ordentliche Renten sind kein Widerspruch, sondern befördern sich gegenseitig. Wir brauchen anständige Löhne und Renten. Dazu gehören viele Punkte, über die wir im Zusammenhang reden müssen: Die Stärkung der Tarifbindung, stabile Beschäftigungsverhältnisse und Reformen in der Rente. Von der politischen Anhebung des Mindestlohns bin ich dagegen nicht überzeugt. Wir haben die Anpassung des Mindestlohns in die Hände der Mindestlohnkommission und damit der Sozialpartner gegeben. Sie berücksichtigen insbesondere die Lohnentwicklung insgesamt. Das sollte auch so bleiben.