Der 24. Februar ist der Tag, an dem die Zeitenwende beginnt. „Ich habe die Entscheidung für eine Militäroperation getroffen", verkündet Wladimir Putin am frühen Morgen. Zehn Minuten danach fallen die ersten Bomben auf die Ukraine. Der Krieg beginnt. Und mit ihm vollzieht sich ein eklatanter Bruch des Völkerrechts, wie Bundeskanzler Olaf Scholz am selben Morgen sagt.

Seit dem 24. Februar verfolgen sie uns, die schrecklichen Bilder aus Mariupol, aus Charkiw, aus Kiew, und die furchtbaren Gräueltaten aus Butscha. Täglich kommen die Geflüchteten an deutschen Bahnhöfen an, ihre verbliebene Habe in wenige Taschen oder nur Plastiktüten gepackt.  Seitdem ist auch klar, dass wir ein neues Denken für unsere Sicherheit, unsere Handlungsfähigkeit und unseren Blick auf die Welt brauchen. Mit seiner völkerrechtswidrigen Invasion setzt Putin die Friedensordnung außer Kraft, wie wir sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kennen.

In einer Sondersitzung des Bundestages am 27. Februar – der ersten Bundestagssitzung überhaupt an einem Sonntag – hat Bundeskanzler Olaf Scholz erste Antworten jenseits von Sanktionen gegeben. Wir liefern jetzt Waffen an die Ukraine. Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro wird für die Bundeswehr bereitgestellt, um diese fit zu machen für die Landes- und Bündnisverteidigung.

Weitere Antworten werden folgen müssen. Es geht, der Kanzler hat es gesagt, um eine Zeitenwende in unserer Außen- und Sicherheitspolitik. Diese Antworten werden wir im Sinne der sozialdemokratischen Werte gestalten. So ist für uns klar, dass die Sicherheitspolitik auch weiter durch Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit flankiert werden muss. Vermeintliche Gewissheiten sind nach Putins Angriff vielleicht ungültig geworden, doch unsere Überzeugungen und unser Wertekompass gelten weiterhin.

Abhanden gekommene Gewissheiten

Es sind die Gewissheiten, auf die wir uns nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Ende des Kalten Krieges in unserer Außen- und Sicherheitspolitik gestützt haben, in vielen internationalen Verträgen verankert, die Putin mit seinem Angriff nun außer Kraft gesetzt hat. Dieser fundamentale Paradigmenwechsel macht es notwendig, unsere Verteidigungspolitik neu auszurichten. Die europäische Friedensordnung bestand aus einem System mehrerer Vereinbarungen und Abkommen. Die Schlussakte von Helsinki von 1975, die Charta von Paris von 1990, das Budapester Memorandum von 1994 und die NATO-Russland-Grundakte von 1997 bilden unter anderem ihre Grundlagen.

Auch Russland hat sich darin zur Souveränität und Unabhängigkeit aller Staaten bekannt, auch zu der der Ukraine. Im Vertrauen auf dieses Versprechen hat die Ukraine damals auf ihre Nuklearwaffen verzichtet. Die Europäische Sicherheitscharta vom 19. November 1999 besagt: Jeder Staat hat das Recht auf Sicherheit. Jeder Staat hat das Recht, seine Bündnisverträge frei zu wählen. Wir haben uns bis in den Februar 2022 darauf verlassen, dass in Europa Grenzen unverletzlich und Kriege obsolet geworden sind.

Wir wurden eines Besseren belehrt. Dieser Angriffskrieg ist nicht der erste Völkerrechtsbruch Putins, er reiht sich ein in die Annektion der Krim, den Krieg im Donbass, die Invasion von Teilen Georgiens oder auch blutige Interventionen in Syrien und Libyen. Dazu kommen hybride Bedrohungen: Giftmorde in Westeuropa, gezielte Tötungen durch Geheimdienste, auch direkt vor unserer Tür im Berliner Tiergarten. Und Cyberangriffe, auch auf den Bundestag. Putins Wagner-Söldner kämpfen in vielen Krisengebieten. Und damit nicht genug: Putin hat Russland auch innenpolitisch zum Schlechteren verändert. Er greift auch die eigene Gesellschaft massiv an. Die Menschenrechtslage im ganzen Land ist katastrophal. Wahlen sind nicht frei, der Wandel hin zur Autokratie wird massiv vorangetrieben. Aktivist:innen, Journalist:innen, LGBTI, die gesamte Zivilgesellschaft in Russland ist von massiven Repressionen betroffen.

Konflikt zwischen Freiheit und Diktatur

Der Angriff auf die Ukraine hat endgültig offenbart, dass sich der russische Präsident nicht mehr um Menschenrechtsstandards und nicht mehr um die alte Sicherheitsordnung schert. Die Cyberangriffe, die Menschenrechtsverletzungen in der Russischen Föderation, der Krieg in der Ukraine sind aus sozialdemokratischer Sicht letztlich die sichtbaren Symptome eines übergeordneten Konflikts: dem zwischen Freiheit und Diktatur.

Es sind Putins Angriffe. Die Zeitenwende ist von ihm verursacht worden. Und gerade wir als Sozialdemokrat:innen müssen darauf reagieren. Mehr denn je gelten dabei die Sätze, die Willy Brandt 1970 gesagt hat: „Die Bundesrepublik Deutschland führt ihre Ostpolitik nicht als Wanderer zwischen den Welten, sondern in der festen Verankerung der westlichen Zusammenarbeit. Atlantisches Bündnis und westeuropäische Partnerschaft sind für uns essentielle Voraussetzungen für den Erfolg eines Ausgleichs mit dem Osten.“ Diesen Anspruch werden wir auch zukünftig in beiden Dimensionen – Westbindung und Europa, Ausgleich und Sicherheit – mit Leben füllen müssen.

Dazu gehört eine gut ausgerüstete Bundeswehr. Die Bundesregierung hat deshalb zusätzlich zum regulären Haushalt ein Sondervermögen Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Dies erlaubt es uns, die Bundeswehr mit Blick auf Landes- und Bündnisverteidigung zu stärken und gleichwohl die Mittel für den sozialen Zusammenhalt und den Klimaschutz zur Verfügung zu stellen.

In den letzten Jahren ging es in der sicherheitspolitischen Debatte vor allem um die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Um unsere Freiheit im schlimmsten Fall verteidigen zu können, muss die Bundeswehr aber deutlich besser ausgerüstet sein. Sie muss auch die Landes- und Bündnisverteidigung gewährleisten können, dies ist seit dem 24. Februar drängender geworden. Dafür ertüchtigen wir sie jetzt mit dem Sondervermögen, und auch die Nationale Sicherheitsstrategie, die die Koalition gerade ausarbeitet, wird diese sicherheitspolitische Zeitenwende berücksichtigen müssen.

Die NATO braucht dabei keine neue Rolle einzunehmen. Auch Deutschland als NATO-Mitglied braucht das nicht. Wir müssen aber unsere Rolle in der NATO im Ernstfall erfüllen können. Gleichzeitig muss die Europäische Union in der Verteidigungspolitik effektiver und souveräner werden. In den vergangenen Wochen stellte die EU mit ihrer Geschlossenheit und schnellen Reaktion auf Putins Angriff unter Beweis, dass dies im Angesicht der Bedrohung auch möglich ist. Demokratien brauchen Demokraten und sie brauchen Sicherheit. Dies ist seit dem 24. Februar klarer denn je.

Auch die EU wird diese teils bittere Erkenntnis ebenfalls berücksichtigen und langfristige Antworten entwickeln müssen bei ihren Bemühungen, ihre Verteidigungs- und Sicherheitspolitiken zu koordinieren und auf ein gemeinsames Fundament zu stellen. Wir müssen unser gemeinsames Haus Europa stärken und besser schützen. Deshalb werden wir auch über die Europäische Verteidigungsunion diskutieren müssen. Mehr Souveränität Europas schwächt die NATO nicht, wie schon Willy Brandt 1983 sagte: „Die Allianzen werden nicht gesprengt, auch nicht gelockert, wenn die Europäer ihr Gewicht mehren.“

Natürlich erinnert all das an die Abschreckung während des Kalten Krieges. Aber der russische Angriff auf ein souveränes Land, das zweitgrößte Land Europas, ein Land mit 44 Millionen Einwohnern direkt an der Grenze der EU, hat gezeigt: Wir müssen unsere Freiheit und unsere Demokratie, unsere offene Gesellschaft und unseren Wohlstand jetzt in Europa wieder mehr schützen. Unser Ziel dabei bleibt die Wiederherstellung einer stabilen und verlässlichen europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung, die für alle Staaten gleichermaßen Gültigkeit hat und die Unverletzbarkeit aller Grenzen garantiert.

Die Gesprächskanäle müssen offen bleiben

Zentral an der sozialdemokratischen Ausgestaltung der sicherheitspolitischen Zeitenwende ist, dass wir weiterhin nicht nur auf militärische Komponenten setzen. Im Gegenteil, wir müssen auch unser ziviles Engagement langfristig ausbauen.

Bei der Antwort auf die neuen Herausforderungen leiten uns die gleichen sozialdemokratischen Grundwerte, die auch schon Willy Brandts Ostpolitik geprägt haben: Das Angebot des Dialogs und des Ausgleichs, aber auf der Basis von Werten und Respekt. Wir müssen die Gesprächskanäle mit Russland sogar jetzt aufrechterhalten.

Olaf Scholz hat seit Beginn des Ukraine-Krieges mehrfach mit Wladimir Putin telefoniert. Auch künftig ist es die ureigenste Aufgabe der Diplomatie, Gesprächskanäle offenzuhalten. Auch künftig sind Verhandlungen unser bevorzugtes Mittel, für Frieden einzutreten. Auch künftig stimmen wir uns mit unseren Partnern in Europa und auf der Welt eng ab und werden nicht müde werden, bilateral und multilateral in den internationalen Organisationen Gespräche zu führen.

Zu unserer Vision einer neu ausgestalteten Sicherheitspolitik gehören auch zusätzliche Mittel für Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe und zivile Krisenprävention. Wir werden die ODA-Quote, also den Anteil an öffentlichen Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit am Bruttonationaleinkommen, stabil bei 0,7 Prozent halten.

Allein die humanitäre Hilfe wird 2022 auf über zwei Milliarden Euro aufgestockt, und das soll noch nicht das Ende sein. Die Ernährungssicherheit im Globalen Süden ist vielerorts durch den Ukraine-Krieg noch prekärer geworden. Wir werden auch angesichts der vielen regionalen Krisen und der Auswirkungen des Klimawandels das Geld dringend brauchen. Damit stärken wir die Resilienz im Globalen Süden in vielerlei Hinsicht, gegen Hunger genauso wie gegen Angriffe auf oft instabile Demokratien. Auch Energiesicherheit ist jetzt mehr denn je Bestand der Außenpolitik. Die Bundesregierung arbeitet – ebenso wie die EU-Kommission – mit Hochdruck daran, die Energieabhängigkeit von Russland so schnell wie möglich zu beenden. Natürlich wollen wir die Energiewende jetzt erst recht und so schnell wie möglich vorantreiben, hin zur Erneuerbaren Energie. Das ist der langfristige Plan. Wir müssen aber auch kurzfristig handeln. Dazu setzen wir unter anderem auf Flüssiggasterminals und auf das kürzlich im Bundestag verabschiedete Gasspeichergesetz.

Und last but not least: Die Ertüchtigung der Bundeswehr bedeutet nicht, dass wir unseren Kurs in der Abrüstung und in der Rüstungskontrolle verlassen. Zum Beispiel bringen wir jetzt, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, ein Rüstungsexportkontrollgesetz auf den Weg. Damit wird erstmalig in der Geschichte Deutschlands die Rüstungsexportkontrolle der Bundesregierung umfassend gesetzlich geregelt.

Nicht auf Kosten der sozialen Sicherheit

Ganz wichtig ist für die SPD-Fraktion: Diese Zeitenwende in der Außen- und Verteidigungspolitik darf nicht dazu führen, dass die innere und die soziale Sicherheit darunter leiden. Genau deshalb haben wir den Weg des Sondervermögens im Grundgesetz gewählt, um die Bundeswehr zu ertüchtigen. Diese Investitionen lassen sich auf das Zwei-Prozent-Ziel der NATO anrechnen, fallen aber nicht unter die Schuldenbremse.

Deswegen: Es muss nicht an anderer Stelle gekürzt werden, um die Vorgaben der Schuldenbremse zu erfüllen, zusätzliche Investitionen im Verteidigungsbereich müssen also nicht bei anderen Titeln im Haushalt erspart werden. Unser Koalitionsvertrag gilt weiterhin mit den darin vorgesehenen Maßnahmen und Plänen. Insofern geht es gar nicht um die Frage, ob wir mehr in die Verteidigung investieren oder stattdessen in den Klimaschutz und die soziale Sicherheit. Es geht nicht um „Entweder-Oder“. Der SPD-Fraktion geht es darum, äußere und gleichzeitig innere und soziale Sicherheit zu schaffen.

 

Dieser Text stammt aus der aktuellen Zeitschrift "Fraktion intern". Sie kann hier [PDF] herunter geladen werden.