Dennis Rohde (SPD):
Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 3. Mai dieses Jahres durfte ich, übrigens gemeinsam mit meiner Vorrednerin, in meiner Heimat in Oldenburg der Kranzniederlegung zum Gedenken an die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter der NS-Zeit beiwohnen. Ich kann heute sagen, dass es ein Ereignis war, das mich sehr berührt hat, viel mehr, als ich es im Vorfeld erwartet hatte. Ich war zum ersten Mal an diesem Mahnmal in meiner Stadt. Das, was mich so sehr berührt hat, waren die Schicksale, die auf einmal transparent wurden. Es waren die Namen und insbesondere die Geburts- und Todesdaten, die auf dem Mahnmal vermerkt sind.
Ich selbst bin in einer Zeit aufgewachsen, in der ich nie Angst vor Krieg oder Angst um mein Leben haben musste. Ich weiß, dass das ein großes Glück ist. Viel mehr noch: Ich darf heute mit 29 Jahren meine Heimat im Deutschen Bundestag vertreten. Aber viele der Menschen, derer an diesem Mahnmal gedacht wird, hätten sich gefreut, das 29. Lebensjahr überhaupt erreichen zu dürfen. Es sind die Schicksale wie das von Jakow Suschtschenko, der im Alter von 25 Jahren zu Tode kam, oder das von Anna Bogutschenko, die lediglich 18 Jahre alt werden durfte. Beide fanden ihre letzte Ruhestätte in einem Massengrab in Oldenburg, mit ihnen übrigens auch 111 Kinder, zu großen Teilen Kleinkinder.
Noch bedrückender wird das Gefühl, wenn man sich mit dem Leid der – zum großen Teil sowjetischen – Kriegsgefangenen in der eigenen Heimat intensiver beschäftigt. So wurden diese damals zum Bau der Umgehungsstraße eingesetzt, die wir auch heute noch nutzen und tagtäglich befahren. Nicht nur das: Die Gefangenen haben auch den Sand hierfür abtragen müssen. Aus diesem Abtrag ist, wie vielerorts auch, ein Baggersee entstanden. Er ist heute ein beliebter Rückzugsort in unserer Stadt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir halten es uns wahrscheinlich nicht jeden Tag vor Augen und machen es uns auch nicht jeden Tag aufs Neue bewusst: Aber die Spuren der NS-Zeit, die Spuren des Leidens der Gefangenen sind nach wie vor Bestandteil unseres täglichen Lebens. Wir wissen, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen hierbei in unserer Region wie in ganz Deutschland zu den größten Opfergruppen nationalsozialistischer Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zählen.
Bis 1945 starben in deutschem Gewahrsam mehr als 60 Prozent – die Zahl ist bereits gefallen – der insgesamt bis zu 6 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen. Die Ursachen für den Tod so vieler Menschen waren nicht allein die allgemeinen Kriegsumstände oder die mangelnde Versorgung. Tod und Vernichtung in den Lagern wurden vom NS-Regime mehr als billigend in Kauf genommen. Sie waren Folge der nationalsozialistischen, der menschenverachtenden Ideologie. Wir wissen auch: Diejenigen, die trotz der tödlichen Bedingungen überlebt haben, wurden nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion oftmals der Kollaboration verdächtigt. Nicht selten kamen sie in Lagerhaft. Sie wurden gesellschaftlich diskriminiert und staatlicherseits erst 1995 vollständig rehabilitiert.
Unsere Geschichte gibt uns eine Verantwortung für unser heutiges Handeln, eine Verantwortung, wie ich finde, im doppelten Sinne. Zum einen tragen wir als Mitglieder des Deutschen Bundestages, aber viel mehr noch als Mitglieder unserer Gesellschaft die Verantwortung dafür, dass sich das dunkelste Kapitel der europäischen Geschichte niemals wiederholt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wir wollen gute Nachbarn sein. Und wir werden uns jedem standhaft und entschieden entgegenstellen, der Frieden, Freiheit und Demokratie in diesem Land bedroht, ganz egal, wie er sich nennt, ganz egal, wie er sich tarnt. Nie wieder Faschismus – dieser Aufgabe haben wir uns tagtäglich zu stellen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zum anderen haben wir als Parlamentarier auch eine politische Verantwortung, die wir Sozialdemokraten wahrgenommen haben und wahrnehmen. Es war die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder, die im Jahr 2000, 55 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, mit dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ dafür gesorgt hat, dass NS-Zwangsarbeiter Entschädigungszahlungen erhielten.
(Beifall des Abg. Gerold Reichenbach [SPD])
Hierfür stellten der Bund und die Wirtschaft damals immerhin 5,2 Milliarden Euro zur Verfügung.
Doch eine Lücke gab es auch in diesem Gesetz noch: Sowjetische Kriegsgefangene blieben unberücksichtigt; denn Tatbestandsvoraussetzung war die Zwangsarbeit. In der letzten Legislaturperiode wurden die Anträge zur Erweiterung des Kreises der Anspruchsberechtigten leider noch regelmäßig abgelehnt. Aber im Nachtragshaushalt 2015 haben wir endlich das durchgesetzt, was wir bereits zuvor gefordert hatten: Nunmehr 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges haben auch die noch lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen einen Entschädigungsanspruch bekommen, zwar spät, aber wir sind unserer historischen Verantwortung in diesem Punkt gerecht geworden.
(Beifall bei der SPD)
Egal ob im Jahr 2000 für die Zwangsarbeiter oder im letzten Jahr für die sowjetischen Kriegsgefangenen, ich sage ganz klar: Kein Geld der Welt kann die Taten und Grausamkeiten des nationalsozialistischen Unrechtsregimes ungeschehen machen. Die Entschädigungsleistungen sind Symbol unserer Verantwortung und unseres Willens, diejenigen niemals zu vergessen, denen in den Zeiten des Zweiten Weltkrieges die Freiheit geraubt und das Leben genommen wurde. Sie sind Symbol für unsere Verantwortung und unseren entschlossenen Willen, nicht zu vergessen. Nie wieder Faschismus – das ist und bleibt unsere wichtigste Aufgabe.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])