SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier hat sich für ein Programm zur Stärkung der europäischen Industrie ausgesprochen. „Europa braucht eine Strategie der industriellen Erneuerung,“ sagte Steinmeier am Montag beim Neujahrsempfang des Verbandes der Automobilindustrie (VdA). Statt Finanzinvestoren hinterher zu rennen, müsse der Produktionsstandort entwickelt werden. Dafür sei in Europa ein „Richtungswechsel zur Realwirtschaft“ nötig.
Lieber Matthias Wissmann,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
Herr Wissmann, Ihnen herzlichen Dank für die Einladung. Ich bin gern gekommen; schon weil ich viele von Ihnen erst vor wenigen Monaten gesehen habe. Und ich erinnere mich gern an unser Treffen auf der IAA Frankfurt im letzten September. Soviel Optimismus war nie. Das war eine mitreißende Stimmung – mit viel Stolz auf die eigene Kraft, auf tolle Modelle, neue Technologie und Verkaufserfolge.
Ich war davon ehrlich beeindruckt. Das sage ich als jemand, der in einem Autoland politisch groß geworden ist und der an die deutsche Automobilindustrie geglaubt hat, als andere sie auf dem Altar der Vergangenheit opfern wollten. Sie ist wieder da – stark wie nie! Darüber freue ich mich, aber wie geht’s weiter?
Zum Anfang des Jahres 2012 wird so viel geweissagt wie selten zuvor. Es gibt ja in Deutschland die Spezies der „Chefvolkswirte“. Jede Bank hat so einen. Da gibt es welche, die beruhigen und sagen Stabilität voraus. Die anderen warnen vor einem Strudel der Rezession. Das bestätigt den alten Satz von Mark Twain: „Vorhersagen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“ Besser schärfen wir mit einigen Zahlen und gesundem Menschenverstand den Blick: Unsere Wirtschaft ist 2011 in einem schwierigen europäischen Umfeld um 3 Prozent gewachsen. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Mit mehr als 41 Millionen Menschen in Arbeit haben wir Rekordbeschäftigung.
Die deutsche Industrie ist ein Treiber dieses Erfolgs. Sie hat seit dem Sommer 2009 kräftig zugelegt. Für manche hat der Schub der Abwrackprämie, für fast alle hat die Kurzarbeit geholfen, den Kriseneinbruch zu überbrücken. Gott sei Dank! Die Brücke war lang genug und wir haben alle miteinander trockenen Fußes das Ufer erreicht. Die Aufwärtsbewegung war dann vor allem der Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten geschuldet.
Der deutsche Autobau hat ein gutes Jahr hinter sich: Der VDA erwartet einen Anstieg des Branchenumsatzes auf 358 Mrd. Euro.
Auf die Zulieferer entfallen hiervon knapp 70 Mrd. Euro. Mit ihren 730.000 Mitarbeitern auf Herstellerseite und den rund 290.000 Mitarbeitern bei Zulieferern ist die Automobilbranche nach wie vor ein Jobmotor unserer Wirtschaft. Die ganze Welt will deutsche Autos fahren. Einzelne Hersteller melden Rekordverkäufe und steuern die Weltspitze an. Und ähnlich sieht es in anderen Industriebranchen aus.
„Wie machen die Deutschen das bloß?“ fragt man sich inzwischen auch in den USA, England und Irland, in Ländern, die in der Vergangenheit einseitig auf Finanzdienstleistungen gesetzt haben. Als das ins Wanken kam, rächte sich, dass die Produktion weggebrochen war. „L’erreur fatale de la déindustrialisation“, schrieb im November die Le Monde. Wir haben diesen Fehler der Deindustrialisierung nicht gemacht. Industrie war für uns nie ein Schimpfwort. Wir wussten, was wir an guten Ingenieuren haben, als andere sich von Finanzjongleuren erklären ließen und ihnen vertrauten. Bei uns war immer genügend Skepsis, ob das funktionieren kann, wenn wir uns alle auf den Finanzmärkten tummeln. Das zahlt sich jetzt aus.
Das kann uns auch für die Zukunft Mut machen. Jeder Krisenalarmismus ist Anfang 2012 fehl am Platz und ich rate auch einer SPD in der Opposition nicht dazu.
Ich glaube, wir sind ganz einfach in einer paradoxen Lage. So erfolgreich wie nie zuvor, Anker ökonomischer Stärke. Als global ausgerichtete Exportnation aber auch höheren Risiken ausgesetzt als andere. Unsere größte Stärke – der Industriegüterexport – macht uns auch verwundbar. Dabei ist die Finanzkrise im Euroraum das größte Risiko. 60 Prozent unserer Ausfuhren gehen nach Europa, 6 Prozent nach China. Wenn die Arbeitnehmer in Frankreich, England oder Italien nicht mehr einkaufen, gehen den Kollegen in Baden-Württemberg die Aufträge aus. Es kann Deutschland also auf Dauer nicht gut gehen, wenn es Europa schlecht geht.
Aus Verschuldung, Arbeitslosigkeit, Wirtschaftseinbrüchen, noch höheren Schulden, schlechten Ratings und wackelnden Banken braut sich ein gefährlicher Cocktail zusammen, der auch die Stärksten umhaut. Deutschland ist stark. Aber unverwundbar sind wir nicht!
Eine Spaltung der Währungsunion, in die unser Erfolg eingebettet ist, ist kein Grund für Hochmut. Eine naive Art von nationalegoistischer Gleichgültigkeit gegen unsere europäischen Nachbarn wird teuer bestraft.
Noch können wir nachts ruhig schlafen. Aber wir sollten den Wecker stellen. Denn 2012 verschlafen – das dürfen wir nicht! Wir müssen Vorsorge treffen und die Weichen richtig stellen. Und wenn Sie mir noch den Satz erlauben: mir sind manche der politischen Weichensteller etwas zu sehr mit sich selbst beschäftigt und zu wenig mit der Wirtschaft dieses Landes!
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Sie kennen den Gassenhauer, dass Wirtschaft vor allem Psychologie ist. Wahrscheinlich hat dieser arg bemühte Spruch selten so getroffen wie heute. Denn in der Tat, Europa braucht einen Stimmungswechsel: neues Vertrauen und Hoffnung, dass es wieder aufwärts geht.
Damit aber die Stimmung besser wird, brauchen einen echten „Turnaround“, auch der Politik! Intelligente Konsolidierung der Euro-Staaten, das heißt, Einsparungen dort, wo Verschwendung grassiert, aber auch mehr Investitionen dort, wo das Wachstum der Zukunft entsteht. Die allzu einfachen Rezepte einer selbstmörderischen Sparpolitik kommen mir wie ein Aderlass am siechenden Patienten vor.
Klopft jetzt wieder Keynes an unsere Tür? Brauchen wir ein Konjunkturprogramm? Nein, wir dürfen in einer Krise des Vertrauens in die öffentlichen Finanzen nicht einfach blind Geld auf die Probleme schmeißen und Verschuldung erhöhen. Es geht um mehr.
Ich meine, wir haben einen kritischen Punkt erreicht. Seit 2008, als Lehman pleite ging, reißt die Diskussion über die Finanzmärkte nicht mehr ab. Kapitalismuskritik kommt doch nicht nur von „Occupy Wallstreet“. Es ist die Frankfurter Allgemeine Zeitung, es sind die Vorstände deutscher Industrieunternehmen, die schärfste Kritik üben. Dort heißt es: Nicht die Vervielfachung und Beschleunigung von Finanzanlagen und -transaktionen ist unsere Zukunft. Nicht Spekulationsblasen und Hochfrequenzhandel führen aus der Schulden- und Bankenkrise.
Wir brauchen Augenmaß, Innovationen, reale Wertschöpfung! Und das nicht nur in Deutschland. Europa braucht eine Strategie der industriellen Erneuerung. Wir müssen Lehren aus der Finanzkrise ziehen. Nach Jahren, nach Jahrzehnten der Deindustrialisierung brauchen wir eine Neuorientierung (wo sie noch möglich ist). Nicht Kampf gegen „Made in Germany“, den manche Europäer lostreten, sondern mehr intelligente Produktion in ganz Europa!
Diese Aufgabe entscheidet über die Zukunft. Wir müssen die Weichen stellen für Europas Wohlstand im 21. Jahrhundert – Weichen stellen durch einen Richtungswechsel zur Realwirtschaft. Für mich heißt das: weniger Respekt vor bloßer Wertabschöpfung und mehr Respekt vor dem mühsamen Prozess der Wertschöpfung!
Europa muss wissen, wohin es will. Wir wollen weltweit Vorreiter einer nachhaltigen Ökonomie sein. Dabei geht es um die großen Herausforderungen. Um Gesundheit, bis ins hohe Alter. Um Energie, effizient genutzt und mehr als in der Vergangenheit aus regenerativen Quellen. Um Mobilität, unter den Bedingungen knapper und teurer fossiler Brennstoffe. Um materiellen Wohlstand für eine wachsende Weltbevölkerung und bei begrenzter CO2-Aufnahmefähigkeit der Atmosphäre.
Das sind handfeste Probleme, die man nicht löst, wenn irreale Finanzwerte per Mausklick hin und her befördert werden. Diese Probleme brauchen reale Lösungen. Wir brauchen dafür vor allem gute Forscher, Entwickler, Ingenieure. Die Wirtschaft der Zukunft braucht eine Industrie der Zukunft.
Deutschland kann Impulsgeber sein und bleiben. Unsere größte Stärke bleiben industrielle Produktion und German Engineering. Wir haben einen geradezu einzigartigen Vorteil mit einer Wertschöpfungskette, die von den Grundstoffen bis zur High-Tech-Anwendung reicht. Und längst geht es um grenzüberschreitende europäische Wertschöpfungsketten und Innovationsallianzen. Zum Beispiel dort, wo große Unsicherheiten mit der Marktfähigkeit neuer Technologien eingegangen werden müssen, wo hohe Anschubfinanzierungen erforderlich sind. Und dafür ist nicht allein die Elektromobilität ein Beispiel! Die Konkurrenzsituation bei der Etablierung neuer Technologien verändert sich. Und das hat was mit der Veränderung der Welt, dem Aufstieg neuer Mächte, allen voran China, zu tun: Das ist nicht bloß Thema für Diplomaten und Außenpolitiker. Das ist ein Wirtschaftsthema erster Ordnung. China ist jetzt Exportweltmeister. Und China wird in fünf bis zehn Jahren die Wirtschaftsleistung der USA überbieten.
Die Welt ist in Bewegung und wird neu vermessen. Angestammte Plätze und Privilegien gibt es nicht. Wir müssen also fragen, wo die Rolle eines Europa ist, das nicht nur an Bevölkerungszahl weniger wichtig wird, sondern künftig auch einen geringeren Anteil des globalen Bruttosozialprodukts erbringt.
Die Stellung Europas in der Welt von morgen steht und fällt mit der Hochwertigkeit unserer Produkte und der Qualität unserer Arbeit. Das lässt sich in einer Branche wie der Ihren, deren ausgezeichnete Stärke das Premiumsegment ist, gut nachvollziehen. In der globalen Arbeitsteilung der Zukunft kommt uns die Rolle zu, ein nachhaltiges Wohlstandsmodell für bald 9 Milliarden Menschen zu denken, zu entwickeln und mit neuen Produkten zu ermöglichen.
Ich will, dass meine Partei im neuen Jahr auf die Schuldenkrise, die im Kern eine Krise mangelnder Wettbewerbsfähigkeit vieler Länder ist, mit einem industriellen Erneuerungsprogramm für Europa antwortet. Ein Programm, das intelligent und ambitioniert ist. Ein Programm, das Hoffnung macht, nicht zuletzt bei den jungen Leuten ohne Arbeit.
Modernisierungsinvestitionen, Forschung und Entwicklung, Ausbau der Infrastruktur, auch der europäischen Energienetze gehören auf die Agenda.
Vor diesem Hintergrund – dieses Wort zum Schluss – ist die Diskussion um eine Finanztransaktionssteuer in der Eurozone notwendig. Eine Umsatzsteuer nicht nur auf Industrie-, sondern auch auf Finanzprodukte kann und sollte ganz gezielt genutzt werden, um eine industrielle Erneuerung in Europa ohne neue Schulden zu finanzieren. Wir können hier im Deutschen Bundestag sehr schnell zu einer Entscheidung kommen. Die Mehrheiten sind da.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Wie wird neue Jahr? Ich sage: Es wird so gut, wie wir auf die Krise Europas antworten. Den Chefvolkswirten, die wir allabendlich im Börsenfernsehen sehen, sollten wir sagen: „Der sicherste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist sie zu gestalten.“ Das jedenfalls ist eines der weniger bekannten Zitate von Willy Brandt, das wir beherzigen können.
Herzlichen Dank und viel Erfolg! Wir brauchen Sie!