Sehr geehrter Herr Vize-Präsident Beckmann,
meine Damen und Herren,

als ich Ihre Einladung bekam, überkam mich ein kurzer Schreck: „Geopolitische Neuordnung“ – das klingt ja zunächst ein bisschen nach Karl Haushofer und Carl Schmitt. Aber dann sagte ich mir: O.k., das mag ein etwas provozierender Vortragstitel sein. Aber wenn der Studentische Konvent der Helmut-Schmidt-Universität mich zu diesem Thema einlädt, dann steckt dahinter sicher nicht irgendwelche Carl-Schmitt-Nostalgie. Dann ist das wohl eher Ausdruck tieferen Nachdenkens – zumindest einer klugen Verlegenheit.

Und ich fragte mich weiter: Zeigt sich in dieser Wortwahl vielleicht, dass uns noch die rechten Worte fehlen, um den weltgeschichtlichen Umbruch, dessen Zeugen wir sind, angemessen zu erfassen? Zeigt sich darin vielleicht, dass häufig gebrauchte Begriffe wie „multipolare Welt“ oder „Weltinnenpolitik“ nicht wirklich tragen? Wir spüren alle, dass sich die Gewichte in der Welt dramatisch verschieben. Dass die zynischen Gewissheiten des Kalten Krieges nicht mehr gelten. Aber wir spüren auch, dass die sprachlichen Mittel fehlen, um das auszudrücken, was um uns herum geschieht. Dann sagte ich mir: In Ordnung! Ich lasse mich auf die Provokation dieser Einladung ein! Allerdings, wenn ich nach einem Begriff suche um die intellektuelle und politische Aufgabe zu bezeichnen, die vor uns steht, dann ist das nicht der Begriff der „geopolitischen Neuordnung“. Und das aus einem ganz einfachen Grund: „Neuordnung“ setzt voraus, dass es eine Ordnungsmacht gibt. Jemanden, der aktiv Neuordnung betreibt.

Das Problem heute aber ist doch gerade, dass die führende Rolle der bisherigen Ordnungsmächte – der USA und Russlands – immer stärker in Frage steht. Amerikaner und Russen suchen selbst händeringend nach ihrem Platz in der neuen Welt! Und auch China weiß noch keineswegs, was seine künftige Rolle sein wird.

Ich selbst habe die Aufgabe, die vor der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik steht, vor einiger Zeit mit einem anderen Begriff zu fassen versucht. Ich habe, in Anlehnung an das bekannte Buch von Daniel Kehlmann, von der „Neuvermessung der Welt“ gesprochen. Ich wollte damit ausdrücken, dass wir durchaus neue Karten und einen verlässlicheren Kompass brauchen, um uns in der Welt von morgen orientieren zu können. Im Begriff der Neuvermessung schwingt noch etwas anderes mit. Wer die Welt vermessen will, muss sie zunächst bereisen! Er muss heraus aus der Studierstube. Er muss sich auf das Fremde einlassen. Wer nicht weiß, wie die Welt wirklich ist, sollte gar nicht erst versuchen, sie in Ordnung zu bringen!

Ich verstehe Ihre Überschrift so, dass Sie von mir hören wollen, was aus meiner Sicht die großen Linien sind, die für unser außen- und sicherheitspolitisches Handeln maßgeblich sind. Und das mit dem breiten Pinsel, mit klarem Strich, ohne all zu viel Rücksicht auf diplomatische Kalligraphie. Und das will ich versuchen - bei allem Respekt vor der Größe der Herausforderung.

Wie leicht man mit Prognosen falsch liegen kann, zeigt ein kurzes Gedankenexperiment. Versetzen wir uns einfach einmal in die Jahre 1810 und 1910. Das 19. Jahrhundert begann kriegerisch. 1810 hatte Napoleon Preußen besiegt und fast ganz Europa besetzt. In Spanien tobte ein erbitterter Guerilla-Krieg. Wer konnte damals ahnen, dass für Europa das 19. Jahrhundert eine vergleichsweise friedliche Epoche werden würde, geprägt von sagenhaften wissenschaftlichen und technologischen Sprüngen, aber auch von neuen sozialen Konflikten. Königgrätz und Sedan, so wichtig sie für unser kollektives Bewusstsein sind, waren klassische Entscheidungsschlachten in vergleichsweise kurzen Kriegen. Erst am Ende des Jahrhunderts, und nicht im Herzen unseres Kontinents, trat der Krieg in ganz neuer Gestalt auf: Der Krimkrieg und der Amerikanische Bürgerkrieg waren die ersten moderne Kriege – mit ungeheurem Materialeinsatz, neuen, mörderischen Waffen und bis dahin unbekannten Opferzahlen.

Ganz anders im Jahr 1910 – da feierte sich Europa als technologisches Zentrum der Welt. Am 23. April 1910 war in Brüssel eine neue Weltausstellung eröffnet worden. Wer außer ein paar sensiblen Künstlern ahnte damals, dass die friedliche „Welt von gestern“, die Stefan Zweig voller Wehmut beschrieb, unmittelbar vor dem Untergang stand. Es folgten zwei Weltkriege, die von deutschem Boden ausgingen, der eine als europäischer Bürgerkrieg, der zweite als Unterwerfungs- und Ausrottungskrieg geführt.

Vorsicht ist also angebracht! Oder, wie der Aphoristiker sagt: Jede Prognose ist gefährlich, vor allem, wenn es um die Zukunft geht. Noch weiß keiner, ob die vielbeschworenen Jahrhundertereignisse 9/11 oder die Wirtschafts- und Finanzkrise dem gerade erst begonnenen 21. Jahrhundert tatsächlich ihren Stempel aufdrücken werden. Eines aber lässt sich aus heutiger Sicht schon mit einiger Gewissheit sagen: Die weltpolitischen Gewichte werden sich weiter dramatisch verschieben.

Einen vergleichsweise sicheren Blick in Zukunft ermöglicht die Demographie. Und deren Befund ist klar: Im Jahr 1950 lebten in Europa unter Einschluss Russlands 547 Mio. Menschen, 2010 sind es 733 Mio., und im Jahr 2050 werden es nach Prognosen der UNO 691 Mio. sein. In Asien waren es 1950 1,4 Mrd., 2010 4,2 Mrd. und 2050 werden es 5,2 Mrd. sein. Weniger verlässlich, aber nicht weniger deutlich ist ein Blick auf die Wirtschaftszahlen. Zwischen 2003 und 2008 hat sich der Gesamtexport Chinas verdreifacht. 2007 hat China erstmals die USA als Exportnation überholt. Und alle mir bekannten Prognosen schreiben diesen Trend ungebrochen fort.

Im Februar 2009 hat der BND eine Studie zu den sicherheitspolitischen Konsequenzen der Wirtschafts- und Finanzkrise erstellt. Darin wurden drei Szenarien entwickelt: Szenario 1: Stabilisierung und schnelle Rückkehr auf weltweiten Wachstumskurs. Szenario 2: die weltweite Instabilität setzt sich fort. Und schließlich Szenario 3: Die weltweiten Disparitäten nehmen zu. Während das Wachstum in Europa und den USA stagniert, spurten Länder wie China und Indien davon. Nach jüngsten IWF-Zahlen sieht es tatsächlich nach Szenario 3 aus! In Deutschland und der Eurozone rechnet der IWF für 2010 mit einem Wachstum von 1 – 1,2%. China aber, angetrieben von einem massiven Konjunkturprogramm, marschiert schon wieder in Richtung 10%. 

Die „asiatische Herausforderung“ wie diese Entwicklung oft genannt wird, verändert nicht nur unseren Blick auf die Zukunft. Sie verändert auch unseren Blick zurück. Es ist kein Wunder, dass die beiden wichtigsten Bücher zur Geschichte des 19. Jahrhunderts, Jürgen Osterhammels Buch „Die Verwandlung der Welt“ und Christopher Baylys „The Birth of the Modern World“ beide aus der Feder von Historikern stammen, die sich zuvor vor allem mit der Geschichte Indiens, Chinas und Japans beschäftigt haben.

Aber so wichtig der Aufstieg (oder aus dortiger Sicht: Wiederaufstieg) Asiens ist – er reicht allein nicht aus, um die neue Signatur unseres Zeitalters zu beschreiben. Nicht nur Indien und China, auch Länder wie Brasilien und Südafrika verlangen, als Partner auf der Weltbühne ernst genommen zu werden. Die Geschichte der Dekolonisierung, deren wahrgenommener Höhepunkt in den 60er Jahren lag, die aber in Wirklichkeit ein sehr viel längerer Prozess ist, geht erst jetzt endgültig zu Ende. Neue Mächte drängen auf die Weltbühne – und sie erwarten, mit ihrem wirtschaftlichen Erfolg jetzt auch an politischem Einfluss zu gewinnen.

Selbst die mühsame Suche der islamischen Welt nach ihrer Rolle ist noch Teil dieses Dekolonisierungs- und Emanzipationsprozesses. Für die islamisch-arabische Welt war die Eroberung Ägyptens durch Napoleon und die drückende Überlegenheit der Europäer in den darauffolgenden Jahrhunderten ein Kulturschock, von dem sie sich bis heute nicht vollends erholt hat. Zwischen den Extremen einer kritiklosen Anpassung an die Westen und einem Al-Quaida-Wahabismus sucht sie immer noch ihren Weg. Hier liegt übrigens auch der Grund, weshalb die Frage nach einer europäischen Perspektive für die Türkei von grundsätzlicher, weltpolitischer Bedeutung ist. Wer der Türkei die europäische Perspektive bestreitet, muss wissen, dass dieses Land Alternativen hat und in ihnen denkt. Wer unter die Oberfläche der Auseinandersetzungen zwischen EU und Türkei schaut, der sieht, dass die außen- und sicherheitspolitische Community in der Türkei an der Erweiterung ihrer strategischen Optionen arbeitet. Man nehme nur das Buch, das der heutige türkische Außenminister Ahmet Davotoglu unter dem bezeichnenden Titel „Strategische Tiefe“ vor einigen Jahren geschrieben hat. Hier erscheint die Türkei als Zentrum einer vorderasiatischen Staatenkonstellation, umringt von Nachbarn, mit denen die Türkei in Friede und guter Nachbarschaft lebt. Dass dies kein einfaches Unterfangen ist, dass dies ein Langfristprojekt ist, sieht man an den jüngsten Spannungen im türkisch-israelischen Verhältnis oder an den mühsamen ersten Schritten einer Normalisierung mit Armenien.

Der Aufstieg der außereuropäischen Welt, obwohl schon seit langem im Gange, ist für uns Europäer noch immer nicht leicht zu verkraften. Er bedeutet das Ende einer Illusion – zumindest einer liebgewordenen Gewohnheit. Wir sind nicht mehr der Nabel der Welt! Europa rückt aus der Mittellage heraus, in der wir uns nur in einem weltgeschichtlich kurzen Zeitraum befunden haben. Und diese kleine kopernikanische Wende hat nicht nur Konsequenzen für unser Selbstverständnis. Sie hat auch Konsequenzen für die politischen, aber auch wirtschaftspolitischen Weichenstellungen, die vor uns liegen.

Sechs dieser Konsequenzen will ich im Folgenden beschreiben, weil sie mir wesentlich erscheinen für unsere Orientierung in den kommenden Jahren.

Konsequenz Nummer 1: Die Europäische Integration bleibt unser wichtigstes Zukunftsprojekt!

Kein europäischer Staat wird in der Welt von morgen noch in der ersten Liga mitspielen können. Und selbst für Europa als Ganzes ist das noch lange nicht ausgemacht. Der Vertrag von Lissabon – bei aller begründeten Kritik an Inhalt und Umsetzung – war ein wichtiger Schritt nach vorn. Und er darf – das Bundesverfassungsgericht in Ehren – nicht der letzte Schritt gewesen sein.

Ich bin auch in europäischen Dingen nüchtern genug, um zu sehen, dass Europa in den nächsten Jahren eine Durststrecke vor sich hat. Der Enthusiasmus der Anfangsjahre ist lange verflogen, die Mühen der Ebene haben uns eingeholt. Aber gerade die derzeitige Diskussion über die Finanzhilfen für Griechenland zeigt ganz klar, dass es keinen Weg zurück in die Vergangenheit gibt! Alles Gerede über eine Rückkehr zur Drachme, Lira und Peseten ist am Ende dummes, populistisches Geschwätz. Natürlich kann es nicht sein, dass wir für den Fehler anderer den Kopf hinhalten. Natürlich ist richtig, dass Griechenland zunächst selbst mit seinen Problemen fertig werden muss. Aber dazu ist die griechische Regierung ja bereit! Ich bin gespannt, welche deutsche Regierung den Mut hätte, ihren Bürgerinnen und Bürgern zuzumuten, was die griechische Regierung plant und nach den IWF-Auflagen umsetzen muss!

Ebenso richtig ist, dass die Verantwortung für unsere gemeinsame Währung verlangt, die griechischen Eigenanstrengungen in angemessener Weise beizustehen. Nicht aus Gefälligkeit, nicht als Belohnung für haushaltspolitische Disziplinlosigkeit, sondern zum Selbstschutz! Es gibt nur eine Gewissheit: Nichtstun gegenüber Griechenland infiziert die Nachbarmärkte mit rasender Geschwindigkeit.

Eines ist schon jetzt klar: Die Griechenland-Hilfe hat Bedeutung weit über den konkreten Einzelfall hinaus. Sie wird Europa verändern – und wir müssen alles dafür tun, dass es keine Veränderung zum Schlechteren ist. Hier geht es um die Zukunft unserer gemeinsamen Währung, ja mehr noch: Um die Stabilität einer Währungsunion, die Voraussetzung dafür ist, dass auch wir in einer mehr und mehr durch den Weltmarkt bedrängten Situation die Leistungskraft unserer Volkswirtschaft erhalten können. Deshalb ist es wichtig, dass wir nicht nur über Hilfen entscheiden, sondern auch genau überlegen, welchen Beitrag die Gläubigerbanken leisten können, wie wir künftige Währungsspekulationen begrenzen und eine bessere Kontrolle der Finanzmärkte gewährleisten können.

Konsequenz Nummer 2: Deutschland und Europa müssen auf Modernisierungs- und Innovationskurs bleiben!

Mancher von Ihnen wird sich vielleicht noch erinnern an die Debatten, wie sie am Anfang des neuen Jahrhunderts in Deutschland an der Tagesordnung waren. Damals hatten die Katastrophenpropheten bei uns Hochkonjunktur. Jeden Sonntag saßen sie bei Sabine Christiansen auf der Couch. Hans-Werner Sinn sah uns auf dem Weg zu einer „Basarökonomie“. Und Gabor Steingart schrieb den Bestseller: „Deutschland. Der Abstieg eines Superstars“. Alle stimmten sie in das allgemeine Lamento ein: Deutschland sei reformresistent, sklerotisch, setze auf überlebte Industrien – und im Übrigen führe  rot-grün in den sicheren Untergang.

Aber dann hat sich die Stimmung innerhalb weniger Jahre gedreht. Am Anfang wurden die Reformen der Agenda 2010 als zu zaghaft abgetan. Zu kleine Schritte, zu mutlos, nicht der große Ruck, der in Deutschland im Jahresabstand ausgerufen wird. Aber nach einiger Zeit konnte jeder sehen: Die Medizin wirkt! Aus Defiziten in den Sozialkassen wurden Überschüsse, die Unternehmen investierten wieder, neue Arbeitsplätze entstanden. Ganz Europa schaute mit anderen Augen auf uns:  Deutschland galt nicht länger als der kranke Mann Europas, sondern wieder als das technologische und industrielle Kraftzentrum. Der Export boomte, der industrielle Exodus aus Deutschland ebbte ab, ja kehrte sich teilweise um. In wenigen Jahren wurde unser Land zum Ausrüster der Welt. Deutsche Maschinen und Fahrzeuge waren überall heiß begehrt. „Made in Germany“ was back on stage! Wir waren Trendsetter! Green Tec war zunächst einmal German Tec! Die von uns eingeleitete Energiewende galt – und gilt – als Musterbeispiel kluger ökologischer Industriepolitik. Energiebesteuerung wurde überall eifrig kopiert.

Dann kam Lehman Brothers! Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die im Sommer 2008 begann und die uns bis heute in Atem hält, hat den guten Lauf der deutschen Wirtschaft zwar nicht ganz abgebrochen, aber deutlich verlangsamt. Noch ist nicht klar, ob wir wieder den Anschluss an die Boomjahre vor der Krise schaffen. Noch ist unklar, welche langfristigen Lehren wir aus ihr ziehen. Ich sehe nur, und das sage ich nicht nur als Vorsitzender der größten Oppositionspartei, dass die deutsche Politik dieser Tage an den Herausforderungen einer ökonomisch gefährlichen Realität scheitert. Wir befinden uns immer noch mitten einer tiefen Krise. Und eine solche Situation verlangt Mut und Kreativität. Sie verlangt Bereitschaft zu neuem Denken. Und zu ungewöhnlichen Maßnahmen. Was aber erleben wir derzeit? Eine Regierung, die erschreckend konventionell handelt. Die Weltwirtschaft steht am Abgrund – und wir hören wirtschaftspolitische Plädoyers, die aus den Parteiprogrammen der 80er Jahre abgeschrieben sind. Mutlosigkeit und Phantasielosigkeit, wohin man schaut! Es geht mir nicht um die prinzipielle Frage „Steuersenkungen ja oder nein“. Nur muss man sich fragen: Besteht derzeit dafür Spielraum? Sind das die richtigen Prioritäten, um aus dem Tal herauszukommen? Nein, was die Bundesregierung derzeit anbietet, ist mutlos und phantasielos. So gewinnen wir verlorenes Terrain nicht zurück! Unsere Konkurrenten schlafen nicht. Das Auto von morgen wird nicht zwangsläufig  in Deutschland gebaut! Überall in der Welt werden die Ausgaben für Forschung und Bildung nach oben gefahren. Green Tec ist in aller Munde. Wenn wir nicht aufpassen, schmilzt unser Vorsprung schnell dahin.

Konsequenz Nummer 3: Die NATO bleibt Kernelement unserer Sicherheit. Aber wir brauchen einen neuen, umfassenden Sicherheitsbegriff.

Wenn ich NATO sage, dann denke ich dabei nicht an die Summe der militärischen Kapazitäten ihrer Mitgliedsstaaten, dann rede ich von der NATO als politisches Bündnis, als Organisation von Staaten mit gemeinsamen Interessen. Wer den normalen Verlauf der Treffen der NATO- Außen- und Verteidigungsminister kennt, der weiß, dass dieser politische Charakter oft zu kurz kommt. Zu viel Rituale, zu viel Selbstbeschäftigung, zu viel fruchtlose Erweiterungsdebatten, zu wenig Diskussionen darüber, was man mit einer erweiterten NATO will. Grund zur Überarbeitung des alten strategischen Konzepts von 1999 gibt es genug. Die Bedrohungslagen haben sich verändert. Die klassische militärische Bedrohung verliert weiter an Bedeutung. Neue Gefahren wie der internationale Terrorismus, wilde Proliferation, Energie- und Rohstoffknappheit, Cyberterrorismus und politisch motivierte Spekulationen an den Finanzmärkten treten dafür in den Vordergrund. Keiner dieser Bedrohungen lässt sich militärisch begegnen. Bei keiner ist die NATO allein deshalb das Instrument der Wahl. Eine Rolle bekommt sie nur, wenn sie sich einbettet in einen Ansatz vorbeugender Außen- und Sicherheitspolitik, in der Gefahren nach Möglichkeit im Vorfeld erkannt und eine militärische Zuspitzung verhindert wird.

Und ich hoffe, dass das neue strategische Konzept die Abrüstungspolitik wieder in ihr altes Recht einsetzt. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Als ich vor zwei Jahren auf der Münchner Sicherheitskonferenz von Global Zero sprach, hielten das viele noch für blauäugig. Mittlerweile hat sich auch Präsident Obama zu diesem Ziel bekannt. Auch die Amerikaner erkennen mittlerweile, dass der Westen nicht glaubwürdig ist, wenn er auf der einen Seite die Iraner vom Griff nach der Bombe abzuhalten versucht und gleichzeitig keine eigenen Abrüstungsanstrengungen unternimmt. Die jüngste START-Vereinbarung ist deshalb ein wichtiger Schritt nach vorn. Ich hoffe,  dass das neue Klima des Vertrauens, das zwischen den USA und Russland entstanden ist, auch zu Fortschritten bei der Reduzierung der taktischen Atomwaffen und der Erneuerung des KSE-Vertrages führt.

Konsequenz Nummer 4: Wir müssen Eurasien unter Einschluss Russlands neu denken.

Die Tektonik auf unserem Großkontinent verschiebt sich, und diese tektonische Verschiebung geht weit über den Aufstieg Indiens und Chinas hinaus! Russland bleibt eine Energie- und Rohstoffgroßmacht. Aber der demographische Trend ist katastrophal. An der Grenze zu China entsteht eine klassische frontier-Situation: ein vergleichsweise leerer Raum, Sibirien, voller Rohstoffe und Energie. Und jenseits der Grenze wachsen die Millionenstädte. Sicher: Russland bleibt nukleare Großmacht, Mitglied des Sicherheitsrates und wichtiger Akteur bei der Lösung fast aller Regionalkonflikte. Gleichzeitig aber kämpft es mit einer veralteten Infrastruktur und Industrie, einem unterentwickelten Gesundheitswesen und einer schwach ausgeprägten Zivilgesellschaft. Dieses Russland ist nicht mehr der traditionelle Widerpart der westlichen Welt. Aber es ist auch nicht einfach Teil Europas. Es ist ein Riesenland auf der Suche nach seinem künftigen strategischen Ort. Und über den wird in der russischen außenpolitischen Community heiß gestritten. Präsident Medwedjew selbst hat den Gedanken einer engeren sicherheitspolitischen Partnerschaft zwischen Russland, Europa und den USA ins Spiel gebracht. Aus meiner Sicht ein Gedanke, der eine ernsthafte Debatte verdient. Denn diese prowestliche Grundorientierung ist auch in Russland kein Selbstläufer mehr! Ich habe in meiner Zeit als Außenminister häufig gesagt: Lasst uns nicht in die Kategorien des Kalten Krieges zurückfallen! Natürlich sehe ich die Demokratisierungsdefizite Russlands. Aber lasst uns langfristig denken. Russland braucht Europa – und Europa hat ein Interesse an einem Russland, das sich Europa verbunden fühlt. Für unser Verhältnis zu Russland habe ich den Begriff der „Modernisierungspartnerschaft“ geprägt – einer Partnerschaft, von der beide Seiten profitieren, kurzfristig, aber auch langfristig-strategisch. Das hat anfänglich bei vielen, auch in Deutschland, für Naserümpfen gesorgt. Um so mehr hat mich gefreut, dass die EU auf dem EU-Russland-Gipfel im Herbst letzten Jahres diesen Gedanken aufgegriffen hat und jetzt auch ihr Verhältnis zu Russland als „Modernisierungspartnerschaft“ beschreibt.

Aber wenn ich von tektonischen Verschiebungen rede, dann denke ich auch an den riesigen Raum, den wir Zentralasien nennen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Europa hier weit unter seinen Möglichkeiten bleibt. Zwar ist es mir in meiner Zeit als Außenminister gelungen, eine EU-Zentralasienstrategie zu entwickeln und durchzusetzen. Aber ich sehe mit Sorge, dass Zentralasien wieder aus dem Blickfeld gerät. Nach meiner Erfahrung gleitet die Beschäftigung mit diesen vermeintlichen Randregionen schnell in die  diplomatische Routine ab, wenn die politische Spitze nicht drängt und aktiv Interesse signalisiert. Klar ist: Zentralasien ist nicht nur ein wichtiger Rohstoff- und Energielieferant. Es ist eine Region, die in vielfacher Hinsicht Scharnierfunktion hat. Sie ist islamisch geprägt ist und fühlt sich gleichzeitig der europäischen Kultur verbunden. Und es ist eine wichtige Transitregion zwischen Hanoi, Hongkong, Peking und Seoul auf der einen, Berlin, Paris, London oder Mailand auf der anderen Seite. Noch spielt der Landweg für den Austausch zwischen Europa und Asien eine geringe Rolle. Aber das wird nicht so bleiben. Die „neue Seidenstraße“ wird in den nächsten 30-40 Jahren Realität werden – und auch für Deutschland wird viel davon abhängen, ob die Gegenstation zu Seoul oder Peking Berlin-Hamburg – oder Mailand bzw. Paris sind.

In dem Zusammenhang ein kurzes Wort zu Afghanistan: Ein sofortiger Abzug der ausländischen Truppen, wie ihn manche fordern, würde nicht nur zur Rückkehr der Taliban führen – mit schrecklichen Konsequenzen für das afghanische Volk. Er würde auch eine an sich schon fragile Region weiter destabilisieren. Wir werden vermutlich gleich in der Diskussion noch länger über Afghanistan reden, deshalb hier nur ganz kurz: Ich stehe zu dem Satz, dass Deutschlands Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird. Aber ich sage auch: Diese Verteidigung kann keine Daueraufgabe sein! Wir helfen den Afghanen, ihr geschundenes Land wieder aufzubauen und selbst für ihre Sicherheit zu sorgen. Das ist die Geschäftsgrundlage unseres Einsatzes, und sie muss mit klaren Erwartungen und verbindlichen Zeitplänen unterlegt werden.

Präsident Karzai hat angekündigt, dass seine Land ab 2014 in der Lage sein will, selbst für seine Sicherheit zu sorgen. Und da sollten wir ihn beim Wort nehmen! Ich bin weiterhin fest davon überzeugt, dass unser Einsatz in Afghanistan noch notwendig ist. Aber ich glaube auch, dass wir jetzt eine klare und verantwortungsvolle Abzugsperspektive brauchen. Und dass wir deshalb alle Kraft darauf konzentrieren sollten, dass Afghanistan endlich auf eigenen Beinen stehen kann.

Konsequenz Nummer 5: Wir brauchen eine Neubegründung der transatlantischen Partnerschaft.

Denn wir können nicht mehr davon ausgehen, dass Europa in den USA weiter selbstverständlich und auf Dauer als privilegierter Partner betrachtet wird. Barack Obama ist der erste Präsident, dessen Lebens- und Erfahrungsraum nicht mehr in erster Linie atlantisch, sondern pazifisch geprägt ist. Schon vor seinem Amtsantritt konnte man in den Washingtoner Think Tanks beobachten, wie das Interesse an klassischen europäischen Themen immer weiter sank. Das sollte für uns Grund zur Sorge sein! Denn auch bei uns ist etwas in Bewegung geraten. Die Politik der letzten Bush-Administration hat mit dazu beigetragen, dass auch in Deutschland und Europa ein Gefühl der Entfremdung entstand. Die Transatlantiker auf beiden Seiten bilden einen zunehmend exklusiven und in seiner Mitgliedschaft immer älter werdenden Club, der die gesellschaftlichen Debatten in Europa und den USA immer weniger zu prägen versteht. Ich habe mich in meiner Zeit als Außenminister mit einer Reihe von Initiativen bemüht, diesem Trend entgegenzusteuern. Nicht indem ich dem Streit mit den Bush-Leuten aus dem Weg gegangen bin! Dazu waren unsere Ansichten zu NATO-Erweiterung oder Raketenschirm viel zu kontrovers – bis hin zu meiner Ablehnung einer  Grundphilosophie, die die Welt in schwarz und weiß einteilte, die unfähig war, die Zwischentöne zu sehen und sich deshalb in immer tiefere Widersprüche verwickelte.

Ich habe versucht, neue Themen auf die transatlantische Agenda zu setzen: Zukunftsthemen wie Green Tec, Rohstoffknappheit, Klimaschutz, sozialer Rechtstaat, Global Governance. Denn ich glaube: Wenn wir bei der transatlantischer Partnerschaft in erster Linie an Traditionsthemen denken, wenn wir aufhören, über den Atlantik hinweg neugierig aufeinander zu sein, voneinander lernen zu wollen, gerade bei den Themen, die uns unter den Nägeln brennen, dann wird die transatlantische Partnerschaft von der Wurzel her verdorren. Das aber wäre ein großer Verlust: für Europa, die USA und wahrscheinlich auch für den Rest der Welt. Machen wir uns nichts vor: Mit keiner anderen Region der Welt verbindet uns so viel. Wirtschaftlich, geistig, politisch. Kein Wirtschaftsraum ist so eng miteinander verflochten wie Europa und die USA. Kein Ideenraum ist so produktiv. Und kein politischer Raum bekennt sich so eindeutig zu Demokratie, Menschenrechten und Marktwirtschaft.

Und mit diesen Stichworten komme ich zu meiner sechsten und letzten Konsequenz: Wir müssen uns in der Welt von morgen anders verständlich machen. Und müssen besser verstehen, wie der jeweils Andere denkt.

Europa ist nicht mehr der Nabel der Welt. Und das Erbe der europäischen Aufklärung ist nicht mehr in jeder Ecke der Welt Zielpunkt der jeweils eigenen gesellschaftlichen Entwicklung. Ich habe es selbst erlebt: Das Selbstbewusstsein gegenüber der eigene Traditionen und dem eigenen ideengeschichtlichen Erbe wächst. Nachdem Francis Fukuyama 1992 das Ende der Geschichte ausgerufen hatte, sah es für  einige Jahre so aus, als stehe die Demokratie westlichen Zuschnitts tatsächlich als unangefochtener Sieger der Geschichte da. Erst das Erstarken des islamischen Fundamentalismus und der rasante wirtschaftliche Aufstieg wirtschaftlicher Player ohne Demokratie zerstörte die Illusion! Heute sieht die Welt ganz anders aus: In vielen Regionen der Welt – ein Erbe Bushs -  steht die westliche Demokratie unter Ideologieverdacht. Vertreter „asiatischer Werte“ stellen die Universalität der Menschenrechte in Frage. Selbst im Herzen Europas, neuerdings in Ungarn, liebäugelt man mit dem Ruf nach einem starken, autoritäreren Staat.

Wenn unser Eintreten für Menschenrechte und Demokratie in dieser veränderten Welt erfolgreich sein soll, müssen wir uns besser verständlich machen. Das heißt praktisch: Mehr Engagement, aber auch mehr Geld für auswärtige Kultur und Bildungspolitik! Ich habe hier in den vergangenen Jahren – in bewusster Abkehr von der Tradition meiner Vorgänger – einen klaren Schwerpunkt gesetzt. Und ich hoffe, dass diese Politik auch in Zeiten knapper Kassen fortgesetzt wird.

Ein kleines Beispiel, worum es mir geht: Im Jahr 2011 wird im Pekinger Nationalmuseum, auf dem Platz des Himmlischen Friedens, eine große deutsch-chinesische Ausstellung zur „Kunst der Aufklärung“ gezeigt. Ich frage Sie: Gibt es ein besseres Symbol dafür, dass auch China mit seiner Rezeption westlicher Werte, mit seiner Auseinandersetzung mit dem Erbe der Aufklärung, noch lange nicht am Ende ist.

Wir müssen, und das ist die andere Seite der Medaille, aber auch besser verstehen, wie der Rest der Welt tickt. Auch hier geht es nicht ohne Wissenschaft und Kultur. Deutschland ist zwar ein Land ohne große Kolonialtradition. Aber deutsche Wissenschaftler haben im 19. Jahrhundert – angestoßen durch die Humboldt’sche Universitätsreformen - in den Sprach- und Kulturwissenschaften Pioniertaten vollbracht. Deshalb sage ich mit Blick auf die heutigen „Bologna“-Universitäten: Ich würde es als einen großen Verlust betrachten, wenn im Zuge eines falsch verstandenen Effizienzdenkens Orchideenfächer wie Ägyptologie oder Sanskritologie aus der deutschen Universitätslandschaft verschwinden würden. In der Welt von morgen brauchen wir sicher Ingenieure, Biologen oder Chemiker, aber dringender denn je auch Ethnologen, Sprach- und Religionswissenschaftler – übrigens nicht nur an den Universitäten, auch in der Wirtschaft, im Auswärtigen Amt, bei den Sicherheitsbehörden – und nicht zuletzt bei der Bundeswehr.

Sechs Konsequenzen habe ich genannt. Sechs Weichenstellungen, die wichtig sind, damit wir in der Welt von morgen nicht Orientierung und Kompass verlieren. Was in den nächsten Jahren wirklich geschieht, weiß keiner von uns. Gelingt es uns, die derzeitige Phase der Instabilität auf den Weltfinanzmärkten mit vernünftiger Regulierung hinter uns zu lassen? Gelingt uns ein vernünftiger Umgang mit der klimapolitischen Herausforderung? Gelingt es uns, China und Russland fest in die internationale Verantwortungsgemeinschaft einzubinden? Und findet Afrika einen Ausweg aus der Spirale von Unterentwicklung, Armut und Gewalt? Offene Fragen, aber Grund zur Verzagtheit gibt es nicht. Auch das lehrt unsere Geschichte. Deutschland hat in den Abgrund geschaut – und ist heute weltweit angesehen wie kaum ein anderes Land. Wo wir herkommen, mag ein letztes Zitat belegen. Mitten im Furor, den die deutsche Naziherrschaft in ganz Europa ausgelöst hat, schrieb der eben schon erwähnte Stefan Zweig:  „So gehöre ich nirgends mehr hin, überall Fremder und bestenfalls Gast; auch die eigentliche Heimat, die mein Herz sich erwählt, Europa, ist mir verloren, seit es sich zum zweitenmal selbstmörderisch zerfleischt im Bruderkriege. Nie – ich verzeichne dies keineswegs mit Stolz, sondern mit Beschämung – hat eine Generation einen solchen moralischen Rückfall aus solcher geistigen Höhe erlitten wie die unsere.“

Wir Deutschen haben von den Völkern der Welt nach diesem tiefen Fall eine zweite Chance bekommen. Wir haben sie bisher genutzt. Wer weiß, der darf vor einer Zukunft mit neuen offenen Fragen, der darf vor dieser Zukunft keine Angst haben!