Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich bedauere, dass diese beiden so unterschiedlichen Themen im Rahmen einer Aktuellen Stunde behandelt werden; denn diese kann dem Beratungsbedarf beider Themen nicht gerecht werden.
Deshalb gleich zu Anfang: Keine Visapflicht für Menschen aus dem Westbalkan das ist unsere Position. Denn wir haben mit den europapolitischen Entscheidungen, die getroffen worden sind, den Menschen eine Perspektive im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union gegeben und mit den Annäherungsverabredungen diesen Ländern auch eine Beitrittsperspektive eröffnet.
Ich glaube, wir müssen realisieren, vor welchem Hintergrund das Ganze stattfindet und wie stark Deutschland früher betroffen gewesen ist. Im Jahr 1992 betrug die Zahl der Asylbewerber 438 000. Es war eine schwierige Zeit. Im vergangenen Jahr waren es nur noch knapp 77 000 Asylbewerber, also gegenüber 1992 knapp 17 Prozent. Ich will damit nichts beschönigen. Ich will gleichzeitig aber sagen, dass das Ganze nicht dramatisiert werden darf. Es ist sachlich zu diskutieren.
Es darf auch nicht hektisch reagiert werden, wie das der Bundesinnenminister teilweise getan hat, indem er eine Verkürzung der Asylverfahren, eine schnelle Rückführung, die Wiedereinführung der Visapflicht und sogar eine Einschränkung und Reduzierung des Asylbewerberleistungsrechts verkündet hat. Das sind nicht die richtigen Antworten, die die Probleme lösen. Das ist auch nicht der Weg zu einem geeinten Europa. Wenn man so wie bei der Finanzkrise Missstände bekämpfen will, ist es, denke ich, notwendig, auch gemeinsam Armut in Europa zu bekämpfen. Auch das soziale Gesicht Europas muss entwickelt werden. Beim Asylbewerberrecht geht es dann darum, auch das Einzelfallrecht im Auge zu behalten und nicht zu pauschalieren.
Deswegen ist die Abschaffung der Visafreiheit völlig falsch. Sie ist genauso falsch wie eine öffentliche Dramatisierung, die großen Schaden anrichtet. Mit der öffentlichen Dramatisierung verhält es sich bei dem anderen Thema genauso da sollte man auch sehr sensibel sein: Keine Visafreiheit für Inhaber von russischen Dienstpässen. Der ursprüngliche Titel lautete ja ganz anders: Keine Visafreiheit für den Repressionsapparat.
Russland hat in den letzten Jahren eine bewegte Entwicklung durchgemacht: von der Diktatur, vom Kalten Krieg, vom kalten Kapitalismus mit ersten demokratischen Schritten, die als solche auf die Menschen anders gewirkt haben, hin zum blanken Kapitalismus ohne Schutz und ohne Rechte und schließlich zu einem starken Staat, bei dem wir zunehmend wahrnehmen, dass für Demokratie nach oben noch viel Spielraum besteht.
Wenn wir darüber diskutieren, wie wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen stattfinden, geht es darum, dies zu berücksichtigen. Deutschland hat ganz enge Beziehungen zu Russland. 7 000 deutsche Unternehmen sind in Russland tätig. 2 Millionen Menschen in Russland lernen Deutsch. Es gibt 90 Städtepartnerschaften. Im Austausch von Wirtschaft, Jugend, Kultur und Wissenschaft gibt es ein enges Geflecht. Das alles wäre unter einem durch und durch strukturierten Repressionsapparat gar nicht möglich.
Es geht dabei auch um eine Differenzierung im Hinblick auf die Menschen in diesem Apparat. Wir haben das Thema nun zum dritten Mal auf der Tagesordnung. Es ist die dritte Russland-Debatte innerhalb eines halben Jahres. Schon in der ersten Debatte haben wir deutlich gemacht, dass uns die Zurückdrängung von Freiheiten, das Gesetz gegen die Nichtregierungsorganisationen, die Verfolgung von Menschen, die versuchen, sich demokratisch zu betätigen, die Einschränkung der Versammlungs- und der Demonstrationsrechte, die Gesetze gegen die sexuellen Minderheiten, das intensive Vorgehen der Sicherheitskräfte in Form von Hausdurchsuchungen bzw. Verhaftungen derjenigen, die ihre demokratischen Freiheiten wahrnehmen wollen, genauso wenig gefallen wie der Ausschluss von Parlamentariern aus dem Parlament oder die Durchsuchungen, die vorhin hier genannt worden sind, ob das nun bei Golos Svobody, Amnesty International, der Konrad-Adenauer-Stiftung oder der Friedrich-Ebert-Stiftung der Fall war. Das alles ist völlig inakzeptabel.
Aber man wird dem nicht gerecht, wenn die Antwort jetzt darin gesucht wird, all diejenigen, die im Staatsdienst sind, unter den gleichen Verdacht zu stellen, und genauso pauschaliert wird. Das hilft überhaupt nicht weiter, insbesondere dann nicht, wenn man sich in diesem Haus in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe und in allen Reden und Anträgen permanent für Visafreiheit einsetzt und die Bundesregierung kritisiert, weil sie im Kern mit dem Fuß auf der Bremse steht.
Hier geht es um ein kleines Stück Visaliberalisierung, einen kleinen Schritt, bei dem wir deutlich sagen sollten: Lasst ihn uns gehen, und lasst auch hier die Einzelfallprüfung zur Anwendung kommen. Wenn klar ist, dass einige versuchen, sich missbräuchlich oder trotz nachgewiesener Straftaten und Repression Zutritt zu verschaffen, dann haben sie keinen Zutritt. Dann muss das zu spüren sein. Aber wir sollten nicht generalisieren.
Deswegen ist das, was die Bundesregierung jetzt unternimmt, ein Schritt in die richtige Richtung. Er ist aber völlig unzureichend, weil alles andere, was gesagt worden ist, dazugehört. Wir müssen über Wissenschaft reden. Wir müssen über Jugend reden. Wir müssen über Studenten, über Sport und über Wirtschaft reden. Hier brauchen wir mehr Freiheiten. Hier brauchen wir mehr Liberalisierung.
Es ist wichtig, jetzt nicht ein Spiel nach dem Motto zu betreiben „Wer legt die nächste Sprosse auf der Leiter höher?“, sodass man sich nachher in Höhen befindet, aus denen man nicht mehr hinunterkommt und nicht zur Deeskalation beigetragen kann. Denn sonst wäre Willy Brandts Ostpolitik mit der Strategie vom Wandel durch Annäherung nie so erfolgreich gewesen, wie sie es denn am Ende war.
Die Fortschritte, die wir zwischen Sankt Petersburg und Helsinki, zwischen Kaliningrad und Danzig und in den Häfen an der Ostsee im Rahmen der Visaliberalisierung beobachten können, sind Beispiele dafür, dass es geht.
Russland hat die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben. Diese Werte müssen in die Praxis umgesetzt werden. Daran werden wir Russland messen. Aber ein gemeinsames Werteverständnis werden wir nur dadurch erreichen, dass wir die Kooperation auf allen Ebenen vertiefen und im Zusammenhang mit diesen Werten die Kooperation miteinander lernen.
Das Fazit dieser Debatte kann eigentlich nur sein das sage ich ganz klar und deutlich : bestehende Visafreiheit erhalten, Armut in Europa genauso ernsthaft bekämpfen wie die Finanzkrise und Schritt für Schritt zu mehr Visafreiheit in Europa gelangen.