Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich war am Sonntag und am Montag in Kiew, um politische Gespräche mit Vertretern der Parteien und der Zivilgesellschaft zu führen. Auf dem Weg zum Maidan am Sonntagabend kam ich am Rathaus vorbei, das entsprechend der Verabredungen gerade geräumt wurde, damit am Tag darauf das Amnestiegesetz umgesetzt werden konnte. Wir alle kennen die Bilder vom Maidan, die durch die Medien gegangen sind. Die Atmosphäre, die ich vorgefunden habe, war einerseits ruhig und offen, andererseits aber auch von Anspannung und Bereitschaft geprägt. Es macht betroffen, wenn man an der von Kerzen erleuchteten Gedenkstätte für die - zu diesem Zeitpunkt noch vier -Toten steht und sieht, welche Opfer gebracht worden sind und welche Folgen die gewalttätigen Auseinandersetzungen hatten.
Neben dem freundlichen und friedlichen Erscheinungsbild habe ich leider auch sehr wehrbereite Erscheinungsformen gesehen von radikalen Gruppen, die zur Gewalt bereit sind. Das ist nicht die Mehrheit - man darf es auch nicht so hinstellen -; aber man darf auch nicht verschweigen, dass es so etwas gibt. Wir müssen allen Provokateuren, egal auf welcher Seite sie stehen, die Stirn bieten; denn sie stehen einem fairen Verhandlungsprozess im Wege.
Ich habe bei den Menschen Müdigkeit, Anspannung und Sorge gesehen; aber ich habe auch Hoffnung gesehen: die Hoffnung auf eine freiheitliche, auf eine rechtsstaatliche Zukunft, auf eine Zukunft in Europa, in der man einen guten Platz hat, in der man auch ein Stück weit Hoffnung auf ein wenig Wohlstand haben kann. Um Hoffnung ging es auch in den Gesprächen, die sich angeschlossen haben: Hoffnung auf Rückkehr zur Verfassung von 2004, Hoffnung darauf, im Parlament, am Verhandlungstisch zu einer friedlichen Lösung zu kommen, Hoffnung auf Unterstützung durch die Europäische Union und auch Hoffnung auf Sanktionen, durch die die andere Seite dazu bewegt wird, Interesse an einer Einigung zu zeigen, aber auch Hoffnung auf Verhinderung des angesichts der angespannten wirtschaftlichen Situation drohenden ökonomischen Zusammenbruchs. Diese Hoffnungen habe ich mitgenommen, als ich weggefahren bin, aber auch das Bewusstsein, dass das gegenseitige Vertrauen dort gering ausgeprägt ist. Dort ist nur ein Funke notwendig, um eine Explosion auszulösen.
Das alles haben wir seit Dienstag leider erlebt: das Abgehen vom Kurs des Verhandelns, das Verlassen des Verhandlungstischs, die Provokation, die Verfassungsdebatte im Parlament, die verabredet war, von der Tagesordnung abzusetzen. Wir haben eine unverhältnismäßige Reaktion der Sicherheitskräfte erlebt, als die Demonstranten zum Parlament zogen, und wir haben Provokationen auf beiden Seiten gesehen, die an dieser Stelle keinen Platz haben. Scharfschützen auf den Dächern haben genauso wenig etwas in einem vernünftigen Verhandlungsprozess zu suchen wie Menschen, die mit Benzinkanistern in Parteizentralen hineingehen.
Deutlich wurde auch die Hoffnung, dass man einen guten Weg für die Ukraine findet. Doch die Brutalität, mit der die Sicherheitskräfte vorgegangen sind, hat diesen Funken Hoffnung am Ende zerstört. Wir müssen deutlich sagen: Diese Brutalität ist für uns inakzeptabel; sie ist intolerabel. Verantwortlich dafür sind der Staatspräsident Janukowitsch und die Verantwortlichen in den Sicherheitskräften.
Über 1 000 Verletzte und inzwischen 30 Tote: Das sind die Folgen. Unsere Gedanken sind bei ihren Familienangehörigen.
Ich glaube, es war notwendig und wichtig, dass gestern sehr intensiv versucht worden ist, über alle möglichen Kanäle einzuwirken: über die deutsch-französischen Regierungskonsultationen, über Telefonate, über Gespräche, über Kontakte und auch über die klare Aussprache von Sanktionen. Ich denke, dass das Telefonat der Bundeskanzlerin ebenso wie die Gespräche, die der Bundesaußenminister am vergangenen Donnerstag und Freitag in Moskau geführt hat, dazu beigetragen haben, dass über Nacht der Hauch einer Chance für einen Waffenstillstand entstanden ist.
Dass heute Morgen festzustellen ist, dass das Fundament, auf dem diese Hoffnung beruht, sehr dünn ist, sollte uns nicht entmutigen, sondern wir sollten jetzt auch einen Funken Hoffnung in die Mission der drei EU-Außenminister setzen. Vielleicht ist es ein ermutigendes Zeichen, dass sich hier genau die Länder darum bemühen, weiter eine friedliche Entwicklung in Europa zu ermöglichen, die am stärksten von den Folgen des Zweiten Weltkrieges betroffen worden sind.
Mit der Ukraine haben wir es mit dem zweitgrößten Flächenstaat in Europa zu tun; dort leben über 45 Millionen Menschen. Es gilt darum, eine Perspektive zu entwickeln, die nicht Entweder lautet, sondern die der Ukraine ihren Platz in Europa, inmitten der Europäischen Union und mit Russland, ermöglicht. Es muss Freiraum dafür geschaffen werden, dass die Menschen in der Ukraine unter freiheitlichen und rechtsstaatlichen Bedingungen selbst bestimmen können, welchen Weg sie gehen. Das heißt, sie müssen zur Verfassung von 2004 zurückkehren und freie Wahlen durchführen können, in der sie über ihre Volksvertretung und ihren Präsidenten entscheiden.
Wir haben als Mitgliedsland der Europäischen Union die Aufgabe, gemeinsam mit Russland dafür zu sorgen, dass es gelingt, die Ukraine in die Europäische Gemeinschaft, in diese Staatengemeinschaft, aufzunehmen, wenn sie es will, und Formen zu finden, mit denen ein friedliches Zusammenleben in Europa, auf unserem Kontinent, möglich ist.