Sehr geehrte(r) Frau (Herr) Bundestagspräsident(in), verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Demokratie ist nur ein Wimpernschlag in der Geschichte. Im großen Buch der Weltgeschichte dürfte sie eigentlich nur wenige Zeilen füllen. In Europa hat sie dort, woimmer ihr Keim spross auch Scheitern erlebt. Selbst das antike Athen, die Geburtsstadt der Großmutter der Demokratie, fiel durch Krieg, durch Sparta, Alexander, Rom und andere schließlich unter Herrschaftssysteme und Herrscher, die mit der Idee einer Demokratie nichts mehr gemein hatten.
In Deutschland ist die Demokratie seit vielen Jahren gefestigt. Wir haben uns in dieser unumstößlichen Sicherheit eingerichtet und neigen dazu, die Demokratie so wie wir sie erleben in mythischen Zeiten, ursprünglich zu verorten. Wir neigen dazu sie als natürlich, als von Natur aus gegeben zu betrachten.
Wann haben wir uns das letzte Mal das tatsächliche Alter der Demokratie in Deutschland vor Augen geführt?
Nach fast 50 Jahren Deutschem Kaiserreich hielt sich die Weimarer Republik gerade einmal 14 Jahre, bis sie durch die zwölf Jahre währende Nazidiktatur beendet wurde. In der Bundesrepublik leben wir seit 64 Jahren in einer freiheitlichen Demokratie. Zusammen mit der Weimarer-Zeit macht das 78 Jahre. Da es historisch nicht unlauter ist von grob 1000 Jahren deutscher Geschichte zu sprechen, ergibt sich der magere Anteil von 7,8 % für die Demokratie. Ganz zu schweigen von ihrem Alter im ungeteilten Deutschland der heutigen Staatsgrenzen: Mit 23 Jahren ist es eine wahrlich junge Dame, gerade im Studienalter.
Trotz dieser Zahlen würde natürlich keiner von uns bestreiten, dass die Demokratie heute fest in unserer Gesellschaft verwurzelt ist und auf einem breiten Stamm steht. Auch ist kein Krieg, kein Imperium und keine Partei sichtbar, die Axt anlegen könnte, um unsere Demokratie von heute auf morgen zu stürzen. Nichtsdestoweniger müssen wir uns ihrer historischen Zerbrechlichkeit bewusst sein, damit wir auch einer schleichenden Erosion und Aushöhlung entschlossen entgegentreten.
Heute wird die Souveränität demokratischer Entscheidungen durch die Finanz-und Wirtschaftskrise in Europa infrage gestellt. Wenngleich die Krise in Deutschland noch nicht bzw. nicht mehr so spürbar ist, wie in anderen Ländern und gelegentlich auch in den Medien abtaucht, so ist die Jugendarbeitslosigkeit von 50% in Spanien und Griechenland eine bittere Realität und ein schwerer Prüfstein für die Demokratie.
Arbeitslosigkeit und die daraus folgende Perspektivlosigkeit sind Gifte, die Demagogen und Ideologen für sich nutzbar machen, um die freiheitliche Grundordnung anzugreifen. Staaten, die infolge der Wirtschaftskrise eine exorbitante Verschuldung auf sich genommen haben, werden auf ihre Rolle als Schuldner reduziert. Viele Menschen sind verzweifelt und fühlen sich den internationalen Finanzmärkten, ihren Gläubigern ausgeliefert. Der Verlust des Primats der Politik - das ist der unverhältnismäßig große Einfluss von globalen, ungreifbaren Investoren, die nicht der jeweiligen demokratischen Gemeinschaft des Landes angehören, im Verhältnis zu den jeweiligen Wählerinnen und Wählern. Jene fühlen sich ohnmächtig im wahrsten Sinne des Wortes.
Ohnmächtig zum Beispiel gegenüber dem Oligopol von drei bedeutenden Ratingagenturen. Diese sind nicht, wie manche meinen, neutrale Botschafter guter oder schlechter Botschaften. Sie werden von Denselben bezahlt, die ein Profitinteresse an bestimmten Ratings haben. Wer könnte glauben, Fitch, Moody's oder Standard and Poor's würden ihren Daumen heben, indem sie ihren Auftraggebern wirtschaftlichen Schaden zufügen? Ihre Macht besteht darin, dass ihre Vorhersagen sich selbst, kraft ihrer Alleinstellung, erfüllen. Die Konsequenzen sind bisweilen fatal: Staaten die ihre Grundaufgaben, wie Sicherheit, Bildung und öffentliche Gesundheit nicht mehr autonom finanzieren und steuern können, verlieren ihr Ansehen. Gewählte Regierungen, die sich nicht vornehmlich dem Votum ihrer Wähler, sondern den Ratings unterwerfen müssen verlieren ihre Legitimität. Ratings entwickeln sich oft nicht allmählich entlang der Wirtschaftlichkeit eines Staates, so wie es angedacht ist, sondern nach dem Prinzip von Blasen und Platzen. Die Ratingagenturen sind, statt objektiver Beobachter zu sein, Richter und Henker geworden.
Freilich müsste man die Entstehung und den Verlauf dieser Krise von Finanzkrise zu Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise genau aufschlüsseln, aber ich beziehe mich auch im Folgenden vor allem auf die politische Dimension der Krise .
Wir sind, meine Damen und Herren, dieser Krise nicht ausgeliefert. Wir können durch Gesetze und Reformen unser Schicksal in die Hand nehmen und die wirtschaftliche Situation zum Besseren wenden. Das ist ein Urversprechen der Demokratie. Wir haben als Staat, als Parlament, als Bürgerinnen und Bürger auch unseren - sicherlich begrenzten - nationalen Handlungsspielraum noch lange nicht ausgeschöpft.
Eine breite Mehrheit teilt mittlerweile die Auffassung, dass die Finanzmärkte stärker reguliert werden müssen, um Exzessen vorzubeugen. Lassen Sie uns Regeln aufstellen, die wie vor Kurzem das Verbot von Leerverkäufen ein klares Zeichen setzen gegen widersinnige Spekulationen! Lassen Sie uns nachdrückliche Impulse zur Einhegung wild gewordener Märkte geben, die international Schule machen! Lassen Sie uns uns für ein Trennbankensystem stark machen, das verhindert, dass über die einfachen Anleger hinaus auch Hochrisikospekulationen von Staatsgeld abgesichert werden müssen!
Es geht um nichts Geringeres, als dass wir als Parlamentarier in Zukunft noch guten Gewissens und frei entscheiden können, ob eine Bank durch Staatsgeld gerettet werden muss oder ob dieser Schritt durch ihre Bedeutung bereits vorentschieden ist. Es geht im dann konkreten Fall um das Verhältnis einer demokratisch unlegitimierten Macht mit dem Deutschen Bundestag.
Lassen Sie uns bei den Regulierungen an der Allianz der Willigen schmieden, statt mit Verweis auf den Unwillen anderer Regierungen in Untätigkeit zu verharren! Wir täten unserer Demokratie wie auch den Schwesterdemokratien in Europa einen unverzichtbaren Dienst, wenn wir die Menschen wieder davon überzeugten, dass sie, die Demokratie, hier Herr, oder vielmehr Dame ist in diesem Hohen Hause.
Ich habe bewusst den Bogen gespannt, von arbeitslosen Jugendlichen in Spanien und Griechenland, über amerikanische Ratingagenturen, bis hin zum Deutschen Bundestag, um zu zeigen wie porös und brüchig die Verbindung von Nationalstaat und Demokratie geworden ist.
Gerade in Deutschland hat die Dualität Einheit und Freiheit, Nationalstaat und Demokratie eine wechselvolle, emotionsgeladene Geschichte, von der gescheiterten Pauls-kirchenbewegung bis zum Mauerfall. Grundlegend war bei diesen Bestrebungen immer ein wechselseitiges „Sichtverstehen“ kulturell, historisch und nicht zuletzt sprachlich. Es gab Menschen die Augen hatten für das Gemeinsame, die sich vorstellen konnten an der Stelle des anderen zu stehen, die sich „sympathisch“ waren. Sympathie im ursprünglich griechischen Sinne heißt Mit-leiden. Ich bin überzeugt: Ohne diese Fähigkeit an Freud und Leid des anderen Anteil zunehmen, hätten nicht so viele Menschen ihr Leben für Freiheit, Demokratie und Einheit auf Spiel gesetzt.
Sympathie und Verständnis in einem gemeinschaftlichen Raum – das sind die Säulen des gegenseitigen Verantwortungsgefühls, das jeder gesunden Demokratie innewohnt.
Heute leben wir Einigkeit und Recht und Freiheit, die Losung die Hoffmann von Fallersleben im Jahre 1841, vor über 170 Jahren im „Lied der Deutschen“ niederschrieb.
Dennoch spüren wir, dass sich seitdem etwas Entscheidendes verändert hat. Außenpolitik beschränkt sich nicht mehr allein auf das Verhältnis von Staaten, sondern sie erstreckt sich auf Herausforderungen, die alle Länder und Völker gleichsam betreffen. Es sind Probleme, die teils von Natur aus global sind, teils aber auch erst durch die Möglichkeit von Grenzüberschreitung, im doppelten Sinne, begründet werden. Es gibt Akteure, die sich bewusst der demokratischen Handhabe, die national festgelegt ist, entziehen wollen, indem sie international, clever und am Rande des Gesetzes agieren. Es gibt Abteilungen in großen Konzernen, deren ausschließliches Ziel darin besteht, durch geschickte, verschleiernde Transaktionen, national erhobene Steuern zu umschiffen. Ich habe bereits Exzesse in der Finanzbranche skizziert. Die positive Perspektive, die sich als Reaktion schon in matten Farben abzeichnet, ist die Formation einer Weltinnenpolitik. Wir beginnen zu verstehen: Das Schicksal der „Anderen“ wirkt sich auch auf uns aus. Die geografische Distanz verliert an Bedeutung, denn die Probleme sind oft ebenso global, wie die Vorschläge und Forderungen, die eine Mehrheit, also die entscheidende Maßeinheit der Demokratie, unterstützt. Der Klimawandel macht vor keiner Grenze halt. Die Erde erwärmt sich egal in welcher Region das Kohlenstoffdioxid ausgestoßen wird. Die Grundwasserqualität des einen Landes kann durch keinen nationalen Parlamentsbeschluss vor einer möglichen Verschmutzung durch den Nachbarn geschützt werden.
Auch der islamistische Terrorismus ist eine internationale Bedrohung. Zum einen suchen sich Terrorzellen Nester in von der Staatengemeinschaft aufgegebenen, „gescheiterten“ Staaten. Zum anderen sind ihre Ziele keineswegs Staaten, sondern Menschen in New York, London, Madrid, Mumbai ebenso wie im Norden Nigerias und gegenwärtig Mali und übermorgen vielleicht in einer anderen Stadt, in einem anderen Land.
Ich sage Ihnen: Weder der Deutsche Bundestag, noch die Französische Nationalversammlung, noch das Britische Unterhaus, nicht einmal der Amerikanische Kongress ist diesen sattsam bekannten, drängenden Problemen alleine gewachsen. Die nationale Demokratie gleicht heute einem Archipel, einer Inselgruppe, die vom Ozean der globalen Arbeits-,Wirtschafts-, Sozial- und Kulturwelt umspült wird.
Wir haben angefangen Brücken zu schlagen von der Kooperation gewählter Regierungen auf Ebene der EU, der NATO und der UN bis hin zur gemeinsamen Sitzung des Bundestages und der französischen Nationalversammlung, sowie parallel des Senates und des Bundesrates.
Bedauerlicherweise sind diese Brücken vielfach durch mindestens eines der folgenden drei Defizite gekennzeichnet:
Erstens. Durch einen symbolischen Ausnahmecharakter wie die Sitzung mit unseren Freunden aus Frankreich.
Zweitens. Durch einen Mangel an Effizienz. Drittens. Durch eine Exekutivlastigkeit, die nur noch indirekt demokratisch legitimiert ist.
Ich will mich mithilfe eines Beispiels verständlich machen. Kaum einer verneint heutzutage den Satz, dass das Europäische Parlament eine stärkere Rolle einnehmen solle. Denn es ist bestens geeignet, den Handlungsspielraum der Demokratie auf Europa auszuweiten. Trotzdem vermisse ich eine breite, öffentliche Debatte zum Beispiel über ein direktes Initiativrecht, das es dem Parlament ermöglichen würde, eigene Gesetzesvorlagen einzubringen oder zum Beispiel auch über einen gemeinsamen Spitzenkandidaten der jeweiligen Europaparteien für das Amt des Kommissionspräsidenten. Das Parlament muss Forum unterschiedlicher politischer Interessen sein, jedoch ringt es im Moment als Ganzes um die Aufmerksamkeit und den Respekt in der Öffentlichkeit.
Es bedürfte europäischer Parteien, die sich als solche verstehen und als solche erkennbar sind, die im Europa-Wahlkampf auch europäische Themen in den Vordergrund stellen. Wir als Politiker dürfen dabei nicht verschweigen, wenn Europa neu, ungewohnt, größer und komplexer ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir es mit mündigen Bürgern zu tun haben, denen wir weder etwas vormachen, noch versuchen sollten sie über Europa aufzuklären. Vielmehr erwartet eine Wählerin oder ein Wähler gerade in Sachen Europa verlässliche „Erklärung“. Das macht in der Haltung einen gewaltigen Unterschied.
Wenn wir anerkennen in welchem, Maße allein die drei von mir genannten Problemfelder Finanzmarktkrise, Klimawandel und Terrorismus die Funktionsweise nationaler Demokratien aushebeln, müssen wir schlussfolgern, dass ein gestärktes Europaparlament in jedem Falle ein Schritt zur Behauptung einer durchsetzungsfähigen Demokratie ist. Wir verlieren dann Souveränität, wenn in der globalisierten Welt, die Demokratie allein auf ihrer Insel zurückbleibt, nicht aber wenn wir in einer globalisierten Welt die demokratische Kraft in Europa bündeln.
Gleichwohl müssen wir nüchtern feststellen, dass es am europäischem Demos mangelt. Die europäische Öffentlichkeit zieht sich gerade in der Krise auf ihre jeweiligen nationalen Vertreter zurück und hofft nicht selten beim nächsten Krisen-Gipfel als Scheinsieger hervorzugehen. Ich glaube aber, dass viele Menschen mittlerweile ahnen, dass Jean-Claude Juncker recht hat, wenn er sagt: „Der Kontinent gewinnt zusammen und verliert zusammen“. (http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/europa-im-herzen, aufgerufen am 27. Januar 2013)
Nichtsdestominder will ich deutlich sagen, auch auf die Gefahr hin, dass meine Worte nicht allen gefallen werden: Die Bürgerinnen und Bürger Europas stehen in der Pflicht. Ein europäisches Gemeinschaftsgefühl lässt sich nicht verordnen. Länderübergreifende Fernseh- und Radiostationen, Zeitungen, Städtepartnerschaften, Schüleraustausch, Erläuterung europäischer Verfahren in den Schulen, all dies ist wichtig und motiviert Millionen von Menschen ihre europäische Identität zu entdecken.
Letztendlich aber kommt es darauf an, dass wir alle - ob Politiker oder nicht - neben der Einsicht in die Notwenigkeit der europäischen Integration auch den Willen zur Verständigung und zur Empathie aufbringen. Es kommt darauf an, ob wir die Gemeinsamkeiten unserer Geschichte, Mentalität und Kultur sehen wollen oder die Unterschiede. Beides ist reichlich vorhanden. Auch die verschiedenen Sprachen sind eine Barriere, jedoch keineswegs unüberwindbar, wie uns z.B. die Schweiz beweist. Es kommt darauf an, ob wir fragen, was uns trennt oder was uns eint. Können wir uns mit einem Arbeitslosen in Griechenland ebenso identifizieren, wie mit einem Österreicher?
Seit Ausbruch der Krise ereifert man sich den „Südländer“ von dem „Nordländer“ charakterlich abzugrenzen. Warum investiert man nicht mindestens ebenso viel Energie in das Aufzeigen von Gemeinsamkeiten?
Ich rufe dazu auf den Horizont der eigenen Identität zu erweitern, statt ihn zu verengen. Wir teilen einen Kontinent, wir teilen eine Geschichte, wir teilen eine Währung – wir sitzen im selben Boot. Lassen Sie uns deshalb in Geist und Herzen offen sein für unsere europäischen Mitbürger! Stellen wir uns der Gretchenfrage: Wie halten wir's mit einer europäischen Bürgerschaft?
Dieser ergebnisoffene Prozess der Verständigung wird einige Zeit beanspruchen und viel Kommunikation erfordern.
Nicht nur im Bezug auf Europa fordern Bürgerinnen und Bürger verstärkt, dass Politikerinnen und Politiker verständlich Rechenschaft ablegen und nachvollziehbar erklären.
Sie beklagen damit eine unzureichende Kommunikation, die wachsende Vorbehalte gegenüber politischen Entscheidungsprozessen und Entscheidern befeuert. Dieser Vorwurf trifft ins Mark eines Abgeordneten, der Repräsentant, der Fürsprecher des Volkes sein soll. Es ist schmerzlich für uns alle in diesem Hohen Haus, wenn wir sehen, dass die Wahlbeteiligung sinkt und damit das Vertrauen in die Wirksamkeit der Demokratie.
Viele, die ihr Recht zu wählen nicht mehr wahrnehmen, die zu Hause bleiben und ihre Stimme aufgeben, fühlen sich ungehört und verunsichert.
Sie nehmen wahr, wie die Fragestellungen in Politik und Wirtschaft immer verflochtener, immer komplizierter werden und gleichzeitig verfolgen sie skeptisch, dass die Macht bürokratischer Apparate schneller wächst als ihre Möglichkeiten zur Mitsprache.
Auch wenn Intellektuelle vom Format eines Hans-Magnus Enzensberger vom „Sanften Monster Brüssel“ (Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas. Suhrkamp, Berlin 2011) schreiben müssen wir das ernst nehmen. Zugleich müssen wir den Mut fassen falschen, hartnäckigen Vorurteilen scharf zu widersprechen. Die Meisten hier wissen nämlich, dass Brüssel und Straßburg besser sind als ihr Ruf.
Auch das Bürgerengagement gegen Großprojekte ist ernst zunehmen, selbst wenn dabei vermeintliche Sachzwänge auf dem Spiel stehen. Was hätten wir uns an Wut, Ärger und Empörung erspart, hätte man von vornherein eine Volksabstimmung zu Stuttgart 21 zugelassen? Die Geschichte lehrt: Lässt man den Menschen keinen Raum ihrem Unmut Luft zu machen, dann werden sie ihn sich früher oder später erkämpfen.
Mir behagt in diesem Zusammenhang nicht die gängige Spaltung in Bürger und Politiker. Als ob wir keine Bürger, keine Steuerzahler wären. Nein keiner von uns ist „der Politiker – das fremde Wesen“ als das wir manchmal dargestellt werden. Und doch wird, so lautet das Stichwort, Bürgernähe vermisst. Was bedeutet aber Bürgernähe? Nach meinem Verständnis ist damit der subjektiv empfundene Abstand zwischen BürgerInnen und PolitikerInnen gemeint, dessen Maßeinheit je nach Kommunikationsmöglichkeit und Partizipationswilligkeit variiert.
Im Klartext: Konrad Adenauer war nicht unbedingt volksnäher als Regierungsmitglieder heute, aber die Anforderungen und Umstände der Demokratie haben sich verändert. Mit der Möglichkeit sich über das Internet schnell und umfassend zu informieren, ist ein Appetit gekommen, der Appetit mitzumachen, gefragt zu werden und Fragen zu stellen.
Deshalb verändern ja auch wir uns, wir nutzen Facebook, Twitter und andere soziale Netzwerke, in denen neue Foren des demokratischen Diskurses entstanden sind. Aber wir können die Demokratie noch zugänglicher, noch erlebbarer machen. In der Virtualität und in der Realität. Wir sollten jetzt damit anfangen, bevor wir uns abhängen lassen.
Ich schlage vor, dass alle Kommunen auf Ihren Internetseiten Plattformen bieten, die Information, Diskussion und wenn möglich Abstimmung bündeln. Die Menschen interessieren sich mehr den je für den neuen Tunnel, den neuen Kindergarten und den neuen Spielplatz um die Ecke und es ist ihnen zuzubilligen sich damit zu beschäftigen. Gerade für diejenigen die den ganzen Tag arbeiten und sich trotzdem einbringen wollen ohne sich langfristig, starr zu binden kann ein solches Online-Bürgerforum der einzelnen Kommunen eine wertvolle Ergänzung sein. Wohlgemerkt eine Ergänzung, denn die direkte Ansprache, der Austausch mit den Stadträten in der Mehrzweckhalle, von Angesicht zu Angesicht ist dadurch nicht zu ersetzen.
Information, Diskussion und Abstimmung – diese drei sind die Kardinalprinzipien für Volksentscheide und Petitionen, die mehr und mehr gewünscht werden.
Ich schlage vor wir schaffen dafür einen Rahmen in den Ländern, indem wir Plebiszite zu Großprojekten wie Stuttgart 21 erleichtern. Es wird dabei wichtig sein, die richtige Balance zu finden, um solche Entscheide ohne eine zu hohe Schwelle erwirken zu können und gleichzeitig am Ende die Meinung der Mehrheit zu ermitteln. Es ist oft schon nicht einfach die richtige, neutrale Frage zur Abstimmung zu stellen, es ist schwierig die schweigende Mehrheit zum Sprechen zu bewegen und manchmal scheint es fast unmöglich festzulegen wer überhaupt wahlberechtigt sein soll.
Hier haben wir als Gesellschaft noch einen Weg vor uns, auf dem wir viel über uns und unsere Demokratie lernen können. Wir sollten ihn beschreiten.
Und dabei kann uns das Internet gute Dienste leisten, wenn wir seine zwei großen Stärken nutzen: Mobilisierung und offene Diskussion.
Im Internet lassen wir uns direkt ansprechen, wir nehmen Debatten auf, teilen sie mit unseren Freundinnen und Freunden, lassen uns begeistern und empören. Wir sprechen offen unsere Meinung aus und stellen sie zur Diskussion. Dass zu viel Offenheit vulgär werden kann und manche die Anonymität missbrauchen, darf uns nicht entmutigen. Vielmehr sollten wir die Chancen sehen Menschen kurzfristig zu Abstimmungen, zu Demonstrationen, zu Engagement aufzurufen. Chancen uns im Bundestag aufrufen zu lassen zu Stellungnahmen, zur Beschäftigung mit Themen, die wir vielleicht übersehen haben.
Wenn man von Chancen spricht, sind die Risiken nicht weit. Ich möchte mich anders ausdrücken. Ich will sagen, dass wir uns frühzeitig Gedanken machen sollten über Leitplanken für Elemente direkter Demokratie.
Zuallererst müssen wir das Mehrheitsprinzip schützen. Lautstarke Minderheiten, die sich für ihre Interessen stark machen und aktiv dafür werben, sind nicht deckungsgleich mit der Mehrheit. Medien aller Art auch das Internet erzeugen Zerrbilder, wenn sie zuförderst Personen oder Inhalte in den Vordergrund stellen, die darstellbar und darstellungsfreudig sind, anstatt sich bei der Relevanz von politischen Themen am Gemeinwohl zu orientieren. Viele, die täglich Zeitungen lesen, Nachrichten schauen oder sich im Internet informieren waren trotzdem oder gerade deshalb überrascht als das Ergebnis der Volksabstimmung für Stuttgart 21 bekannt wurde. Das sollte uns eine Lehre sein.
Wir müssen alle, unabhängig vom politischen Standpunkt immer wieder neu lernen demokratische Niederlagen anzunehmen und zu akzeptieren. Dort wo der Verlierer dem Sieger nicht die Hand reichen kann, findet die Demokratie keinen Frieden. Dort wo sie auf Dauer keinen Frieden findet, ist sie in Gefahr.
Bedenklich finde ich auch das Spiel, das mit der Steigerung des Wortes „demokratisch“ betrieben wird. „Demokratisch, demokratischer, am demokratischsten“ - leichtfertig wird vor allem der Komparativ, die erste Steigerungsform verwandt. Manche verstecken ihre Absichten hinter dem Begriff der Quantität und meinen in Wahrheit eine Demokratie anderer Qualität, direkt und ohne Abgeordnete im Parlament, was sie dann als Ideal ausgeben.
Es lohnt sich daher die Bedeutung unserer verfassungsmäßigen, repräsentativen Demokratie wieder ins Bewusstsein zu rufen. Lassen Sie mich nur fünf Aspekte herausgreifen.
- Minderheiten werden abgebildet und können sich konstruktiv über das Parlament einbringen.
- Die Handlungsfähigkeit des Staates ist sichergestellt, der ja nicht nur Repräsentant des Gemeinwesens ist, sondern auch als eigenständiger Akteur in der internationalen Politik gefordert ist.
- Die Versachlichung gesellschaftlicher Streitthemen gelingt von Zeit zu Zeit durch die konzentrierte Debatte in unseren Fachausschüssen.
- Der Rahmen der parlamentarischen Tagesordnung gibt eine Rhythmus von Zuspitzung bis zur Befriedung von Interessenskonflikten vor, was für die Stabilität und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft unerlässlich ist.
- Die Wehrhaftigkeit eines starken Parlaments trotzt im Zweifel auch populistischen, auf die Manipulation des Volkes ausgerichteten, Angriffen auf die Demokratie.
Demokratie ist kein Normalzustand weder in unserer Geschichte noch in der Welt von heute. Das bevölkerungsreichste Land der Erde und zugleich die zweitgrößte Wirtschaftsmacht China ist beispielsweise keine Demokratie. Demokratie baut auf die besondere Geisteshaltung jedes Einzelnen für sich und sein Gemeinwesen Verantwortung zu haben und diese auch tragen zu wollen. In der Weimarer Republik hat eine Mehrheit gegen die Demokratie gestimmt, indem sie Parteien wählte, die die Demokratie ablehnten. Auch ihr endgültiges Ende durch die Machtergreifung Hitlers nahmen zu viele billigend in Kauf.
Demgegenüber steht exemplarisch der sozialdemokratische Parlamentarier Otto Wels, der die letzte freie Rede hielt, derer wir heute, 80 Jahre später, gedenken. Seine Worte erschüttern uns noch heute, besonders der eine, so oft zitierte Satz. Man wagt es gar nicht ihn zu wiederholen, weil er aus seiner Zeit heraus, im Angesicht der Diktatur, so ungeheuer kraftvoll und mutig war, wie ich es, der lange nach dem Krieg geboren wurde, kaum mehr ermessen kann. Ich möchte ihn in Ehren halten.
Heute, in Deutschland lebt die Demokratie. Ihre Kraft bezeugen jeden Tag Menschen, die sich in Initiativen, Parteien und Vereinen für Gleichberechtigung, Mitsprache und Verständigung einsetzen.
Sie lassen uns auf eine gute, helle Zukunft hoffen.
Anmerkung zu den Quellen:
Die historischen Verweise beruhen auf Kenntnissen, die ich im Geschichtsunterricht erworben habe. Im Falle der Jahreszahlen bzgl. Hoffmann von Fallerslebens habe ich eine Facharbeit zu diesem Thema vorgelegt. Besondere Quellenhinweise habe ich der Einfachkeit halber direkt, in Klammern an die betreffende Passage angefügt.