„Die Sicherheit ist wichtig, und die ist zu trennen von der Laufzeit.“  (Volker Kauder, ARD-Morgenmagazin, Montag, 14.03.2011)

 

 

Im „Herbst der Entscheidungen“ haben CDU/CSU und FDP es vermieden, die Sicherheitsfrage eingehend zu prüfen. Nach monatelangem Streit über Steuersenkungen wollte Merkel nach der Sommerpause Entscheidungsfähigkeit der Koalition demonstrieren. Im Ergebnis wurden die Sicherheitsprobleme nicht nur ignoriert, sondern die Sicherheitsstandards sogar noch gesenkt. Dabei waren die Probleme allen bekannt:

 

  • Alte AKW sind trotz aller Nachrüstungen allein aufgrund der Baukonstruktion (keine Kuppelform, unterschiedliche Wanddichten der Reaktordruckbehälter etc.) weniger sicher als neuere. So stellten Experten in den letzten Jahren wiederholt fest, dass die Siedewasserreaktoren der Baulinie 69 Konstruktionsmängel aufweisen, die dazu führen können, dass die inneren Reaktorhüllen bei extremen Belastungen bersten. Forschungsergebnisse des Berliner Professors Manfred Zehn ziehen die Stabilität der Schweißnähte am Reaktordruckbehälter der AKW-Baureihe in Zweifel. Ein Riss könnte zum explosiven Austreten radioaktiven Dampfes führen und katastrophale Folgen haben. Professor Zehn und andere Experten forderten bereits im vergangenen Jahr, die Einberufung einer Expertenrunde und neue Studien seien „das Mindeste“, was die AKW-Betreiber jetzt tun müssten – gerade angesichts der geplanten Laufzeitverlängerung.
     
  • Nachrüstungen, gerade der ältesten Reaktoren, sind gar nicht oder nur teilweise möglich. Sie können baulich bedingt nicht mehr auf den aktuellen Sicherheitsstandard „Stand von Wissenschaft und Technik“ gebracht werden. Das älteste noch in Betrieb befindliche deutsche Atomkraftwerk Biblis A (Baujahr 1974) müsste z. B. mit einer externen Notstandswarte nachgerüstet werden, um die aktuellen Sicherheitsstandards zu erfüllen. Diese Nachrüstung würde etwa fünf Jahre dauern und ca. eine halbe Milliarde Euro kosten.
     
  • Auch neue Atomreaktoren sind nicht so sicher, wie von den Herstellern behauptet. Dass beim Europäischen Druckwasserreaktor (European Pressurised Reactor - EPR) die Unfallfolgen auf das Innere des Reaktors beschränkt bleiben, wird von Atomkraftgegnern bezweifelt. Beim finnischen EPR-Reaktorneubau Olkiluoto 3 konnte Greenpeace 700 eingebaute Sicherheitsmängel in einem dreiviertel Jahr Bauzeit finden. Selbst die finnische Strahlenschutzbehörde hat eingeräumt, dass der gesamte AKW-Neubau viel schwerer sei‚ als  anfänglich geglaubt.
     
  • Eine Untersuchung der Internationalen Länderkommission Kerntechnik kam schon 2002 zu dem Ergebnis, dass nur 3 der damals 19 Atomkraftwerke einem Angriff mit einem größeren Flugzeug standhalten würden. „Bei allen anderen Kernkraftwerken ist bei einem Aufprall auf das Reaktorgebäude mit schweren bis katastrophalen Freisetzungen radioaktiver Stoffe zu rechnen.“ Eine Nachrüstung sei technisch und wirtschaftlich nicht machbar.
     
  • Auch eine Studie der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) kommt zu dem Ergebnis, dass keines der deutschen AKW hundertprozentigen Schutz vor Terrorangriffen aus der Luft bietet. Zehn Atomkraftwerke würden bei einem Kamikazeangriff schwere Schäden bis zu einer Kernschmelze davontragen. Auch bei den sieben moderneren Druckwasser-Reaktoren, deren Betonhüllen dem Flugzeugaufprall demnach wahrscheinlich standhalten würden, wären die Folgen im Inneren der Anlage durch die Erschütterungen nicht absehbar.
     
  • Nach Ansicht des Bundesinnenministeriums hat sich die Wahrscheinlichkeit eines Flugzeugabsturzes auf ein AKW deutlich erhöht. Man kann seit dem 11. September 2001 nicht mehr – wie in den 70ern und 80ern - von einem zu vernachlässigenden Restrisiko sprechen.
     
  • Stetige Vorfälle und Sicherheitslücken zeigen, dass deutsche AKW keinesfalls störungsfrei und zuverlässig laufen. Brunsbüttel und Krümmel sind Beispiele hierfür. Seit 1960 der erste Atomreaktor in Deutschland gebaut wurde (Versuchsatomkraftwerk Kahl, abgeschaltet 1985), gab es 5.865 meldepflichtige Ereignisse. In den bis heute laufenden 17 AKW gab es 4.233 solcher Ereignisse (Bundesamt für Strahlenschutz, bis 30.09.2009). Mit anderen Worten: Es kommt alle zweieinhalb Tage zu einem meldepflichtigen Vorfall. Mit längerer Laufzeit nimmt die Sicherheit des Anlagenbetriebs stetig ab.
     
  • Auch vor den aktuellen Ereignissen in Japan kam es nicht nur in Tschernobyl, sondern auch in westlichen Ländern mit vergleichbaren Atomkraftwerken wie in Deutschland bereits immer wieder zu erheblichen Zwischenfällen. Die Liste ist lang. Nur vier Beispiele: In Großbritannien lief 2007 zeitweise nur ein AKW einwandfrei.   In Schweden kam es 2007 im AKW Forsmark zu einem ernsten Störfall. Im französischen AKW Tricastin entwich im Sommer 2008 radioaktive Flüssigkeit. Auch in Japan musste bereits 2007 nach einem schweren Erdbeben das weltweit größte Atomkraftwerk Kashiwazaki-Kariwa mit insgesamt sieben Reaktoren abgestellt werden. Bis Mitte 2009 brach acht Mal während der Vorbereitung zum Wiederanfahren des am wenigs-ten beschädigten Reaktors Feuer aus.

 

All diese Sicherheitsprobleme waren seit Jahren bekannt – auch der schwarz-gelben Bundesregie-rung: Umweltminister Röttgen sagte z.B. im Mai 2010 im Interview mit der FAZ: „Keines unserer 17 Kernkraftwerke hat den Stand der Technik, den es hätte, wenn es neu gebaut würde. Drei haben keinen Schutz gegen Flugzeugabstürze. Die Kraftwerke müssen etappenweise auf den Stand der Nachrüsttechnik gebracht werden“ (Norbert Röttgen, FAZ vom 20.05.2010). Auf der Internetseite des BMU heißt es noch im vergangenen Jahr: „Eine generelle Laufzeitverlängerung ist aufgrund des Risikos für die Bevölkerung nach dem Atomgesetz nicht vorgesehen. Die ältesten Atommeiler waren vielleicht mal modern, als sie in den Siebzigern ans Netz gingen. Heute wären diese Atommeiler, wollte man sie neu in Betrieb nehmen, gar nicht mehr genehmigungsfähig.“ (Die Internetseite ist inzwischen aus dem Netz genommen worden.)

Im Zuge des Deals mit der Atomlobby wurden jedoch alle Bedenken beiseite gewischt und drängende Sicherheitsprobleme ignoriert. Die Atomgesetznovellen gaben den Freibrief für einen Betrieb ohne Beseitigung auch nur einer der grundlegenden Sicherheitsschwächen der alten Anlagen.

 

  • So sah der BMU-Entwurf für die Atomgesetz-Novelle bis vor dem Spitzentreffen mit der Atomlobby im Kanzleramt am 5. September 2010 vor, nachträgliche bauliche Schutzmaßnahmen gegen Flugzeugabstürze vorzuschreiben. Anschließend wurde die ursprünglich geplante Regelung ersatzlos gestrichen.
     
  • Vor dem Beschluss zur Laufzeitverlängerung gab es keine Prüfung, inwieweit die identifizier-ten sicherheitsrelevanten Anforderungen/Maßnahmen in den einzelnen AKW schon erfüllt werden, bzw. mit welchen konkreten Maßnahmen die angestrebte sicherheitstechnische Verbesserung zu erreichen ist. Zwar erstellten Bund und Länder eine Liste mit „Anforderungen und Maßnahmen“, die „bei einem kurz- oder mittel-/langfristigen Weiterbetrieb“ der AKW umzusetzen seien. Diese Fragen sollten aber erst nach der Laufzeitverlängerung „anlagenspezifisch“  geprüft werden. Mit anderen Worten: Schwarz-Gelb hat die Laufzeitverlängerung beschlossen, ohne vorher zu klären, ob vor allem die alten Reaktoren eigentlich sicher und für 10, 12 oder 14 Jahre längere Laufzeiten geeignet sind.
     
  • Zudem sollten viele der aufgelisteten Sicherheitsanforderungen trotz Laufzeitverlängerung erst mittel- und langfristig angegangen werden. Zudem blieb vage, welche Sicherheitsanforderungen die AKW tatsächlich erfüllen müssen. Die BMU/Länder-Liste zu den Sicherheitsanforderungen wurde von Experten als „Augenwischerei“ und „Mogelpackung“ kritisiert: Viele wichtige Maßnahmen wurden ohne konkrete Fristnennung als „mittel- und langfristige“ Vorhaben eingestuft, so unter anderem der bauliche Schutz vor Terrorattacken etwa mit Flugzeugen oder schweren Waffen oder auch die „bautechnische oder räumliche Trennung redundanter Sicherheitseinrichtungen hinsichtlich übergreifender Einwirkungen (z.B. interner Brand, interne Überflutung)“. Atomexperten wie Wolfgang Renneberg (bis November 2009 Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium) kritisierten, manche Sicherheitsvorkehrungen wie die zur Beherrschung von Störfällen seien so wichtig, dass es eine „Katastrophe“ sei, sie auf die lange Bank zu schieben. Zudem seien sie wertlos, da sie vor allem für die Altmeiler aufgrund der vorgesehenen Laufzeiten gar nicht mehr greifen. Von Nachrüstungen könne deshalb keine Rede sein (vgl. Spiegel Online vom 29.09.2010).
     
  • Das neue 2008/2009 neu entwickelte kerntechnische Regelwerk für die Sicherheitsanforde-rungen in Atomkraftwerken wurde von Schwarz-Gelb im Herbst außer Kraft gesetzt.
  • Mit der 12. Novelle des Atomgesetzes (§ 7d) wurden die Sicherheitsanforderungen weiter „verwässert“:
    • „Mit der Behauptung eine ‚zusätzliche Sicherheitsstufe‘ auf die schon vorhandenen Anforderungen aufzusetzen hat der Bundesumweltminister die Einfügung eines neuen Paragraphen 7d im Atomgesetz (‚Weitere Vorsorge gegen Risiken‘) gerechtfertigt. Die Bundesregierung versucht den Eindruck zu erwecken, damit würde ein ‚Mehr‘ an Sicherheit bewirkt. Tatsächlich wird jedoch der bestehende Sicherheitsmaßstab des Atomgesetzes verwässert und werden Klagerechte betroffener Bürger abgeschafft.“ (Stellungnahme des BUND vom 20.10.2010)
       
    • „Nach Ihrem neuen Atomgesetz (§ 7 d) sollen nur noch Maßnahmen in Betracht kommen, die technisch bereits ‚entwickelt‘ sind. Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie mit dieser Begrenzung auf das, was es schon als Technik gibt, das zentrale Mittel der Atomaufsicht aus der Hand geben, die Atomkonzerne auch zu neuen technischen Entwicklungen zu zwingen? Auch da, wo technische Lösungen für Risiken noch nicht entwickelt sind, konnte die Atomaufsicht bisher die Konzerne dazu zwingen, technische Lösungen neu zu entwickeln und notfalls die Atomkraftwerke solange vom Netz zu nehmen, bis diese neuen technischen Lösungen vorhanden sind, um die Menschen keiner Gefahr auszusetzen. Genau das schaffen Sie jetzt ab.“ (Sigmar Gabriel, Rede zur 2/3 Les. Atom-Novelle, Okt. 2010)
       
  • Zu guter Letzt hat Schwarz-Gelb die Atomkonzerne beim Thema Sicherheit auch finanziell aus der Verantwortung genommen. In dem Vertrag zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgern ist festgehalten, dass die Atom-Konzerne pro AKW nur 500 Millionen Euro an Sicherheitsnachrüstkosten ausgeben müssen. Muss diese Summe überschritten werden, kann dies von den Einzahlungen in den Fonds abgezogen werden. Dabei hat Minister Röttgen die Kosten für eine Nachrüstung bei einer Laufzeitverlängerung aller 17 AKW mit 20,3 Milliarden Euro angegeben. Dabei liegen die Ausgaben pro Meiler zwischen 600 Millionen und zwei Milliarden Euro.

 

Fazit:Man reibt sich die Augen und fragt sich: Was ist denn da nun eigentlich passiert, das nicht vorhersehbar, sondern völlig außerhalb jeder Berechnung gewesen sein könnte? Gab es noch nie Probleme mit Kühlsystemen? War nicht immer klar, dass Erdbebengebiete nicht der ideale Baugrund für Kernkraftwerke sind? Nein, die Bundesregierung rudert jetzt zurück, von den nahenden Wahlterminen verschreckt und von der Realität eingeholt. Nun kann sie nicht mehr leugnen, was sie immer wieder bestritt: Nuklearanlagen sind eine Hochrisikotechnologie, die sich weder mit menschlichem Versagen noch mit Naturkatastrophen verträgt.“ (Tagesspiegel vom 15.03.2011).