Von Haustür zu Haustür eilen die Wahlkämpfer der Labour-Party im Londoner Stadtteil Westminster. Zwei Tage lang nutzen wir die Gelegenheit, die Stimmung auf der Straße zu spüren, den Wahlkampfendspurt zu begleiten und die jungen Campaigner zu beobachten. In Großbritannien, wo das Mehrheitswahlrecht herrscht, gilt für die Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten: „The winner takes it all!“ Verglichen mit Deutschland sind die Wahlbezirke klein. Gerade einmal etwa 60.000 Wählerinnen und Wähler zählen sie. Erstaunlich genau wissen die Abgeordneten über ihre Wählerpotenziale und Stammwähler Bescheid. In Notizbüchern sammeln sie über Jahre die Sorgen und politischen Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger. Vermehrt sei in den letzten Jahren dabei zu beobachten, wie die Briten wahlfreudiger werden. Auch kleinere Parteien wie die Liberaldemokraten (Lib Dem) oder die United Kingdom Independent Party (UKIP) erhalten von den Wählerinnen und Wählern zunehmend eine Chance. Das Gespräch an der Haustür ist Seismograf für diese Entwicklung.

Die vorherrschende Stimmung an der Basis in diesem Wahlkampf lässt sich deshalb wohl am besten mit „ernüchtert“ beschreiben. Viele erwarten ein sogenanntes „hung parliament“, also unklare Mehrheitsverhältnisse trotz Mehrheitswahlrecht. In der letzten Woche vor der Wahl liegen die beiden großen Parteien Kopf an Kopf. Weder Premierminister David Cameron und seine Tories, noch die oppositionelle Labour-Partei mit Herausforderer Ed Miliband konnten in den Umfragen davonziehen. Eine Alleinregierung erscheint für beide unwahrscheinlich.

Stimmenverluste an die UKIP?

Doch wie steht es um die politischen Mitbewerber, um die vermeintlich Kleinen, die am Ende so entscheidend sein könnten? Die konservativen Tories spüren in vielen der knappen Wahlkreise Stimmenverluste an UKIP. Für mehr als eine Handvoll Sitze im britischen Unterhaus wird es für die Europakritiker wohl dennoch nicht reichen. Die LibDems, die bereits bei der Europawahl dramatisch verloren hatten, werden vermutlich wieder Federn lassen müssen. Dramatisch könnte für Labour die Wahl in ihrer einstigen Hochburg Schottland ausgehen. Durch das Referendum vom September 2014 befindet sich die Scottish National Party (SNP) in einem Höhenflug und droht Milibands Partei über vierzig Sitze zu entreißen. Auf der Zielgeraden hat der Labour-Chef bereits einen „Deal“ mit den schottischen Nationalisten ausgeschlossen. Ganz ohne sie eine Regierung zu bilden, dürfte jedoch kaum gelingen, wenn Labour David Cameron ablösen will.

„Hung parliament“ – Wenn die britischen Wahlkämpfer in diesen Tagen immer wieder davon sprechen, dann geht es nicht nur nüchtern um eine politikwissenschaftliche Beschreibung unklarer Verhältnisse nach einer Mehrheitswahl. Koalitionsregierungen rufen bei den Briten immer noch ein gewisses Unwohlsein hervor. Auf das Mehrheitswahlsystem Großbritanniens, das hunderte Jahre für die politische Stabilität und für Gewissheit bei Tory- und Labour-Anhängern gesorgt hat, ist kein Verlass mehr. Es produziert plötzlich die Notwendigkeit zur Koalitionsbildung. Für die Briten ist das trotz der Koalitionserfahrungen von 1974 und seit 2010 immer noch eine ungewohnte Situation. Sie wirft Zweifel auf, ob das bestehende Wahlsystem noch zeitgemäß ist und ob sich die Insel nachhaltig politisch wandelt. So sind in der jetzigen Situation die Erfahrungen aus Deutschland für Politikerinnen und Politikern mit der Koalitionsbildung und dem Regieren in Koalitionen von Interesse. Kaum ein Gesprächspartner spricht uns nicht darauf an. Das „hung parliament“ bewegt die Briten.

Kein Referendum unter Labour-Regierung

Für Europa wird das Wahlergebnis die Richtung der kommenden Jahre vorgeben. Cameron konnte seine Fraktion nur mit der Zusage zusammenhalten, im Jahr 2017 ein Referendum über den Verbleib in der Europäischen Union abzuhalten. Auch wenn aktuelle Umfragen zufolge eine Mehrheit der Briten für den Verbleib in der EU sind, würde der Vorlauf zu einem Referendum Großbritannien europapolitisch weiter lähmen. Unter einer Labour-Regierung hingegen wird es kein Referendum geben.

Aus deutscher Perspektive schein ein Umstand interessant: Blickt man auf die wirtschaftliche Entwicklung steht Großbritannien an der Spitze der OECD, und Premierminister Cameron leistete sich keine zu großen Fehler. Gleichzeitig wurde Oppositionsführer Miliband noch vor wenigen Monaten als chancenlos im direkten Vergleich angesehen. Dies hat sich nun auf der Zielgeraden deutlich geändert. Ed Miliband konnte kräftig aufholen und David Cameron droht trotz seiner vermeintlichen wirtschaftlichen Erfolge die Abwahl. Das ist vor allem deshalb für die deutschen Beobachter so interessant, weil hierzulande bereits mehr als zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl die ersten Kommentatoren wieder beginnen, der SPD jegliche Chancen auf das Kanzleramt abzusprechen. Am Ende haben in Großbritannien wie in Deutschland die Wählerinnen und Wähler das letzte Wort. Spannung ist in beiden Fällen garantiert.

Dr. Katarina Barley, MdB, und Dr. Jens Zimmermann, MdB, begleiteten Labour-Kandidaten am 29. und 30. April 2015 im Haustür-Wahlkampf in London.