Contergangeschädigte Menschen erhalten mehr Autonomie durch pauschale Auszahlung der Mittel für spezifischen Bedarfe. Die Beratungstätigkeiten der Conterganstiftung werden ausgebaut. Die Stiftungsstruktur wird evaluiert.                

 

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Verab­schiedung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Conter­ganstiftungsgesetzes hat der Bundestag im Jahr 2013 die Lebensbedingungen der Menschen mit einer Contergan­schädigung erheblich verbessert. Auch das Vierte Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes, das heute zur Abstimmung steht, wird positive Auswirkungen auf das Leben der circa 2 700 Contergangeschädigten und deren Familien haben; davon bin ich fest überzeugt.

Wir bringen diese Änderung auf den Weg, weil wir als Staat hier in ganz besonderer Weise Verantwortung tragen; meine Vorredner haben das schon betont . Ich will diese Verantwortung des Staates kurz begründen und da­für einen Blick in die Vergangenheit werfen: Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre wurde ein Medikament mit dem Namen Contergan als rezeptfreies Schlaf- und Beruhigungsmittel verkauft. Frauen, die das Mittel wäh­ rend der Schwangerschaft einnahmen, haben Kinder mit schweren Fehlbildungen geboren. Viele dieser Kinder sind unmittelbar nach der Geburt oder wenig später ge­storben. Diejenigen, die überlebt haben, sind heute er­wachsen und haben oft einen sehr langen Leidensweg hinter sich. Zum damaligen Zeitpunkt gab es in Deutsch­land kein nationales Medikamentenrecht; ein bundesein­heitliches Verfahren zur Medikamentenkontrolle wurde erst 1976 eingeführt. Hier liegt unsere staatliche Verant­wortung begründet.

Der Hauptverantwortliche – jedenfalls ist er das für mich –, die Firma Grünenthal, zahlte als Entschädigung im Rahmen eines Vergleiches 100 Millionen D-Mark in die Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ ein. Im Gegenzug wurden weitere Ansprüche gegen den Herstel­ler in gesetzliche Leistungsansprüche umgewandelt. Der Staat übernahm damit die weitere Verantwortung für die geschädigten Kinder. Heutzutage – auch das muss einmal gesagt werden – könnte sich eine Firma, die ein Medika­ment mit dermaßen verheerenden Folgen rezeptfrei ver­kauft hat, nicht mehr so einfach und so günstig aus der Affäre und aus ihrer Verantwortung ziehen.

Aus den Kindern sind inzwischen, wie schon er­wähnt, erwachsene Menschen geworden, die trotz ihrer Behinderung versuchen, ihr Leben, so gut es eben geht, zu meistern. Dafür verdienen sie unseren Respekt. Mich haben die Betroffenen und viele andere behinderte Men­schen demütig gemacht, und sie haben mich auch dank­bar gemacht. Aber sie haben mir auch gezeigt, dass mit einem eisernen Willen auch als behinderter Mensch ein teilweise erfülltes Leben möglich ist. Dafür möchte ich mich herzlichen bedanken.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundestag musste das Conterganstiftungsgesetz in der Vergangen­heit bereits mehrfach korrigieren und damit an die Le­benswirklichkeit der Betroffenen anpassen. Zuletzt ist das, wie schon erwähnt, im Jahr 2013 geschehen. Das Parlament hat damals die Renten für Contergangeschä­digte in der Spitze versechsfacht. Bei Schwerstgeschä­digten beträgt sie jetzt etwa 7 000 Euro, vorher beka­men diese Menschen 1 100 Euro. Das ist eine mehr als deutliche Verbesserung. Hinzu kommt, dass weder das Einkommen noch das Vermögen der Betroffenen für So­zialleistungen, wie zum Beispiel persönliche Assistenz, herangezogen werden kann. Auch das ist eine Besonder­heit im Conterganstiftungsgesetz.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Berichterstatter und auch viele andere von Ihnen wissen: Contergange­schädigte Menschen haben eine Vielzahl an Bedarfen. Diese sind, bedingt durch ihre Schädigungen, sehr un­terschiedlich. Um ihren Alltag dennoch meistern zu können, benötigen sie viele Hilfsmittel. Vieles von dem, was Contergangeschädigten und auch anderen behin­derten Menschen das Leben erleichtert, fällt nicht unter den eng gefassten Begriff der medizinischen Heil- und Hilfsmittel. Daher haben sich Krankenkassen und an­dere Kostenträger schon immer sehr schwer getan, die Kosten zu übernehmen. Oft geschah das erst nach langen Rechtsstreitigkeiten. Deswegen hat der Bundestag 2013 zusätzliche Mittel für spezifische Bedarfe zur Verfügung gestellt.

Ziel der Einführung war es, wie damals betont wurde, bürokratiearm Hilfe zu leisten. Die Praxis hat aber leider gezeigt: Dieses Ziel wurde verfehlt; das bisherige An­tragsverfahren ist viel zu kompliziert – meine Vorredner, auch Frau Rüffer, haben es dargestellt –, die Bewilligung der Mittel ist schwierig und führt immer wieder zu Kla­gen durch die Betroffenen. Viele Betroffene haben sich daher gar nicht erst auf den Weg gemacht, diese Hilfe zu beantragen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir heute die­se Gesetzesänderung beschließen – ich hoffe mal, dass die Oppositionsfraktionen da noch ihr Herz in die Hand nehmen –, beweisen wir, dass Politik lernfähig ist. Die Bereitstellung der Mittel für spezifische Bedarfe in 2013 war absolut richtig. Heute sorgen wir nur dafür, dass diese Mittel die Betroffenen auch endlich und wirklich erreichen. Wir schaffen das Antragsverfahren ab und sichern allen Beziehern von Conterganrenten einen So­ckelbetrag von 4 800 Euro zu. Zusätzlich erhalten die Betroffenen, gestaffelt nach dem Grad ihrer Schädigung, bis zu 9 900 Euro im Jahr. Wir handeln so, weil wir fest daran glauben, dass die Betroffenen selbst am besten wissen, welche Hilfsmittel ihnen das Leben erleichtern. Mit dem Wegfall des Antragsverfahrens versetzen wir sie damit auch in eine selbstbestimmtere Position.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass wir endlich die Haftungsregeln für den Stiftungsvorstand anpassen. Das war ein vielgeäußerter Wunsch aus dem Vorstand heraus. Außerdem haben die contergangeschädigten Mitglieder des Stiftungsrates und des Stiftungsvorstandes jetzt Anspruch auf die Erstattung notwendiger Assistenz­kosten; auch das ist eine absolut richtige Veränderung im Gesetz. Wir stellen ferner sicher, dass die Conterganren­ten – auch das war ein Anliegen der Betroffenen – und das Vermögen der Betroffenen auch nach dem neuen BTHG anrechnungsfrei bleiben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, anders als die Vor­redner von der Opposition bin ich der Meinung, dass eine Veränderung der Stiftungsstruktur zwingend notwendig ist, nicht zuletzt auch aufgrund der Veränderungen, die die Pauschalierung der Mittel mit sich bringen wird. Die Stiftung wird dadurch erheblich entlastet und kann sich so verstärkt um die Beratung und Unterstützung der Be­troffenen kümmern.

Die notwendigen Strukturänderungen werden wir heu­te allerdings noch nicht beschließen. Wir haben gemein­sam aus der Anhörung die Lehre gezogen, dass wir das jetzt noch nicht tun sollten. Wir bringen die Erstellung ei­nes Evaluationsberichts auf den Weg, der möglichst noch vor Ende der Legislaturperiode vorliegen soll. Dann wer­den wir überlegen, was wir an der Stiftungsstruktur än­dern. Damit erübrigen sich auch die entsprechenden Teile in Ihren Anträgen, die sich mit diesem Thema befassen.

Die SPD-Fraktion und insbesondere ich als Bericht­erstatterin sind uns sicher, dass der Bericht die Notwen­digkeit der Strukturveränderungen bestätigen wird; denn die Stiftung muss grundsätzlich handlungsfähig sein, und das ist sie heute, wenn man genau und ehrlich hinschaut, nicht immer. Der Stiftungsvorstand muss seine Aufgaben erfüllen können – das haben Sie nicht immer im Blick, Frau Rüffer –, der Stiftungsrat muss mitbestimmen und kontrollieren, und die Ministerien müssen ihrer Auf­sichtspflicht nachkommen können.

(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ­NEN]: Aber nicht, indem man die Betroffenen schwächt!)

Diese vielfältigen Aufgaben sollten – das ist jedenfalls meine Wunschvorstellung, und ich will alles tun, damit das auch gelingt – im guten Miteinander erledigt werden. Das klingt für mich im Moment noch nach der Quadra­tur des Kreises. Da ich aber von der Notwendigkeit der Veränderungen überzeugt bin, setze ich darauf, dass alle Beteiligten – und ich betone: alle – aufeinander zugehen und so ihren guten Willen zeigen. Nur so können sie den Stiftungsauftrag erfüllen und den Betroffenen wirklich helfen.

(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn der vor­liegende Entwurf nicht alle meine Erwartungen erfüllt, können wir, denke ich, dennoch zufrieden sein. Alle Be­troffenen bekommen unbürokratisch Geld aus dem Topf für spezifische Bedarfe. Sie bekommen damit mehr Au­tonomie für die Gestaltung ihres Lebens. Das ist auch das Ziel, das wir gerade mit dem BTHG beschlossen haben: raus aus der Fürsorge, raus aus dem „Wir wissen schon, was gut für euch ist“, hin zu einem selbstbestimmten Le­ben. Das ist für uns als Politiker und für die Betroffenen ein schöner Erfolg am Ende des Jahres 2016. Dafür möchte ich mich bei allen Beteiligten herzlich bedanken.

Ihnen allen wünsche ich ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)