Deutschland ist ein reiches Land. Seit zehn Jahren wächst die Wirtschaft, wir haben Rekordbeschäftigung und die öffentlichen Haushalte sind stabil und solide finanziert. Unsere Arbeitsvermittlung gehört zu den modernsten der Welt und der Sozialstaat ist gut ausgebaut. Diese Erfolgsgeschichte trägt die Handschrift der SPD.

Es gibt aber auch eine andere Realität: Obwohl wir jedes Jahr etwa eine Billionen Euro für soziale Sicherung ausgeben – etwa ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts – spüren viele Menschen den Sozialstaat nicht an ihrer Seite. Stattdessen erfahren viele Menschen das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung. Obwohl wir 200 Milliarden Euro jährlich für Kinder-, Familien- und Eheleistungen aufwenden, sind zwei Millionen Kinder und Jugendliche auf Grundsicherung angewiesen. Obwohl wir mehr als 350 Milliarden Euro für die Alterssicherung aufwenden, reicht eine volle Stelle auf Mindestlohnniveau derzeit nicht aus, um einen Rentenanspruch oberhalb der Sozialhilfe zu erwerben. Und obwohl wir so viel Geld für die soziale Sicherung ausgeben, empfinden viele Menschen den Sozialstaat nicht als Unterstützung, sondern als Hindernislauf.

Viele haben Schwierigkeiten, ihre Leistungsansprüche zu erkennen und geltend zu machen. Soziale Rechte werden oft nicht mehr als Fortschritt wahrgenommen, weil die Inanspruchnahme durch unverständliche Bescheide, unklare Zuständigkeiten und fehlende Ansprechpartner verstellt wird. Die Erfahrung von Hilfebedürftigen im Hartz-IV-System ist geprägt von einer anonymen Bürokratie und der permanenten Drohung mit Sanktionen. Es sind oft gar nicht die Leistungen selbst, die für Verdruss sorgen, sondern die erfahrenen Demütigungen und Stigmatisierungen.

Wenn das Vertrauen in den Sozialstaat verloren geht, ist das eine große Gefahr für die Demokratie. Es ist daher einmal mehr an der Zeit, unseren über Jahrzehnte gewachsenen Sozialstaat entlang der aktuellen Erfordernisse sozialer Sicherung neu auszurichten. Wir müssen diese Reform aus der Perspektive derer machen, die den Sozialstaat brauchen, nicht aus der Perspektive derer, die ihn missbrauchen. Dies geht nicht durch viele kleine Reformen, sondern nur im Rahmen einer großen und zusammenhängenden Sozialstaatsreform. Mit Mittelpunkt müssen die Bürgerinnen und Bürger stehen – ihre Rechte und ihre Bedürfnisse. Es ist ein Sozialstaat der Bürgerinnen und Bürger für die Bürgerinnen und Bürger.

Ein wesentlicher Teil einer großen Sozialstaatsreform ist die Reform des Hartz-IV-Systems. Folgende Gedanken sollten uns bei der Neukonzeption der Grundsicherung leiten: Wir müssen verhindern, dass überhaupt so viele Menschen wie heute auf Grundsicherung angewiesen sind. Arbeitnehmer mit geringen Einkommen müssen mehr netto in der Tasche haben um den Abstand zur Grundsicherung zu vergrößern. Dazu beitragen können Zuschüsse zu den Sozialversicherungsbeiträgen der Arbeitnehmer, Steuergutschriften für Erwerbstätige und ein weiter steigender Mindestlohn.

Aber nicht immer reicht das Erwerbseinkommen aus, um die Lebenshaltungskosten zu decken. Ein besseres Wohngeld kann verhindern, dass Menschen angesichts explodierender Mieten in die Grundsicherung getrieben werden. Eine Reform der Familienleistung muss Kinder vor Armut schützen. Dass in Deutschland zwei Millionen Kinder Hartz IV beziehen ist grundfalsch. Denn diese Erfahrung, ein „Hartz-IV-Kind“ zu sein, prägt fürs Leben. Wir brauchen daher eine eigenständige Kindergrundsicherung, die Kinder aus der Sozialhilfe holt und Teilhabe schafft.

Grundsicherung auf ihren ursprünglichen Kern zurückführen

Die Arbeitslosenversicherung muss wieder zum wichtigsten Sicherungs- und Unterstützungssystem für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden. Über einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung muss weitgehend verhindert werden, dass Arbeitnehmer überhaupt auf Grundsicherung angewiesen sind. Mit dem Arbeitslosengeld Q liegt ein schnell umsetzbarer Vorschlag der SPD dazu vor.

Wir sollten also die Rechtsansprüche und das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit im Sozialstaat stärken und die Grundsicherung so wieder auf ihren ursprünglichen Kern zurückführen: als soziales Netz, wenn es gar nicht anders geht. Dieses sollte aber man möglichst schnell wieder verlassen können.

Möglichst viele sozialpolitische Leistungen in eine große Grundsicherungsleistung zu überführen, wie es Grundeinkommensmodelle vorsehen, wäre dagegen der falsche Ansatz. Er würde den unterschiedlichen Bedürfnissen und Ansprüchen der Betroffenen nicht gerecht. Ein solcher Schritt wäre ungerecht und an allen Ecken und Enden lückenhaft. Der Anspruch, mit Sozialpolitik die Gesellschaft gerechter zu machen, ginge verloren. Ein Grundeinkommen ersetzt keine vorsorgende und gestaltende Sozialpolitik.

Im Mittelpunkt einer neuen Grundsicherung müssen diejenigen stehen, die bislang trotz der guten Arbeitsmarktlage nicht den Sprung aus Hartz IV geschafft haben.

Wir müssen die vielen Menschen in den Blick nehmen, die seit vielen Jahren keine Chance hatten oder sogar seit der Einführung von Hartz IV in dem System verharren. In einigen Teilen Deutschlands sind das mehr Menschen als in anderen. In den ostdeutschen Flächenländern zum Beispiel. Oder in Teilen Nordrhein-Westfalens. Hier ist jeder zehnte Hartz-IV-Empfänger. Gerade die älteren Hartz-IV-Bezieher wurden oftmals Opfer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umwälzungen. Viele verloren dadurch nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihren Stolz. Ihre Hilfebedürftigkeit hat nichts mit persönlichem Scheitern zu tun. Im Osten Deutschlands sind die Wunden des Einigungsprozesses bis heute nicht verheilt: Die bisweilen brutale Treuhandpolitik entkernte weite Teile des Landes von der Industrie und schaffte wahre Niedriglohn-Landstriche. Da wurde der Grundstein für die Hartz-IV-Falle gelegt.

Ihr zu entkommen, ist auch deshalb vielen Menschen nicht gelungen, weil es zu wenig Förderung gibt. Hier hat die SPD bereits einen Richtungswechsel eingeleitet: Wir sind nun in der Lage, mit dem jetzt beschlossenen „Sozialen Arbeitsmarkt“ Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Personen, die zum Beispiel seit dem Beginn von Hartz IV keine Arbeit hatten, bekommen nun die Möglichkeit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Dieser Ansatz muss auch in der neuen Grundsicherung von zentraler Bedeutung sein. Die Qualifizierungsmöglichkeiten müssen ausgebaut werden. Abstieg muss verhindert, Aufstieg ermöglicht werden.

Wer lange gearbeitet hat, darf daher auch nicht gezwungen sein, sein Ersparnisse zu verbrauchen, bevor er überhaupt Ansprüche hat. Erspartes muss großzügiger geschützt werden. Hier haben wir schon viel verbessert, aber noch nicht genug. Menschen sollten grundsätzlich keine Angst haben, ihre angestammte Wohnung oder ihr Wohneigentum verlassen zu müssen.

Wir brauchen einen tiefgreifenden Mentalitätswechsel

Die Leistungen müssen der Lebensrealität angepasst werden: Wer trotz aller Förderung lange auf Grundsicherung angewiesen ist, muss auch die Möglichkeit haben, einmalige Anschaffungen vorzunehmen. Die abgeschafften einmaligen Bedarfe zum Beispiel für einen Kühlschrank oder eine Winterjacke müssen für Personen, die länger auf Hilfe angewiesen sind, wieder eingeführt werden. Wer auf Grundsicherung angewiesen ist, lebt von der Substanz. Diese ist nach einiger Zeit aufgebraucht.

Wir brauchen einen tiefgreifenden Mentalitätswechsel in der Grundsicherung. Zum Symbol für das Misstrauen des Staates gegenüber den Grundsicherungsbeziehern sind die Sanktionen geworden. Sie wirken, als würde den Leistungsbeziehern von vornherein unterstellt, betrügen zu wollen. Das ist für alle ehrlichen Personen frustrierend und demotivierend. Viele Sanktionen treffen auch die Falschen.

Natürlich braucht eine Sozialleistung, die an letzter Stelle im System steht, immer auch Mitwirkungsregeln. Diese sollten vor allem eines bewirken: Wer sich im Rahmen seiner Möglichkeiten beteiligt, muss besser dastehen als jemand, der sich nicht beteiligt. Anstrengungen zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit sollten belohnt werden. Niemand hätte aber auch Verständnis, wenn Regelverstöße und der Missbrauch von Sozialleistungen ohne Konsequenzen blieben. Leistungssperren müssen aber immer das letzte Mittel sein. Das Existenzminimum eines Menschen darf niemals in Frage gestellt werden. 

Die neue Grundsicherung muss also ein Bürgergeld sein – ein Recht auf Teilhabe für alle Bürgerinnen und Bürger. Dieser Gedanke muss der gesamten Sozialstaatsreform zu Grunde liegen: Der Sozialstaat muss einfacher und verlässlicher werden. Ansprüche müssen klar und auskömmlich sein. Rechte müssen schnell und unbürokratisch in Anspruch genommen werden können. Eine solche Sozialpolitik schafft Perspektiven und stärkt damit den sozialen Zusammenhalt in unserem Land.