Herr Steinmeier, mehrere hundert Zivilisten haben bei dem Giftgaseinsatz in Syrien ihr Leben verloren. Darf der Einsatz solcher Massenvernichtungswaffen ohne Folgen bleiben?

Die Bilder sind unerträglich. Was wir seit zwei Jahren in Syrien erleben, ist eine einzige Tragödie. Mit dem Einsatz von Giftgas ist eine weitere Schwelle überschritten, die das Land und vielleicht sogar die ganze Region noch tiefer in den Abgrund reißt. Deshalb kann dieser Einsatz nicht ohne Antwort bleiben. Aber unsere Erfahrung aus der Vergangenheit lehrt uns, dass es nie einen Automatismus zu militärischen Einsätzen geben darf, ohne dass wirklich alle friedlichen Möglichkeiten genutzt worden sind.

Sehen Sie noch Chancen für eine politische Lösung?

Wir haben die Initiative ergriffen und einen konkreten Vorschlag gemacht. Nächste Woche treffen US-Präsident Barack Obama und der russische Präsident Wladimir Putin im Rahmen der G20-Beratungen in Petersburg zusammen. Bei diesem Gipfel sollte eine Vierergruppe, bestehend aus dem UN-Generalsekretär, dem amerikanischen und dem russischen Präsidenten und dem Generalsekretär der Arabischen Liga gebeten werden, gemeinsam Verantwortung zunächst für eine Durchbrechung der Gewaltspirale und mittelfristig für einen politischen Prozess zu übernehmen.

Was soll dann passieren?

Konkret bräuchte man zunächst eine mindestens 72-stündige Waffenruhe. Während dieser Phase muss der Zugang für humanitäre Hilfe in Regionen, die bislang wegen der Kämpfe nicht erreichbar sind, ermöglicht werden. Es muss damit begonnen werden, internationalen Experten mit einem klaren Mandat der UNO Zugang zu Beständen an Chemiewaffen und Produktionsanlagen auf syrischem Boden zu verschaffen, um den Einsatz von Giftgas aufzuklären. Von der syrischen Regierung erwarten wir die binnen zwei Monaten die Ratifizierung des Chemiewaffen-Übereinkommen und seine Umsetzung unter internationaler Aufsicht. Mittelfristig muss eine zweite Syrien-Konferenz folgen.

Aber die Zeit für eine solche diplomatische Initiative wird knapp. Der französische Staatschef Francois Hollande, immerhin Ihr Verbündeter im sozialistischen Lager, besteht auf einem schnellen militärischen Vergeltungsschlag.

Frankreich und die USA, notfalls auch ohne Großbritannien, scheinen in der Tat weiter auf einen Militärschlag zu setzen. Wenn sich eine auch nur geringe Chance für eine Waffenruhe zu humanitären Zwecken andeutet, wie wir sie mit unserem Vorschlag durchsetzen wollen, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass Frankreich bei seiner unbeweglichen Haltung bleibt.

Kanzlerin Angela Merkel hat am Donnerstag mit dem russischen Präsidenten Putin und US-Präsident Obama telefoniert. Kann Deutschland in dem Konflikt vermitteln?

Tja, am Ende ist sogar den Beteiligten der Bundesregierung klar geworden, was man in den letzten vier Jahren unterlassen hat. Aber was man jahrelang versäumt hat, kann man nicht durch einen Anruf bei Putin und Obama, der auch nur auf öffentlichen Druck in Deutschland zustande kam, reparieren! Deutschland hatte ganz offensichtlich seine Rolle aufgegeben, zwischen Washington und Moskau Brücken zu schlagen, wenn die Kommunikation zwischen den beiden Hauptstädten schwierig ist. Deutschland hat gewaltig an Gewicht verloren in Washington und hat sich völlig zurückgezogen von einer Politik gegenüber Russland. Das war ein riesiger Fehler, der jetzt offenbar wird.

In drei Wochen wird in Deutschland gewählt. Noch scheint ein großes Thema zu fehlen. Was bewegt die Menschen, mit denen Sie in Kontakt kommen?

Es waren bis zur letzten Woche alle arbeits- und sozialpolitischen Themen. Ganz vorne steht die Frage, ob Menschen von ihrem Lohn leben können. Konservative und Liberale beruhigen die Menschen mit der Aufstockungsmöglichkeit. Wir fordern ordentliche Tariflöhne und einen flächendeckenden Mindestlohn. Bei der Rente ist die Verlängerung der Lebensarbeitszeit gar nicht mehr das entscheidende Problem, sondern eher der Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand. Deshalb sagen wir: Wer tatsächlich 45 Versicherungsjahre hat, der soll ohne Abschläge in den Ruhestand gehen können. In den Städten wird zudem das Thema Mieten immer wichtiger. Da fällt auf, dass die Kanzlerin gerade im Bundestag eine Mietpreisbremse abgelehnt hat, die sie für die nächste Legislaturperiode versprochen hat.

Was hat sich in der letzten Woche verändert?

Seit der Ankündigung des dritten Hilfspakets durch Finanzminister Wolfgang Schäuble ist das Griechenland-Thema in die Wahlkämpfe zurückgekehrt. Die Menschen fühlen sich verschaukelt, wenn Schäuble Lasten aus der europäischen Krise ankündigt und die Kanzlerin gleich wieder dementiert. Offenbar wird den Deutschen vor der Wahl nicht die Wahrheit gesagt. Das empört viele, und das verstehe ich.

Trotzdem kommt die SPD bei den Umfragen einfach nicht voran.

Ach die Umfragen! Die sind heute so und morgen so. Ich bin froh, aus der Berliner Käseglocke heraus zu sein. Worauf es ankommt, ist in den nächsten Tagen unterwegs zu sein und die Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass Bundestagswahl ist. Das tue ich mit Energie, guter Kondition und Freude.

Bei den SPD-Großveranstaltungen sind Sie wenig präsent. Der „Spiegel“ schreibt, Sie gingen „unter der Tarnkappe“ durch die Kampagne.

Einen solchen Quatsch kommentiere ich nach bisher siebzig Wahlkreisbesuchen mit über einhundert Auftritten und drei Dutzend Interviews überhaupt nicht. Die Großveranstaltungen organisiert das Willy-Brandt-Haus. Das größte Format ist für den Kanzlerkandidaten und den Parteivorsitzenden vorgesehen. Es war von Anfang an klar, dass ich – genauso wie Olaf Scholz und Hannelore Kraft – andere Veranstaltungen mache. Im Übrigen gehen mir solche Eitelkeiten auf den Senkel. Mir geht es darum, möglichst vielen Kandidaten beim Wahlkampf zu helfen, damit die SPD-Fraktion möglichst stark wird. Da darf man sich nicht zu fein sein, von Wahlkreis zu Wahlkreis zu fahren.

Die CDU wirbt mit Angela Merkel, die SPD kündigt Steuererhöhungen und andere Zumutungen an. Kann es sein, dass Ihre Partei den Wählern zu anstrengend ist?

In der Tat: Merkel setzt im Wahlkampf das fort, was sie in der Regierung betrieben hat: Schönreden, bunte Bilder, keine Inhalte, keine Entscheidungen. Doch es war nicht die heutige Regierung, sondern Rot-Grün, das dieses Land wirtschaftlich wieder auf die Beine gebracht hat. Gerhard Schröder hat die Kohlen aus dem Feuer geholt, Frau Merkel hat sich ins gemachte Bett gelegt. Aber die Zukunft gewinnt man nur durch Anstrengung. Anstrengungslosigkeit mag sympathisch sein, aber sie hilft den Menschen nicht und schadet dem Land.

Kann das Fernsehduell der Spitzenkandidaten die Wende im Wahlkampf bringen?

Wahlkämpfe sind weniger Sprint als vielmehr Marathonläufe. Aber auf der langen Strecke ist das TV-Duell vor einem Millionenpublikum ein wichtiges Zwischenziel. Frau Merkel kann zum ersten Mal in der Auseinandersetzung um Inhalte nicht ausweichen. Peer Steinbrück wird deutlich machen, dass da eine Kanzlerin sitzt, die außer bunten Bildern bei Gipfeltreffen nichts will und um sich ein Kabinett versammelt hat, das zur Hälfte schon ausgetauscht werden musste und zur andern Hälfte angeschossen ist

Die Linkspartei bringt nun verstärkt eine rot-rot-grüne Koalition ins Gespräch. Stünden Sie für ein solches Bündnis zur Verfügung?

Nein, und das wird es auch nicht geben. Die Annäherungsversuche sind völlig unglaubwürdig. Wir haben vier Jahre im Parlament neben der Linkspartei gesessen. Die Linkspartei hat nicht einen Tag als ihren Gegner die Regierungsparteien, sondern immer die Sozialdemokraten gesehen. Ich verstehe, dass die Linkspartei Mühe hat, sich ins Geschäft zu bringen. Regierungsfähig wird sie dadurch nicht.

Könnte der Weg zu Rot-Rot-Grün vielleicht über eine Große Koalition führen, die in der Mitte der Legislaturperiode auseinanderbricht?

Wer erzählt denn so was? Wir haben gesagt, welche Koalition wir wollen. Daran hat sich nichts verändert. Wahlkämpfe sind nicht die Zeit, B- oder C-Pläne zu machen. Ich habe nur einen Ehrgeiz: Die SPD so stark wie möglich zu machen.

Angenommen, die SPD schafft es in die Regierung: was wollen Sie lieber werden - Außenminister oder Fraktionsvorsitzender?

Meine Erfahrung sagt mir: Gewinne erst einmal eine Wahl, dann ergibt sich vieles von selbst. Im Übrigen bin ich nicht in Not, denn ich bin gerne das, was ich bin.