Schönen guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse eines Landes ist ein Relikt des 19. und des 20. Jahrhunderts. In einem vereinigten Europa, in der Europäischen Union gibt es die Pflicht zur Einmischung,

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])

und zwar in allen Bereichen, in denen unsere Grundwerte infrage oder zur Disposition gestellt werden. In der Europäischen Union, die maßgeblich von der Bereitschaft zum Kompromiss lebt, gibt es einen Bereich, in dem es niemals Kompromisse geben darf. Dabei geht es um die Frage, wie wir mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Freiheit umgehen. Hier muss es einen staaten- und bürgerinnen- und bürgerübergreifenden Konsens geben. Leider ist dieser Konsens in einem Land, dem wir uns seit vielen Jahrzehnten freundschaftlich verbunden fühlen, nicht mehr gegeben. Deshalb ist es gut, dass wir nun – wenn auch zu später Stunde – im Deutschen Bundestag über die derzeitige politische Lage in Ungarn sprechen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Niemand der Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD stellt infrage, dass die ungarische Regierung – um diese geht es im Kern – nicht demokratisch legitimiert ist. Selbstverständlich ist diese Regierung demokratisch legitimiert. Sie verfügt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Wenn man aber eine solche eindeutige parlamentarische Mehrheit besitzt, entsteht daraus gerade in einem Land, das politisch und gesellschaftlich vermutlich so gespalten ist wie kein zweites in der Europäischen Union, ein großes Maß an Verantwortung, Brücken zu bauen, zu versöhnen und Konsens zu stiften. Die Bereitschaft, das Land wieder zu einen, vermisse ich. Insofern werden Ministerpräsident Orban, seine Regierung und die ihn tragenden Parteien ihrer Verantwortung für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht gerecht.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])

Wenn wir in diesen Tagen zu Recht ganz strenge Maßstäbe an diejenigen anlegen, die bereit und gewillt sind, der Europäischen Union beizutreten, müssen diese strengen Maßstäbe doch erst recht für die Staaten gelten, die seit Jahren oder auch seit Jahrzehnten der Europäischen Union angehören. Es kann auch im Nachhinein keine Rabatte geben. Insofern haben wir es als unsere Pflicht angesehen, nachdem nun endlich auch die Europäische Kommission aktiv geworden ist, die Debatte darüber zu führen, was schiefläuft und wie es in Ungarn baldmöglichst wieder besser laufen könnte. Die Kommission hat mehrere Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Sie wird damit nicht nur ihrer Verantwortung als Hüterin der europäischen Verträge gerecht, sondern sie ist insbesondere auch Hüterin der Grundwerte und der Demokratie in der Europäischen Union. Wenn es denn richtig ist, dass es diesbezüglich keine Rabatte und Kompromisse geben kann, verdient die Europäische Kommission die uneingeschränkte Unterstützung des Deutschen Bundestages.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])

Nun weiß ich ja, welche Bedenken, auch hier im Plenum, wieder vorgebracht werden: Das sei doch alles gar nicht so schlimm, und man müsse das doch nicht übertreiben. Das seien doch alles ganz normale Entwicklungen. Die Regierung habe vielleicht in der einen oder anderen Frage ein wenig überzogen oder vielleicht ein wenig zu schnell agiert. Es geht eben nicht allein um die Mediengesetze. Es geht nicht allein um die Unabhängigkeit der Justiz. Es geht nicht allein um die Rolle des Datenschutzes. Es geht nicht allein um bestimmte Elemente der Verfassung, die uns befremdlich erscheinen. Und es geht nicht allein um das Zustandekommen von Gesetzen. In der Summe ist das, was wir seit 2010 in Ungarn erleben, gefährlich für die Demokratie.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])

Und deshalb muss es zum Thema gemacht werden. Selbstverständlich üben wir als Bürgerinnen und Bürger Deutschlands, die Ungarn viel zu verdanken haben, mitnichten Kritik an der ungarischen Bevölkerung. Wir üben Kritik an denen, die derzeit in Ungarn in der politischen Verantwortung stehen. Ich habe nicht den Eindruck, dass es seitens der Regierung und seitens des Ministerpräsidenten auch nur ein Quäntchen Einsicht gegenüber dem gibt, was derzeit in der Europäischen Union diskutiert wird.

Ich darf aus einem Interview zitieren, das kürzlich in einer renommierten deutschen Zeitung veröffentlicht wurde, die mitnichten im Verdacht steht, ein Organ der Linken oder der Linksradikalen in Europa zu sein. Dort sagt Orban: Wir werden „von der internationalen Linken radikal attackiert. Aber die internationale Rechte … beschützt uns.“ Wenn er mit der internationalen Rechten Frau Merkel und die CDU/CSU meint, dann mag er wohl recht haben. Aber wenn er von der internationalen Linken spricht, dann frage ich mich allen Ernstes, wen er damit eigentlich meint. Meint er damit die Europäische Kommission mit 27 Mitgliedern, von denen, wenn man großzügig ist, gerade einmal sechs der europäischen Sozialdemokratie angehören? Meint er damit vielleicht den Europäischen Rat? Meint er damit das Europäische Parlament? In keiner dieser Institutionen, geschweige denn in der großen Mehrzahl der Mitgliedstaaten verfügt – ich darf sagen: leider – die Sozialdemokratie und damit die demokratische Linke über eine parlamentarische und politische Mehrheit. Wenn Sie sich einmal die deutsche Medienlandschaft anschauen, dann sehen Sie, dass auch die Zeitungen und Rundfunkanstalten massive Kritik üben, die nicht im Verdacht stehen, irgendeine Nähe zu den sogenannten internationalen Linken zu haben.

(Otto Fricke [FDP]: Zum Beispiel?)

Insofern kann ich überhaupt nicht verstehen, dass es in Ihren Reihen so viele gibt, die abwiegeln, das Ganze in rosaroten Farben malen und meinen, das verteidigen zu müssen, was andere, die sich nicht sozialdemokratisch oder grün schimpfen, offensiv und immer wieder deutlich kritisieren. Ebenso peinlich und beschämend finde ich es, wenn Herr Orban versucht, Brüssel mit Moskau gleichzusetzen und eine Brücke von der Sowjetunion zur Europäischen Union zu schlagen. Das ist eine Beleidigung unseres gemeinsamen Europas und dessen, wofür Deutschland und Ungarn seit über 20 Jahren gemeinsam einstehen, nämlich des demokratischen, föderalen und rechtstaatlichen Europas.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ungarn ist nicht der Sündenbock in Europa. Deshalb ist es auch nicht ein Fehler, jetzt die aktuellen Missstände in Ungarn anzuprangern. Ich will aber selbstkritisch hinzufügen: Es war ein Fehler, bei einer Reihe von Infragestellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in anderen Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, beispielsweise in Italien, zu lange und zu beharrlich geschwiegen zu haben. Hier hätten wir früher und deutlicher Kritik üben müssen. Insofern kann ich den einen oder anderen Ungarn verstehen, der uns fragt: Warum habt ihr zu den Vorgängen geschwiegen, die in den großen Mitgliedstaaten abgelaufen sind, und warum übt ihr jetzt alleine an Ungarn Kritik?

Wenn wir Kritik an der ungarischen Regierung üben, muss das präjudizieren, dass wir zukünftig gemeinsam immer wieder deutliche Worte finden, wenn es um die Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geht. Diese ungarische Regierung hat das Land in eine politische und wirtschaftliche Isolation geführt. Wenn wir auch Gesprächsbereitschaft gegenüber der ungarischen Regierung und gegenüber der Zivilgesellschaft zeigen – das sollte aus meiner Sicht eine pure Selbstverständlichkeit sein –, dann heißt das, dass wir zwar verstehen wollen, aber das heißt nicht, dass wir für alles Verständnis haben dürfen. Anlässlich des 20-jährigen Geburtstags des deutschungarischen Freundschaftsvertrages hätte ich mir gewünscht, dass wir in dieser Frage einen breiten parlamentarischen Konsens hätten finden können.

Aber leider waren die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP nicht dazu bereit, obwohl es auch Vertreterinnen und Vertreter in der Bundesregierung gegeben hat – ich erinnere an die deutlichen Worte der Kritik von Staatsminister Hoyer, und ich erinnere an das engagierte Auftreten des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung Markus Löning –, die Kritik geübt haben. Ich bedaure, dass Sie trotz dieser klaren und deutlichen Worte nicht dazu bereit waren, mit uns einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Das ist mehr als schade.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN).

 

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