Lieber Adi Ostertag, lieber René Röspel,
sehr geehrte Frau Dr. Goch, sehr geehrter Herr Dr. Walterscheid, sehr geehrter Herr Hasenberg,
sehr geehrter Herr Landrat Dr. Brux,
verehrte Vertreter aus dem Bundestag, Landtag und Kommunen, liebe Vertreter der AWO Ennepe-Ruhr,
sehr geehrte Damen und Herren,
Und vor allem: Liebe Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtler,

zur Zeit ist es jeden Morgen dasselbe: man schlägt die Zeitung auf. Und über Nacht haben Ratingagenturen, deren Namen bis vor kurzem nur Eingeweihte kannten, mal wieder einen Staat runtergewertet, mit katastrophalen Folgen! Wir sind – Gott sei Dank – bisher verschont geblieben. Aber außer der Eurokrise scheint es in der Politik im Augenblick kein anderes Thema zu geben. Das ist einerseits berechtigt – denn es geht ja um nichts geringeres als die Zukunft Europas. Andererseits rückt damit alles Andere in den Hintergrund und das ist nicht ungefährlich.

Natürlich müssen wir diese Krise überwinden – so schnell wie möglich! Und natürlich müssen wir die tägliche Diktatur der Finanzmärkte beenden. Aber bei aller Diskussion um europäische Rettungspakete, um Griechenland, Italien und Spanien, um stürzende Regierungen und Staatsverschuldung: Wir dürfen über all das nicht vergessen, was unsere Gesellschaft hier im Innersten zusammenhält. Klar, das ist nicht nur ein Punkt: Wenn ich es nach einigen Jahren Erfahrung mit anderen Regionen der Welt betrachte, dann scheinen wir fast auf einer Insel zu wohnen. Wir bleiben von großen Naturkatastrophen verschont, die anderswo regelmäßig das vernichten, was Menschen sich erarbeitet haben. Am letzten Sonntag habe ich in meiner Rede zum Volkstrauertag daran erinnert, dass ich zur ersten Generation in Deutschland gehören werde, die in ihrer ganzen Biografie von Krieg verschont geblieben ist und in Frieden lebt. Wir leben in einem Land mit starker Wirtschaft und starken Gewerkschaften, beides stärker als selbst in unserer europäischen Nachbarschaft, von anderen Regionen der Welt ganz zu schweigen. Alles das schätzen wir vielleicht nicht genug.

Aber am Ende ist es das allein auch nicht, was darüber entscheidet , ob sich Menschen in einem Land „aufgehoben“ fühlen, ob ihnen der Ort, wo sie geboren sind oder wo der Beruf sie später hinverschlägt, auch zur Heimat wird. Am wenigsten entscheidet darüber Politik. Es geht nicht ohne Politik. Und ich wünschte mir, es gäbe mehr Menschen, die sich in ihrer Gemeinde, ihrer Stadt, dafür interessieren und sich engagieren! Es geht nicht ohne Politik, aber auch gute, vernünftige, verantwortungsvolle Politik – zur Zeit kann man mit Blick auf Berlin Zweifel haben, ob es die gibt – kann nicht alles. Jede Politik hat Grenzen und die liegen nicht nur am fehlenden Geld. Geld ist nicht unwichtig, das wissen wir alle. Aber Politik hat keine Allzuständigkeit. Vieles bleibt ihr sogar verborgen, was an Nöten einzelner Menschen und ganzer Familien besteht.

Gäbe es niemanden, der genauer hinschaut, was mit dem Nachbarn oder der Nachbarin passiert, gäbe es niemanden, der sich kümmert um die, die alleine nicht zurecht kommen, dann sähe es in dieser Gesellschaft, in unserem Land anders und kälter aus. Aber es gibt diese Menschen, die sich kümmern, immer zu wenige, aber doch so viel. Und deshalb bin ich gerne nach Hattingen gekommen, um einmal herzlich und laut „Danke“ zu sagen! Danke an all die, die heute hier sind, nicht auf Zeit und Geld schauen und sich im Ehrenamt um ihren Nächsten kümmern. Herzlichen Dank dafür!

Meine Damen und Herren,

ich weiß, wovon ich rede: Ich bin selbst ein Kind des Ehrenamtes. Ich bin Mitte der Fünfziger Jahre geboren.  Die schlimmsten Nachkriegswunden waren geheilt, und der Wiederaufbau war in vollem Gange – im Großen wie im Kleinen! Die Löhne waren niedrig, gearbeitet wurde hart, in jeder Familie- auch in meiner! Ganz wie bei Euch zu Haus – meine Eltern gingen beide arbeiten. Aber in meinem Dorf im Ostwestfälischen gab es sie, die Menschen, die sich um uns Jungs kümmerten. Der Fußballtrainer, der uns zweimal die Woche zusammenholte; die, die uns Samstags mit dem ausgeliehenen Auto zum Spiel fuhren; den Lehrer, der ein wenig evangelische Jugendarbeit machte und bei dem wir die ersten Filme überhaupt gesehen haben; die zwei Frauen, die ehrenamtlich unsere kleine Bücherei bedienten, wo ich mich regelmäßig mit dem Lesestoff versorgt habe, der mich unter die Indianer Nordamerikas, den Wilden Westen, aber vor allem zu den großen Entdeckern von Vasco da Gama über Magellan bis Columbus gebracht hat. Ich könnte auch sagen: Dank Ehrenamt war ich lange mit der Welt verbunden, bevor ich sie sehr viel später im Außenamt kennenlernte. Aber im Ernst: Ohne all die Menschen, die sich mit großer Selbstverständlichkeit um das Leben im Dorf am Rande Nordrhein-Westfalens gekümmert haben, wäre mein Leben anders verlaufen! Und so, wie es bei mir zu Hause war, ist es bis heute fast überall in NRW.

Meine Damen und Herren,

hier in Nordrhein-Westfalen engagieren sich ein Drittel aller Bürgerinnen und Bürger im Ehrenamt. In ganz Deutschland sind es 23 Millionen Menschen. Diese Menschen engagieren sich bei den Kirchen, in großen Stiftungen und kleinen Bürgerstiftungen, in Wohlfahrtsverbänden wie der AWO, in Sportvereinen, Feuerwehren, Heimatvereinen, „Hospizen“, Obdachlosen und Stadtteilinitiativen bis hin zu Tafelvereinen, Eine-Welt-Gruppen und vielem anderen mehr.

Das sind 23 Millionen Menschen, die nicht danach fragen, was sie für ihre Arbeit bekommen und sich nicht beklagen, wenn der eine oder andere Abend dabei drauf geht. Das sind 23 Millionen Menschen, denen nicht egal ist, wie es in ihrer Gemeinde aussieht, die nicht nach dem Staat, der Politik oder dem jeweils anderen rufen, sondern selbst anpacken!

Diese 23 Millionen Menschen – viele davon hier im Publikum – sind die stillen Helden unserer Gesellschaft! Und der Respekt vor dem, was sie tun, kann gar nicht hoch genug sein! Und nicht nur an solchen Tagen wie heute sollten wir ihn zeigen! Und wir brauchen sie, die Ehrenamtler.

Diejenigen, die nicht nach Zuständigkeiten fragen, die sich – jenseits ihrer beruflichen Pflichten und – und auch nach Feierabend – für andere einsetzen. Ihrer aller Arbeit ist unbezahlbar! Obwohl es immer wieder Versuche gegeben hat, den Wert ehrenamtlicher Arbeit zu „messen“. So wurde zum Beispiel vor einigen Jahren berechnet, dass die Ehrenamtlichen in Deutschland weit über viereinhalb Milliarden Stunden pro Jahr an Arbeit investieren. Wenn man dabei nur einen durchschnittlichen Stundenlohn von 7,50 Euro zugrunde legt, wie in der Studie, dann kommt man auf eine Summe von 35 Milliarden Euro. Was für eine Zahl! Beeindruckend.

Und trotzdem ist es unsinnig, darüber allzu lange nachzudenken. Denn das, was sie tagtäglich an unzähligen Orten unserer Gesellschaft leisten, ist nicht in Euro und Cent zu beziffern. Ihr Einsatz für Kinder, Jugendliche, Kranke und alte Menschen, ausländische Mitbürger, für den Natur- und Umweltschutz, für Kultur und Sport, für Politik und Gewerkschaften, für Kirchen und Vereine und so vieles mehr ist tatsächlich unbezahlbar.

Meine Damen und Herren,

so verschieden die Ehrenämter sind, so verschieden sind diejenigen, die sie ausüben, mit Blick auf Alter, Beruf oder die soziale Herkunft. Und es ist ein Vorurteil, dass es fast nur ältere Menschen sind, die sich ehrenamtlich engagieren. Dem Himmel sei Dank tun das viele ältere Menschen. Aber ich treffe erstaunlich viele junge Menschen, die oft auf die eine oder andere Art und Weise, weil sie noch stärker beruflich gefordert sind, auch zeitlich begrenzter, dennoch genauso engagiert sind wie die älteren Ehrenamtlichen.

Was ich auch feststelle: Oft sind es allen voran diejenigen, die selbst nicht zu den wohlhabendsten oder finanzkräftigsten zählen, die sich einbringen. Und dennoch geben sie. Oft im Stillen, ohne großes Aufhebens.

Sie alle scheinen geleitet von einem Satz von Herman Gmeiner, dem Gründer der SOS-Kinderdörfer: „Alles Gute auf dieser Welt geschieht nur, wenn einer mehr tut, als er tun muss.“

Meine Damen und Herren,

würden diese Menschen, würden Sie, nicht mehr tun, als Sie tun müssen, wäre unsere Gesellschaft nicht nur ärmer. Nein, ich bin überzeugt, dass sie ohne all das gar nicht funktionieren würde. Es war übrigens – in aller Bescheidenheit – die SPD unter Willy Brandt, die diesen Wert für die Gesellschaft erkannt hat: Die Übungsleiterpauschale, die viele hier als kleinen Anreiz kennen, ist ein Kind jener Zeit. Und es ist fast gar nicht notwendig zu sagen: dass sie unter 16 Jahren Kohl-Regierung nicht angefasst, erst unter Gerhard Schröder erhöht worden ist.

Trotzdem sind Missverständnisse zu vermeiden: Das Ehrenamt ist unverzichtbar – aber auch wenn es an vielen Stellen Aufgaben übernimmt und Dienste leistet, di gleichwertig mit staatlichen Funktionen sind, so darf es nie „Krücke“ oder Ersatz für einen handlungsfähigen Staat sein. Ein solches Verständnis von Ehrenamt wäre fatal. Eigeninitiative ist gut, sie gehört zu einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft ; eine vom Staat unabhängige Solidarität der Menschen untereinander auch! Aber es darf keine Rechtfertigung für den Rückzug des Staates aus seinen Aufgaben sein: Gerade Zeiten wie diese zeigen, dass wir einen handlungsfähigen Staat brauchen. Karitative Organisationen nehmen es dem Staat und uns, seinen Repräsentanten, nicht ab, Vorsorge für eine alternde Gesellschaft zu treffen. Elterninitiativen und Leihomis ersetzen keine sinnvolle Familienpolitik. Und wenn Politik auf die Idee kommt, jetzt Familien Geld zu zahlen, damit Sie ihre Kinder nicht in die Kita und den Kindergarten schicken, dann hat das fatale Folgen, gerade für die Kinder, die mit weniger Chancen geboren werden. Aber dann ist es nicht Aufgabe des Ehrenamtes als Reparaturtruppe anzutreten, sondern das ist falsche Politik! Wenn Sie mich fragen: Das Betreuungsgeld – wie so schön aber falsch heißt -, die Fernhalteprämie darf nicht Gesetz werden.

Ich bin sicher, dass unser heutiger Gastgeber – die AWO – das auch so sieht. Und das ist kein Zufall. Wir - Sozialdemokraten und Arbeiterwohlfahrt – haben dieselben Wurzeln. Die AWO ist 1919 entstanden als „soziale Selbsthilfeorganisation der Arbeiter“ und sie hat ihre Arbeit mit Hilfe zum Überleben begonnen, für Menschen, die damals am Rande der Gesellschaft standen. Sie eröffnete Wärmestuben für Frierende, Suppenküchen für Hungernde oder Nähstuben für arbeitslose Mädchen. Dort zu stehen, wo die Gesellschaft am schwächsten ist, das ist der Antrieb der AWO und ihrer zahllosen Ehrenamtler geblieben, auch wenn ihre Arbeit sich über die Jahrzehnte gewandelt hat und die AWO heute im besten Sinne – neben ihrer praktischen Arbeit – auch politische Lobby für all diejenigen ist, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Hauptamtlichkeit und Ehrenamtlichkeit im Dienste der Solidarität, beides gehört bei der AWO nach wie zusammen. Die AWO ohne das Ehrenamt wäre nicht dasselbe. Nicht für diejenigen, die der Hilfe bedürfen, nicht für diejenigen, die sie leisten. Das „Prinzip AWO“ macht täglich bewusst, dass fast jeder mit seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten einen Beitrag leisten kann, und nur wenn möglichst viele Menschen dies auch tatsächlich tun, dann bleibt eine Gesellschaft lebensfähig und menschlich.

So sehr wir uns darüber freuen: Politik darf die vielen ehrenamtlich Tätigen im täglichen Dienst am Nächsten nicht im Stich lassen. Die AWO nicht und die anderen auch nicht. Die Aufgaben werden in einer älter werdenden Gesellschaft ohnehin wachsen.

Umso mehr kommt es darauf an, dass nicht die jungen Menschen schon der regelmäßigen Betreuung durch Hilfsorganisationen und Wohlfahrtsverbände bedürfen. Es bleibt unerträglich, dass wir in unserer insgesamt reichen Gesellschaft viel zu viele in den ersten Lebensjahren verlieren. 70.000, die jedes Jahr ohne Schulabschluss die Schule beenden. Und wir wissen genau, dass das für die meisten ein Leben am Rande der Gesellschaft, ohne regelmäßige Arbeit, bedeutet und selbst für die, die Arbeit haben, selten ein Einkommen bringt, von dem sich einigermaßen leben lässt. Das trifft nicht nur Kinder aus Zuwandererfamilien, aber da finden wir es besonders häufig!

Gerade haben wir in vielen Reden das 50jährige Jubiläum des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens gewürdigt. Zurecht haben wir Dank gesagt all denjenigen, die von weit her gekommen sind. Die 700.000 Menschen aus der Türkei, die ihr Dorf, ihre Familie verlassen haben, um fern der Heimat auch für unseren Wohlstand zu arbeiten. Aber ziehen wir, außer Dank zu sagen, die richtigen Schlüsse daraus? In Wahrheit haben wir doch Jahrzehnte lang mit Lebenslügen und Ausflüchten gearbeitet – und zwar von beiden Seiten. Viel zu lang haben wir die, die kamen, nicht als Einwanderung akzeptiert und das vermeintliche Provisorium mehr recht als schlecht organisiert. Auch die, die kamen, haben mit der Perspektive der Rückkehr ins Heimatland gelebt; eine Rückkehr, die erst um Monate, dann um Jahre verschoben wurde, bis sie unrealistisch wurde. Statt heute steile Thesen über genetisch bedingte Integrationsunfähigkeit zu verbreiten (leider auch noch ein Sozialdemokrat), statt wie die Kanzlerin über das Ende von Multi-Kulti zu faseln, sollten wir endlich anerkennen, dass wir in den letzten 50 Jahren gravierende Integrationsdefizite hinterlassen haben – mit erheblicher sozialer Sprengkraft. Nicht nur die Bürgermeister wissen, wovon ich rede...

Wenn wir wirklich wollen, dass sich die Defizite nicht in den Generationen von Kindern und Kindeskindern weitertragen, dann müssen wir endlich und ernsthaft alle Kraft und alle Möglichkeiten auf Bildung und Betreuung konzentrieren. Dann müssen wir endlich dafür sorgen, dass Kinder nicht schon früh scheitern, weil sie schlechter Deutsch sprechen als andere. Dann müssen wir dafür sorgen, dass möglichst alle Kinder in die Kitas gehen. Auch dafür sorgen, dass die, die mit weniger Chancen geboren werden, ihren Weg in die Mitte der Gesellschaft machen. Natürlich ist das alles keine Garantie für beruflichen Erfolg. Aber, wenn ich mich hier umschaue, dann haben doch viele selbst erlebt, was mit ordentlicher Bildung und Ausbildung möglich ist. Vor mehr als 50 Jahren gab es kaum Kinder aus Arbeiterfamilien an Oberschulen. Die Bildungsoffensive der späten 60er und frühen 70er Jahre hat alles verändert. Sie hat diesen Familien signalisiert: „Eure Kinder sind willkommen an unseren Schulen“.

Sie hat sozialen Aufstieg, wie er in Deutschland später bewundert wurde, erst möglich gemacht. Genau diesen sozialen Aufstieg, den müssen wir jetzt für andere Menschen, mit anderen Problemen und unter gänzlich anderen Rahmenbedingungen neu organisieren. Und wieder, um Missverständnisse zu vermeiden:

Das sind wir nicht nur den Menschen, insbesondere den Kindern, schuldig! Natürlich geht es auch um Solidarität, aber ich sage es nicht mit aus der sozialarbeiterischen Perspektive. Es geht auch nicht nur um Ruhe in den Großstädten. Inzwischen geht es um noch viel mehr: Es geht um unsere gemeinsame Zukunft in dieser Gesellschaft. Alle in Deutschland Lebenden werden älter – das ist gut – aber sie werden auch weniger! Wir können uns als Gesellschaft gar nicht leisten, allzu viele am Wegesrand zurück zu lassen. Die Zahl der Schulabgänger in Mecklenburg-Vorpommern hat sich gerade auf ein Drittel reduziert. Nicht um ein Drittel, sondern auf ein Drittel – von 33.000 auf 11.000. Jetzt reden wir noch über Jugendarbeitslosigkeit, auch noch über Schwierigkeiten, eine Lehrstelle zu finden. In wenigen Jahren werden junge Leute an allen Ecken und Enden fehlen. Deshalb: Schon jetzt können wir es uns gar nicht leisten, auch nur einen zurück zu lassen oder aufs berufliche Abstellgleis zu schieben.

Ich komme zum Anfang zurück: Themen wie diese dürfen wir nicht vergessen, nur weil Nachrichten von der Finanzfront die Überschriften diktieren. Vielleicht sogar ganz im Gegenteil: Gerade weil die Menschen den Eindruck haben, Politik brauche die ganze Kraft – auch die finanzielle!, um strauchelnde Banken zu stützen und immer neue Rettungspakete zu schnüren, gerade deshalb dürfen wir die Schwächsten in der Gesellschaft nicht vergessen. Nicht in der eigenen und nicht bei den europäischen Nachbarn. 40 Prozent jugendliche Arbeitslose in Spanien, 50 Prozent in Süditalien – das hält Europa auf Dauer nicht aus. Die Bilder der letzten Tagen von Straßen in Athen und Madrid signalisieren doch ein zweifaches: Die Menschen verstehen nicht mehr, worum es geht. Und sie ertragen es nicht mehr, nur drei Jahre nach Lehman- Brothers erneut für die Fehler anderer, für Unvernunft und Verantwortungslosigkeit bluten zu müssen. Und sie ertragen es nicht, dass immer dieselben ungeschoren davon kommen. Sie erwarten, dass Politik nicht den Märkten hinterherläuft, sondern sich wieder unabhängiger von ihnen macht, und das geht nicht ohne Rückführung der Verschuldung – die auch bei uns zu hoch ist! Und sie erwarten, dass Politik diejenigen an den Kosten der Krise beteiligt, die sie mit ausgelöst haben und immer weiter vorantreiben. Und fast das Wichtigste: Sie erwarten, dass wir Regeln auf den Finanzmärkten schaffen, wo Regellosigkeit und Verantwortungslosigkeit sich breit gemacht haben.

Ein großes Programm – fürwahr! Aber diese Krise in Europa wird uns zehn Jahre beschäftigen und es gibt keine einfachen Lösungen. Das muss Politik den Menschen sagen und es ist verhängnisvoll, dass diese Regierung die Kraft und den Mut dazu nicht hatte! Stattdessen Vorurteile und Ressentiments gegen Menschen im Süden Europas geschürt hat. Das hat nicht nur diese Regierung, sondern die ganze Politik viel Glaubwürdigkeit gekostet. Das ist schwer wieder aufzuholen. Es geht überhaupt nur, wenn Politik beweist, dass sie sich nicht am Nasenring durch die Finanzarena ziehen lässt. Wenn wir nicht Gegenwehr leisten, wenn Politik weiterhin nur die Getriebene von Märkten ist, dann kann am Ende aus der Krise der Wirtschaft auch eine Krise der Demokratie werden. Vielleicht kein aktuelles Thema bei uns, in anderen Teilen Europas schon!

Und es ist dieses Europa, das wir wahren und stärken müssen. Das ist das Vermächtnis derer, die sich nach dem Krieg die Hand gereicht haben über den Gräbern der Gefallenen. Und es ist die Zukunft in einer sich verändernden Welt, in der im beispiellosen Aufstieg Chinas, Indiens und Brasiliens jeder von uns Europäern nur noch eine Fußnote bleibt, wenn wir es als Einzelkämpfer versuchen, uns in der Konkurrenz zu behaupten.

Auch deshalb ist Rückfall in Nationalismus, Chauvinismus und antieuropäischen Populismus ein Verrat am historischen Erbe, an der Vergangenheit und eine Verzicht auf Zukunft zugleich. Wohin solche Irrtümer führen, dass zeigen die Beispiele Geert Wilders aus den Niederlanden, die Wahren Finnen und die ungarischen Jobbik-Nationalisten, die in schwarzer Uniform durch Budapest marschieren. Jetzt, mitten in der Krise, sind in Europa viel zu viele in der falschen Richtung unterwegs!

Wir waren diejenigen, die das in ganz Europa mit hoher Glaubwürdigkeit sagen konnten. Und jetzt. Jetzt stehen wir mit Entsetzen und fassungslos vor den Taten junger Deutscher, die über Jahre mit bestialischem Eifer gemordet haben, was aus ihrer Sicht nicht deutsch war. Ich akzeptiere nicht, dass wir das schreckliche Geschehen unter der Überschrift „Döner-Morde“ behandeln. Sprache ist verräterisch! Was soll das heißen? Ist das Milieu? Außerhalb der stadtmauern? Gehört das nicht richtig dazu? Nein, das waren keine „Döner-Morde“! Da sind Menschen in blindem Nationalismus hingerichtet worden, die unter uns, mit uns leben, die zu uns gehörten. Das muss uns mit Scham erfüllen und wir müssen wissen: Da sind brutal Menschenleben ausgelöscht worden. Aber der Angriff von Neonazis ist ein Angriff auf uns alle, auf die Weise, wie wir in diesem Land zusammenleben, auf das Gemeinwesen selbst!

Meine Damen und Herren, sorgen wir gemeinsam dafür, dass Rassismus und Fremdenhass ihre blutige Fratze in diesem Land nicht wieder erheben können. Stellen wir uns entschieden allem nationalistischen Wahn entgegen – ganz gleich, ob er in Bügelfalten oder Springerstiefeln daher kommt.

Vielleicht ist das ein ungewöhnlicher Schluss für eine Rede zum Ehrenamt. Aber es sind auch ungewöhnliche Zeiten. Und beim Ehrenamt gehören eben Gemeinsinn und Solidarität immer mit dazu. Und genau das und beides brauchen wir! Sie alle hier geben ein Beispiel für viele. Dafür danke ich Ihnen.