In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag spricht Niels Annen, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, zur aktuellen Stunde zur Flüchtlingskatastrophe an der türkisch-syrischen Grenze. Die Lage der Flüchtlinge an der türkisch-syrischen Grenze ist bedrängend. Daher sollten die humanitären Bemühungen weiter ausgebaut werden. Unter diesen Voraussetzungen wertet er den Gang zu den Vereinten Nationen mit einer einstimmigen Empfehlung und einem Beschluss des VN-Sicherheitsrates als den richtigen Weg.

Frau Präsidentin, vielen Dank. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die erneute, von ISIS ausgelöste Flüchtlingswelle verschärft in der Tat die humanitäre Katastrophe in der Region. Ich glaube, es geht uns allen so: Die Berichte von den Flüchtlingen, die sich in die Türkei retten konnten, sind erschütternd. Angesichts der anhaltenden Flüchtlingskatastrophe in der gesamten Re­gion – wir reden in der Tat über Syrien, Libanon, Jorda­nien und auch über den Iran und den Irak, weil alle diese Länder auch innerhalb ihrer staatlichen Grenzen noch einmal Flüchtlinge aufgenommen haben – ist die Lage dramatisch.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich glaube, wir alle müssen angesichts dieser Bilder, die täglich über den Fernsehschirm flimmern, ein bisschen aufpassen, dass wir nicht abstumpfen gegenüber den Bildern, die dort auf uns einprasseln. Die Ermordung, Versklavung und Vertreibung von politischen Gegnern und Angehöri­gen anderer Glaubensgemeinschaften, die ISIS zu politi­schen Gegnern erklärt hat, ist ein Teil der perfiden Stra­tegie des sogenannten „Islamischen Staates“.

Wenn wir, so wie es die Bundesregierung tut, den Flüchtlingen helfen, dann tun wir das aus humanitärer Verantwortung, aber auch deshalb – ich teile die Mei­nung der Kollegin Roth –, weil es ein Teil einer politi­schen Antwort auf den Krieg von ISIS ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Kämpfer von ISIS versuchen, ihre Ideologie und Vorstellungen durch breitflächige Vertreibung durchzu­setzen und gleichzeitig mit den von ihnen ausgelösten Flüchtlingsströmen die Stabilität der gesamten Region zu erschüttern und dabei ihren eigenen Machtbereich auszuweiten. Wir stellen dem die entschlossene Be­kämpfung von ISIS entgegen und sorgen gleichzeitig für eine Stärkung der Staatlichkeit; darum geht es letztlich. Zur Stärkung der Staatlichkeit gehört auch die Stärkung von UN-Organisationen wie UNHCR, Welternährungs­programm, UNICEF sowie vielen privaten NGO, die sich engagieren und einen Teil zur Regierbarkeit dieser Region beitragen.

Es ist gut, dass wir wieder im Rahmen der Vereinten Nationen über die Probleme diskutieren. Es gibt nun eine Resolution gegen sogenannte Foreign Fighters. Es ist ein Fortschritt, dass der Sicherheitsrat zu einer ein­stimmigen Empfehlung und einem Beschluss gekommen ist. Der Gang vor die Vereinten Nationen ist der richtige Weg. Ich möchte die Bundesregierung ermutigen, sich noch stärker für die Aufwertung der UNO einzusetzen. Die SPD unterstützt die Bemühungen der Bundesregie­rung für eine inklusive Regierung in Bagdad und für eine breite regionalpolitische Allianz gegen ISIS. Hier haben wir Fortschritte erzielt.

Frau Kollegin Hänsel, es gibt sicherlich viele Punkte, die an der Regierung Erdogan zu kritisieren sind. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass in den letzten Monaten und Jahren zu häufig die Abschnitte der Grenze zu Syrien of­fen waren, die eigentlich hätten geschlossen sein müs­sen, und dass ausgerechnet die Abschnitte der Grenze geschlossen waren, die für humanitäre Hilfe hätten ge­öffnet sein müssen; das ist richtig. Aber die Art und Weise, wie Sie hier den plakativen Vorwurf gegen die türkische Regierung ohne jegliche Unterlegung von Fak­ten erheben, den „Islamischen Staat“ zu unterstützen,

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das alles kann man in Zeitungen nachlesen!)

macht eine konstruktive Kritik nicht einfach. Ich glaube, es ist wichtig, dass sich die Bundesregierung in Dialogen und Zusammenarbeit engagiert. Im Übrigen will ich da­rauf hinweisen, dass Sie mit Ihrer Vorstellung, man sei gut beraten, mit einem radikalen Schnitt bei den Bei­trittsverhandlungen für eine Änderung der Politik Anka­ras zu sorgen, auf dem Holzweg sind.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben in den letzten Monaten weitestgehend un­beobachtet von der Öffentlichkeit – ich bin der Bundes­regierung dafür dankbar – Fortschritte gemacht, auch bei den Beitrittsverhandlungen. Wir brauchen die Türkei. Wenn wir die Türkei als Teil eines regionalen Bündnis­ses brauchen, dann ist die Politik, die Sie uns empfehlen, kein Weg in die richtige Richtung. Es ist in den letzten Jahren doch ein großer Verdienst der Regierung Erdogan gewesen, Friedensgespräche mit der PKK zu führen. Die aktuelle Situation zeigt, wie richtig und wichtig dieser Weg ist. Ich will Ihnen offen sagen, dass ich dafür bin, dort, wo es notwendig ist, Gespräche mit der PKK und ihrem syrischen Ableger zu führen. Aber Sie blenden vollkommen aus, dass diese Organisation Terroran­schläge begangen hat, auch hier in Deutschland.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Welche Terror­anschläge meinen Sie denn?)

Es ist ebenfalls eine unverantwortliche Politik, auszu­blenden, dass es dort, wo der PKK-Ableger in Syrien eine regionale Machtbasis aufgebaut hat, keine politi­sche Alternative gibt. Reden Sie doch einmal mit den Kurden, die in Opposition zu PYD stehen.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Es geht um den Friedensprozess!)

Es handelt sich dabei weiterhin um eine straff organi­sierte, autoritäre Partei. Ich finde es ein wenig irritie­rend, wie Sie hier mit unterschiedlichem Maß messen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich glaube, wir sind insgesamt sehr verantwortlich mit einer ausgesprochen schwierigen Situation umge­gangen. Im Mittelpunkt unserer Bemühungen sollte nicht die kurzfristige Suche nach einer Überschrift in der nächsten Ausgabe einer Zeitung stehen. Vielmehr sollten die Bemühungen im Mittelpunkt stehen, die humanitäre Lage für die Menschen zu verbessern.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)