Die arabische Welt ist in Bewegung geraten. In vielen Staaten Nordafrikas und der arabischen Halbinsel begehren die Menschen auf und erheben ihre Stimme gegen Armut und Unterdrückung, für mehr Wohlstand, Mitsprache und Demokratie. Dieser epochale Wandel verdient Europas volle Unterstützung.
Wir werden Zeugen einer grundlegenden, vielleicht sogar säkularen Veränderung in der direkten Nachbarschaft Europas. Noch ist nicht klar, wie weit der Umbruch geht – aber fest steht schon jetzt: Die Weichen in der arabischen Welt werden neu gestellt. Das hat tiefe Auswirkungen nicht nur für die Menschen in der Region selbst, sondern auch für uns in Europa.
Europa hat gegenwärtig selbst eine schwere Krise zu bewältigen. Gerade darum fordern wir: Die EU und die Regierungen in Europa dürfen jetzt nicht den Fehler begehen, sich nur um die eigenen Probleme zu kümmern. Die Beschäftigung nur mit sich selbst wäre ein historischer Fehler. Die Entwicklung in der arabischen Welt birgt für Europa große Chancen wie Risiken. Es liegt im ureigenen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interesse der EU, den Menschen in der Mittelmeerregion die Hand zu reichen. Die Entschlossenheit der EU wird mit darüber entscheiden, ob es gelingt, die Chancen des Aufbruches zu nutzen oder ob enttäuschte Hoffnungen von Millionen junger Menschen in Extremismus, Instabilität und massenhafte Flucht umschlagen.
Wir sehen mit Sorge, dass die EU in dieser entscheidenden Stunde die notwendige Entschlossenheit vermissen lässt. Sie handelt zögerlich, unschlüssig, uneinig. Die seit langem bestehenden Strukturen der Zusammenarbeit mit den Nachbarn im Mittelmeerraum sind erstarrt, politische Führung ist nicht zu erkennen. Punktuelle, unabgestimmte und in langwierige und bürokratische Prozesse eingebettete Kooperationsangebote sind reine Feigenblätter und helfen nicht weiter.
Europa und die Bundesregierung müssen jetzt umdenken. Wir brauchen einen strategischen Ansatz, der darauf zielt, die Demokratisierung und den Umbau der arabischen Staaten und Gesellschaften kraftvoll, schnell und über einen längeren Zeitraum hinweg zu unterstützen: einen Marshallplan für Demokratisierung und Modernisierung im Mittelmeerraum.
Wir fordern deshalb:
- einen Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs, von dem das klare Signal ausgeht, dass Europa die Dimension der Entwicklung in der arabischen Welt erkennt und die politische Konsequenz daraus zieht: eine umfassende, gesamteuropäische Förderung von Demokratisierung und Modernisierung in der Mittelmeerregion;
- Die Förderung der Reform staatlicher Strukturen muss erheblich intensiviert werden. Das betrifft Verfassungsrevisionen, Reformen des Wahlrechts, des Polizei- und Justizwesens und die Durchführung von Wahlen. Dabei müssen Fachleute aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen, Mittlerorganisationen und die politischen Stiftungen eine tragende Rolle spielen und finanziell dazu in die Lage versetzt werden. Es reicht nicht, hierfür wenige Millionen aus dem laufenden Bundeshaushalt „zusammenzukratzen“.
- Die junge Generation in der arabischen Welt will eine gute Zukunftsperspektive. Die EU muss dabei helfen mit einer viel engeren Zusammenarbeit in Bildung und Wissenschaft, angefangen mit konkreten Angeboten für den akademischen Austausch. Dazu gehören auch Visaerleichterungen für junge Akademiker.
- Im Zentrum aller Anstrengungen muss der Wirtschaftsaufbau stehen. Unabdingbar hierfür ist ein regionaler Entwicklungsfonds, der so ausgestattet wird, dass er seiner Aufgabe gerecht werden kann. Die bislang vorgesehenen Mittel für die Europäische Nachbarschaftspolitik reichen dafür nicht aus. Die Vergabe der Mittel muss nach strategischen Prioritäten erfolgen. Künftig wird mehr Geld dort eingesetzt, wo mehr für die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft geleistet wird. So wird gute Regierungsführung belohnt und Einmischung oder Belehrung vermieden.
- Die geschwächten Volkswirtschaften der südlichen Mittelmeer-Anrainer brauchen jetzt schnelle unbürokratische Hilfe. Deshalb müssen Investitionshilfen für deutsche und europäische Unternehmen, die in der Region tätig werden wollen, bereit gestellt werden, aber auch für kleine und mittlere Firmen der betroffenen Länder selbst.
- Der Abbau von Handelshemmnissen und das Projekt einer euro-mediterranen Freihandelszone müssen mit Macht vorangetrieben werden.
- Die Kooperation in wirtschaftlichen Schlüsselfeldern muss mittelfristig ausgebaut werden. Einem Leuchtturmprojekt wie der Solarenergie-Initiative Desertec müssen ähnlich ambitionierte Projekte in anderen Bereichen folgen.
Die EU und die Regierungen in Europa stehen gemeinsam in der Verantwortung. Jetzt ist die Zeit zu handeln. Wir Europäer sind gefordert, die in Mittel-und Osteuropa gewonnenen Erfahrungen bei der Unterstützung von Transformationsprozessen für die arabische Welt fruchtbar zu machen. Wir brauchen einen Neustart der Mittelmeerunion.
Die Bundesregierung muss ihre guten Beziehungen zur Regierung Israels nutzen, um bilateral und im Nahost-Quartett eine Wiederaufnahme direkter Gespräche zwischen Israel und Palästina zu erreichen. Deutschland muss gemeinsam mit anderen Ländern Europas und mit der EU aktiv werden, damit die Demokratisierung der arabischen Welt zu einer Chance auch für die Lösung des Nahost-Konflikts wird. Um den Weg dafür frei zu machen, muss die israelische Regierung die Siedlungspolitik beenden. Eine Regelung des Nahostkonflikts ist im elementaren und langfristigen Interesse Israels, der gesamten Nachbarregion und Europas.