Herr Oppermann, wie viele Tage Freizeit haben Sie sich seit Sommer gegönnt?

Thomas Oppermann: Das waren nicht viele Tage. Der Sommerurlaub war regelmäßig unterbrochen durch Sondersitzungen des Parlamentarischen Kontrollgremiums zur Überwachungspraxis der NSA. Dann kam die heiße Wahlkampfphase, dann die Sondierungen, dann die Koalitionsverhandlungen. Jetzt haben wir schon wieder einen kleinen Wahlkampf in der SPD um die Stimmen der Mitglieder für den Koalitionsvertrag. Der wird allerdings sehr freundschaftlich geführt.

Wie schalten Sie ab?

Um abzuschalten, gehe ich in den Wald. In Göttingen gibt es einen wunderbaren Stadtwald. Wenn ich dort eine Stunde laufe, habe ich den Kopf frei.

Kennen Sie das Bedürfnis, richtig Pause zu machen?

Ja, unbedingt! Ich glaube, dass Politiker, die permanent am Limit arbeiten und unter andauerndem Zeitdruck Entscheidungen fällen müssen, nicht mehr kreativ sein können. Politiker dürfen nie den Überblick verlieren und sollten sich ihre Zeit so einteilen, dass sie sich auch erholen können.

Momentan stehen viele Termine an der SPD-Basis an. Ihre Mitglieder sollen über den Koalitionsvertrag entscheiden. Verstehen Sie, dass manche Nein zur großen Koalition sagen?

Natürlich, ich habe großen Respekt vor jedem einzelnen SPD-Mitglied. Wir sind ja eine diskussionsfreudige Partei. Bei uns gilt der geflügelte Satz: Eine stumme Partei ist eine dumme Partei. Ich habe in den Veranstaltungen eine positive Grundstimmung erlebt. Viele Mitglieder sind überrascht über unseren Verhandlungserfolg. Allen ist wichtig, dass die SPD durch konkrete Politik das Leben in diesem Land verändern kann – nicht erst 2017, sondern schon jetzt.

Mit welchem Ergebnis des Basisvotums rechnen Sie?

Das Votum ist bereits jetzt ein Erfolg, weil es unsere Mitglieder aktiviert wie schon lange nicht mehr und enormes Interesse an der Regierungspolitik der SPD weckt. Ich hoffe auf ein deutliches Votum: 70 zu 30, vielleicht sogar noch besser. Am meisten freue ich mich, wenn wir eine hohe Wahlbeteiligung hinbekommen. Je höher die Wahlbeteiligung ist, desto legitimierender ist das Ergebnis und umso überzeugender wirkt das demokratische Experiment einer Mitgliederbefragung. Wenn 70 Prozent der SPD-Mitglieder ihre Stimme abgeben, wäre das super.
 

Falls es nicht klappt: Muss die Parteispitze dann abtreten, Sie womöglich auch?

Es wird klappen! Der Koalitionsvertrag enthält viele gute Gründe dafür: etwa den Mindestlohn, den Doppelpass oder die Frauenquote. Dafür haben wir gemeinsam vor der Wahl gekämpft und das können wir jetzt umsetzen. Dem wird sich die Mehrheit unserer Mitglieder nicht entgegen stellen.
 

Staatsrechtler kritisieren, dass das Votum einem Auftrag an die Abgeordneten ähnelt und damit rechtlich bedenklich ist.

Diese Debatte ist so theoretisch, dass ich mich darüber wundere. Jeder Jura-Student kennt die Grundprinzipien unserer Demokratie: zum einen die Mitwirkung der Parteien an der Willensbildung des Volkes, zum anderen das freie Mandat. Jeder weiß, dass diese beiden Prinzipien ausbalanciert sein müssen. Nimmt man die jetzigen Kritiker beim Wort, dürften Parteien nicht einmal Wahlkampfprogramme schreiben und auch nicht dafür werben, dass diese später im Regierungshandeln und im Bundestag umgesetzt werden. So ein Programm wäre dann ja auch schon Druck auf frei gewählte Abgeordnete. Wer die Grundsatzentscheidungen von Parteien über Koalitionsbeteiligungen infrage stellt, stellt damit die parlamentarische Demokratie auf den Kopf.
 

Wie oft kann es sich eine Partei leisten, ihre Basis zu befragen?

Wann ein Basisvotum kommt, bestimmen unsere Mitglieder. Die Mitglieder können ein Votum in die Wege leiten, wenn sie dafür das nötige Quorum erreichen. Das wird allerdings nur in Ausnahmefällen und bei absoluten Grundsatzentscheidungen der Fall sein. Hinter einem solchen Votum steckt ein gewaltiger Kraftakt. Eine Abstimmung von 475.000 Mitgliedern lässt sich nicht tagtäglich organisieren.

 

Wird die Basis auch befragt, falls 2017 ein Bündnis mit der Linkspartei ansteht?

Wir haben auf dem Parteitag beschlossen, Bündnisse mit der Linkspartei nicht mehr kategorisch auszuschließen. Bisher hatte es die Linkspartei einfach. Sie musste nichts tun, um ihre Regierungsfähigkeit zu beweisen.Jetzt drehen wir den Spieß um. Wir werden Gespräche führen und beobachten, ob sie eine linkspopulistische Ausrichtung behalten oder wie im Osten eine pragmatische Regierungspartei sein will.
 

Ist die Linkspartei 2017 regierungsfähig?

Wenn die Linkspartei in vier Jahren regierungsfähig sein will, hat sie noch einen sehr weiten Weg vor sich. Ich halte das für eine völlig offene Frage. Bei Gregor Gysi habe ich den Eindruck, dass er die Linke bis 2017 koalitionstauglich machen will. Aber in der Partei gibt es noch immer viele Fundamentalisten und politische Sektierer, die sich eine Zusammenarbeit mit SPD und Grünen nicht vorstellen können.
 

Steht die SPD der FDP derzeit näher als der Linken?

Im Moment sind beide nicht koalitionstauglich.

 

Wünschen Sie sich, dass die FDP 2017 wieder in den Bundestag einzieht?

Jetzt steht die FDP vor einem Überlebenskampf. Sie muss sich neu ausrichten. Sie muss entscheiden, ob sie sozial- oder wirtschaftsliberal sein will. Mit dem zweiten Ansatz ist sie gescheitert. Und sie hat die AfD als rechtspopulistische Konkurrenz. Christian Lindner ist ein tatkräftiger und kluger Politiker, aber es ist keineswegs sicher, dass er es schafft, die FDP zurück in den Bundestag zu führen.

Aber es würde der SPD neue Optionen bringen.

Wenn die FDP sich wieder eine sozialliberale Ausrichtung gibt, wäre sie eine willkommene Bereicherung des Bundestags.

 

Auf den Regionalkonferenzen beschäftigt die Mitglieder immer wieder das Schicksal von Edward Snowden. Für viele ist er ein Held. Für Sie auch?

Edward Snowden verdient Respekt. Er hat bewusst gegen geltende Gesetze verstoßen und Staatsgeheimnisse verraten, weil er damit auf Missstände aufmerksam machen wollte. Vieles von dem, was er aufgedeckt hat, entspricht offenbar der Wahrheit. Wir brauchen für Edward Snowden eine humanitäre Alternative zu lebenslanger Gefängnishaft in den USA. Dazu brauchen wir eine Verhandlungslösung, nicht eine einseitige Aktion eines einzigen Landes.

 

Sollte Snowden demnach besser nicht nach Deutschland kommen?

Edward Snowden wäre ein wertvoller Zeuge. Er sollte aber schon um seiner eigenen Sicherheit willen nicht nach Deutschland kommen, wenn es nicht vorher eine Verständigung mit den USA gegeben hat.  Wichtig bleibt im Übrigen auch, dass die Amerikaner uns endlich umfassend aufklären.

Wird das Parlamentarische Kontrollgremium Snowden in Russland befragen?

Wir haben die Bundesregierung gebeten, zu prüfen, inwieweit Snowden in Moskau befragt werden kann, ohne dass er dabei in Schwierigkeiten gerät. Ich hoffe, dass die Bundesregierung am Montag bei unserer nächsten Sitzung dazu konkrete Vorschläge vorlegt.
 

2009 wurden manche Aufgaben des Kontrollgremiums reformiert. Klappt die Geheimdienstaufsicht jetzt besser?

Theoretisch ja, praktisch nein. Die Mitglieder des PKGr sind in den geheimen Sitzungen einer Übermacht der Nachrichtendienste ausgesetzt. Das PKGr muss künftig mit einem Stab von mindestens zehn Mitarbeitern ausgestattet sein. Sie sollen für eigenständige Untersuchungen und Recherchen vor Ort bei den Geheimdiensten eingesetzt werden. Als Abgeordnete können wir unser Zutrittsrecht bei den Diensten bisher kaum wahrnehmen. Und mit derzeit nur zwei Mitarbeitern können wir unsere Kontrollrechte nicht voll ausüben.

 

Wie konkret sind die Pläne?

Wir verhandeln derzeit darüber in den Fraktionen. Ich habe vorgeschlagen, dass das Gremium künftig im Einzelfall auch öffentlich tagt. Hierdurch wird die Kontrolltätigkeit transparenter. Auch das gehört zu einer effektiven und demokratischen Kontrolle der Geheimdienste.

 

Der Koalitionsvertrag trägt in vielen Bereichen eine sozialdemokratische Handschrift - beim Kompromiss zur doppelten Staatsbürgerschaft eher nicht. Migrantenverbände sind bitter enttäuscht...

In den Koalitionsverhandlungen ist es uns gelungen, der Union die Doppelte Staatsbürgerschaft für nahezu 500.000 junger Menschen abzuringen, die hier geboren und aufgewachsen sind. Das ist ein großer Erfolg. Deutschlands Kinder können auch deutsche Staatsbürger bleiben. Wir machen Schluss mit der unwürdigen Praxis des Optionszwangs, bei der junge Menschen, die 23 Jahre lang Deutsche waren, gezwungen werden, sich gegen die Wurzeln ihrer Familie zu entscheiden. Gemeinsam mit den Migrantenverbänden werden wir darüber hinaus weiter dafür kämpfen, den Doppelpass auch für nicht in Deutschland geborene Einwanderer zu ermöglichen.

 

Wann kommt die Abschaffung des Optionszwanges?

Neben der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns wird die Beseitigung des Optionszwanges zum 100-Tage-Programm der neuen Regierung gehören.

In der entscheidenden Nacht der Koalitionsverhandlungen haben Sie ein Foto ins Internet gestellt, dass auf eine gemütliche Runde mit Bundesinnenminister Friedrich hindeutet. Sind aus Gegnern nun beste Freunde geworden?

Das Foto zeigt eine Verhandlungspause. Koalitionsverhandlungen sind für mich nicht der richtige Anlass, um neue Freundschaften zu schließen. Das waren harte, offene und ehrliche Verhandlungen. Das ist eine gute Voraussetzung, um hinterher erfolgreich zu regieren. Darauf kommt es an.
 

Wären Sie und Friedrich ein gutes Regierungsteam?

Ich habe Herrn Friedrich zuerst als politischen Gegner im Wahlkampf kennengelernt. Jetzt habe ich ihn als möglichen Koalitionspartner kennengelernt. Ich bin bereit, ihn in beiden Rollen zu akzeptieren.
 

Sie sind dann in der Rolle des Innen- oder des Justizministers?

Es gab noch keine Gespräche über Personalfragen. Sigmar Gabriel wird diese Gespräche rechtzeitig führen und die richtigen Entscheidungen treffen.

 

Und dann stehen Sie als Minister bereit.

Ich mache meine Arbeit und lasse die Dinge auf mich zukommen.