Um über das Verhältnis von der Demokratie zu ihren Bürgern zu diskutieren und Wege zu neuer Demokratiebegeisterung zu suchen, lud die SPD-Bundestagsfraktion zu dem Kongress „Mehr Demokratie leben“ ein. Denn der Willensbildungsprozess nach demokratischen Prinzipien wie Mehrheit und Opposition oder Streit und Kompromiss, der den Alltag der parlamentarischen Praxis prägt, muss als Normalfall sichtbarer werden. Die Volksherrschaft ist zwar kein Verfahren zur Vermeidung von Streit, aber zweifellos kann man besser streiten, als es heute oftmals geschieht. Das wurde erörtert.
Demokratie vererbt sich nicht. Sie muss immer wieder aufs Neue errungen und verteidigt und gelebt werden, das ist ein langer Weg. In seinem Grußwort zitierte Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier Willy Brandts berühmtes Credo „mehr Demokratie wagen“ aus dem Jahre 1969. Zwar seien wir heute deutlich weiter, aber es gebe immer noch kein Geheimrezept, wie sich die Demokratie noch verbessern ließe. Allerdings habe sie sich als sehr robust und gefestigt gezeigt: „Bei allem Streit – wenn es darauf ankam, haben wir alle im Bundestag zu Europa gestanden“, sagte Steinmeier. Das sei umso wichtiger, je mehr Demokratie- und Europaskepsis sich breitmache. „Viele der Abgeordneten bekommen Briefe in ihren Wahlkreisen, die gegen Europa gerichtet sind, neue Strömungen wie die Piratenpartei konstituieren sich, vieles ist in Bewegung“, sagte er. Wichtig sei es darum, mit allen geellschaftlichen Gruppen im Dialog zu bleiben, das Gespräch auch direkt zu suchen.
Auch für ihn sei es neu gewesen, zu erkennen, dass sich an einem Streit wie bei Stuttgart 21 die Demokratiefrage entzündet. Doch solche Aktionen führten letztlich zu mehr Attraktivität der Demokratie, denn sie beteiligten den Bürger mehr, erläuterte Steinmeier. „Junge Leute sind uns da Welten voraus, wir können von ihnen lernen.“
Hans-Peter Bartels, Sprecher der AG Demokratie der SPD-Fraktion, betonte in seiner Rede, dass die Volksherrschaft oft als zu selbstverständlich hingenommen werde. Ihn erinnerte das an Konrad Adenauer, der mal sagte, „Kinder kriegen die Leute von alleine“ – so denken viele Politiker und Bürger auch über die Demokratie, mahnte Bartels. „Aber die Demokratie ist nur so stark wie ihre Bürger demokratisch sind“, so Bartels. Er verwies auf die SPD-Zukunftswerkstätten, in denen an neuen Formen der Demokratie gebastelt werde. Bartels unterstrich, dass es für seine Fraktion wichtig sei, direkte demokratische Elemente in die Verfassung einzubauen, wie etwa große Volksabstimmungen. Bartels: „Wir brauchen mehr Demokratiepolitik“. Und die Bundesregierung tue das Ggegenteil, wenn sie zum Beispiel bei der Bundeszentrale für politische Bildung kürze – genau dort, wo Demokratie auch pädagogisch aufbereitet werden kann.
"Hedonistische Happening-Kultur"
In einer beeindruckenden Analyse der heutigen Demokratie konstatierte Joachim Gauck, Gastredner des Kongresses, die Demokratie sei ein Modell mit leidenden Akzeptanzproblemen – doch: „Es liegt uns Deutschen nicht, einen Verdruss als Kulturdiskurs zu begreifen.“ Schließlich seien die Deutschen lange in einer Tradition des Scheiterns gefangen gewesen; erst mühsam und langsam sei dann das „Haus der Demokratie“ gebaut worden. „Es fehlt uns aber noch immer ein Leitnarrativ dazu“, sagte Gauck. Unsere „hedonistische Happening-Kultur“ habe aber durchaus die Möglichkeit, die Demokratie positiv zu stärken – mittels Begeisterung. Denn es gebe eine Mehrheit, die ganz offensichtlich eine Sehnsucht nach Demokratie habe, trotz aller Rückzugserscheinungen. Und da müsse angesetzt werden. „Ob Attac oder Adhocracy, neue Fomen erobern den Diskurs“, sagte Gauck und erklärte: „Diese Formen, diese Verfechter sind bei uns, wir merken es nur oft nicht.“
Gauck forderte eine „neue Bereitschaft, das, was wir erreicht haben, was wir gestaltet haben, auch so zu sehen, dass es gewachsen ist, dass es etwas Tolles ist, es anzunehmen als etwas Positives. „Wie neigen dazu, etwas nur von seinen Mängeln her zu beschreiben“, stellte Gauck fest. „Aber wir müssen uns über unsere westlichen Werte freuen, sie annehmen.“
Und für den Umgang mit den ewigen Skeptikern hatte er auch noch einen Ratschlag: „Fragt sie nach ihren Alternativen. Was wollen sie? Manchesterkapitalismus? Herrenschichten? Was ist es? Jeder solle darauf achten, nicht die „Flucht aus der Freiheit“ zu betreiben. Damit zitierte Gauck den Philosophen Erich Fromm. Es gebe soviel Flucht, in die Konformität, aus Angst heraus, ins Destruktive, ins Passive. Doch wer sich ängstige, müsse ja immer zu anderen Angst machen, um die eigene Angst zu überwinden.
"Ingenieure der letzen Dinge"
Für Joachim Gauck ist klar: „Politik ist der andauernde Prozess, das Gute zu erreichen, der Prozess des Geborenwerdens. Politiker sind also Ingenieure der letzen Dinge“. Und nur, weil man sich nicht immer sicher sei auf dem Weg zu Demokratie, dürfe man niemals irrational werden. „Wir müssen handlungsfähig bleiben.“
Zu den weiteren Gästen und Rednern zählten Sybille Reinhardt, Thomas Steg, Katja Mast, Wofgang Zeh, Suzanne Schüttemeyer, Martin Schwanholz, Sönke Rix und Sigmar Gabriel.
Die Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag lud Experten zu einer Tagung ein, um über den Begriff der Demokratie zu diskutieren. Was zeichnet die Volksherrschaft heute aus? Wo lauern Gefahren?